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Treu und Glauben


Begriff und Bedeutung von Treu und Glauben im Recht

Der Begriff „Treu und Glauben“ ist ein zentrales Prinzip im deutschen Rechtssystem sowie in zahlreichen anderen Rechtsordnungen. Er beschreibt eine grundlegende Rechtsfigur, die das Verhalten von Rechtssubjekten im Rahmen von Rechtsbeziehungen maßgeblich prägt. Treu und Glauben bedeutet, dass die Beteiligten eines Rechtsverhältnisses dazu verpflichtet sind, sich loyal, rücksichtsvoll und in gegenseitigem Vertrauen zu verhalten. Dieses Prinzip dient der Förderung von Fairness, Transparenz und Gerechtigkeit im Rechtsverkehr.

Treu und Glauben im Bürgerlichen Recht

Allgemeine Bedeutung im Zivilrecht

Im deutschen Zivilrecht ist Treu und Glauben ein tragendes Prinzip. Es findet seinen gesetzgeberischen Ausdruck insbesondere in § 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), der wie folgt lautet:
„Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.“
Daraus ergibt sich, dass sowohl vertragliche als auch gesetzliche Schuldverhältnisse unter Berücksichtigung redlicher und vertrauensvoller Handlungen erfüllt werden müssen.

Anwendungsbereiche und Funktionen

Treu und Glauben fungiert im BGB als Generalklausel und entfaltet grundlegende Wirkung auf verschiedene Rechtsbereiche. Es dient als Rechtsgrundlage

  • für die Verhinderung rechtsmissbräuchlicher Geltendmachung von Rechten,
  • für die Einschränkung, Ergänzung oder Modifikation von gesetzlichen und vertraglichen Rechten und Pflichten,
  • für den Schutz des Vertrauens eines Beteiligten auf die Korrektheit und Verlässlichkeit des Verhaltens des anderen Beteiligten.

Beispiele aus der Praxis sind:

  • Leistungsabwehrrechte wegen unzulässiger Rechtsausübung (§ 242 BGB, Einrede der unzulässigen Rechtsausübung),
  • Auslegen und Ergänzen von Verträgen nach Treu und Glauben,
  • Nebenpflichten aus Schuldverhältnissen (Schutz-, Rücksichtnahme- und Aufklärungspflichten).

Zusammenhang mit der Verkehrssitte

Der Begriff „Verkehrssitte“ in § 242 BGB ist eng mit Treu und Glauben verknüpft. Verkehrssitte bezeichnet die im Geschäftsverkehr üblichen Verhaltensweisen, an denen sich das Handeln der Beteiligten orientieren soll. Die Einbindung der Verkehrssitte stärkt die Orientierung an bestehenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Standards.

Treu und Glauben im öffentlichen Recht

Auch im öffentlichen Recht findet Treu und Glauben Anwendung. Hier verpflichtet es den Staat wie auch Privatpersonen, im Umgang miteinander vertrauens- und redlich zu handeln. Besonders bedeutsam ist Treu und Glauben beim Verwaltungshandeln, etwa beim Vertrauensschutz für Bürger auf einen begünstigenden Verwaltungsakt oder im Verhältnis der öffentlichen Hand zu privaten Rechtsträgern.

Treu und Glauben im Arbeitsrecht

Im Arbeitsrecht unterliegt das Arbeitsverhältnis besonderen Treue- und Rücksichtnahmepflichten. Diese ergeben sich sowohl aus § 242 BGB als auch aus den besonderen gesetzlichen und vertraglichen Regelungen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind verpflichtet, die Interessen jeweils der anderen Seite angemessen zu berücksichtigen.
Beispiele umfassen Pflichten zur Rücksichtnahme auf die betrieblichen Belange, zur Treue gegenüber dem Arbeitgeber sowie zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen.

Rechtsfolgen und praktische Auswirkungen

Rechtsmissbrauch

Ein wesentliches Anwendungsbeispiel von Treu und Glauben im Recht ist die Einrede des Rechtsmissbrauchs. Wer Rechte ausübt, obwohl dies nach den konkreten Umständen als sittenwidrig oder schikanös erscheint, kann sich nicht auf diese Rechte berufen. Die Gerichte prüfen dabei stets das Verhalten beider Seiten und entscheiden, ob eine Rechtsausübung wegen Verletzung von Treu und Glauben ausgeschlossen ist.

Vertragliche Nebenpflichten

Neben den Hauptpflichten aus einem Vertrag bestehen sogenannte Nebenpflichten, die aus § 242 BGB abgeleitet werden. Hierzu zählen Aufklärungs-, Schutz- und Sorgfaltspflichten, deren Nichtbeachtung Schadensersatzansprüche nach sich ziehen kann.

Durchsetzung und Grenzen

Die Generalklausel des § 242 BGB gibt den Gerichten einen erheblichen Beurteilungsspielraum. Um jedoch eine Ausuferung zu vermeiden, wurde die Reichweite dieser Generalklausel durch Rechtsprechung und Literatur näher konturiert. Eine bloße Unbilligkeit genügt nicht, um eine Anspruchskürzung oder -ablehnung zu begründen; vielmehr muss eine gravierende Verletzung des Grundsatzes von Treu und Glauben vorliegen.

Historische Entwicklung

Der Grundsatz von Treu und Glauben geht auf das römische Recht zurück („bona fides“) und wurde in die modernen Kodifikationen übernommen. In Deutschland bildet § 242 BGB das Fundament, während andere Rechtsordnungen vergleichbare Regelungen kennen, beispielsweise im Schweizer Obligationenrecht (Art. 2 OR).

Bedeutung in anderen Rechtsgebieten

Treu und Glauben kommt ebenfalls im Handelsrecht, Familienrecht, Mietrecht oder Gesellschaftsrecht zur Anwendung und beeinflusst etwa die Auslegung von Verträgen, das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern oder die Pflichten in einer Miet- oder Lieferbeziehung.

Fazit

Das Prinzip von Treu und Glauben ist ein universell geltendes, elementares Rechtsprinzip, das Rechtssicherheit, Vertrauen und Gerechtigkeit im Rechtsverkehr fördert. Es hat weitreichende Bedeutung für sämtliche Rechtsgebiete und schützt die Parteien vor unfairen und unredlichen Verhaltensweisen. Aufgrund seiner Generalklausel-Funktion bleibt es fortlaufend Gegenstand der Rechtsfortbildung durch Gerichte und Literatur.

Häufig gestellte Fragen

Welche Rolle spielt der Grundsatz von Treu und Glauben im Zivilrecht?

Im Zivilrecht stellt der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) ein zentrales Prinzip dar, das eine gerechte und angemessene Anwendung des Rechts gewährleisten soll. Er verpflichtet die Parteien eines Schuldverhältnisses dazu, sich redlich und loyal zu verhalten und die berechtigten Interessen des Vertragspartners zu berücksichtigen. Die Anwendung reicht von der Auslegung und Ergänzung von Verträgen über die Einschränkung von Rechtsausübungen bis hin zum Schutz vor missbräuchlichem Verhalten. Gerichte stützen sich häufig auf diesen Grundsatz, z. B. wenn sie entscheiden, ob eine Vertragspartei ihre Rechte in einer Weise ausübt, die mit den Erwartungen des Vertragspartners oder den Umständen unvereinbar ist. Damit bildet Treu und Glauben eine Korrektivfunktion im Recht und ermöglicht flexible, dem Einzelfall angemessene Lösungen.

In welchen Situationen kann der Grundsatz von Treu und Glauben eine Rolle bei der Vertragsauslegung spielen?

Bei der Auslegung von Verträgen dient der Grundsatz von Treu und Glauben als Leitmotiv, um den tatsächlichen Parteiwillen zu ermitteln und eine interessengerechte Lösung zu erarbeiten. Er wird herangezogen, wenn Vertragsbestimmungen mehrdeutig, lückenhaft oder unklar formuliert sind. Das Gericht legt dann die Erklärungen und das Verhalten der Parteien nach § 242 BGB so aus, wie sie redliche Vertragspartner in der jeweiligen Situation verstanden hätten. Ferner kann der Grundsatz dazu führen, dass sich eine Partei nicht auf formalistische oder wortlautgetreue Auslegungen berufen darf, wenn dies zu unbilligen Ergebnissen führen würde. Ebenso werden durch Treu und Glauben ergänzende Vertragspflichten („Nebenpflichten“) mitberücksichtigt – beispielsweise Rücksichtnahme-, Schutz- oder Aufklärungspflichten, die nicht ausdrücklich vereinbart wurden, sich aber aus dem Vertragsverhältnis ergeben.

Wie wirkt sich der Grundsatz von Treu und Glauben auf die Ausübung von Rechten aus?

Der Grundsatz von Treu und Glauben begrenzt die Möglichkeit, Rechte rücksichtslos oder missbräuchlich auszuüben. In der Praxis wird dies insbesondere durch die Rechtsfiguren des „venire contra factum proprium“ (widersprüchliches Verhalten), des „dolo agit“ (unredliche Ausübung eines Rechts) und des „Verwirkung“ umgesetzt. Eine Partei kann beispielsweise daran gehindert werden, ein Recht geltend zu machen, wenn ihr vorheriges Verhalten beim Vertragspartner berechtigtes Vertrauen darauf geweckt hat, dass das Recht nicht ausgeübt wird. Auch darf niemand Vorteile aus eigenem Fehlverhalten ziehen oder Ansprüche erheben, die ihrem bisherigen Verhalten vollständig widersprechen. Auf diese Weise verhindert das Prinzip von Treu und Glauben Rechtsmissbrauch und sorgt für eine faire Interessensabwägung im Einzelfall.

Welche Bedeutung hat der Grundsatz von Treu und Glauben im Rahmen der Verjährung?

Treu und Glauben kann im Zusammenhang mit der Verjährung nationale und europarechtliche Relevanz entfalten. Nach Eintritt der Verjährung kann sich der Schuldner grundsätzlich auf die Verjährung berufen und die Leistungsverweigerung erklären. Allerdings kann das Berufungsrecht auf die Verjährung nach § 242 BGB ausnahmsweise ausgeschlossen sein, wenn es treuwidrig erscheinen würde. Das ist etwa dann der Fall, wenn der Gläubiger durch gezielte Täuschung oder ein sonstiges Verhalten des Schuldners an einer rechtzeitigen Geltendmachung des Anspruchs gehindert wurde. Solche Fallgestaltungen sind zum Beispiel unter dem Stichwort „unzulässige Rechtsausübung“ einzuordnen.

Welche Auswirkungen kann der Grundsatz von Treu und Glauben im Arbeitsrecht haben?

Im Arbeitsrecht ist der Grundsatz von Treu und Glauben ein tragendes Prinzip. Er verpflichtet sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer, sich ehrlich, loyal und rücksichtsvoll zu verhalten. Hieraus ergeben sich zahlreiche Nebenpflichten, wie z.B. Schutzpflichten des Arbeitgebers gegenüber Leben und Gesundheit der Arbeitnehmer, die Pflicht zur Rücksichtnahme auf die wirtschaftlichen und persönlichen Interessen, und Verschwiegenheitspflichten. Ebenso ist das Verbot widersprüchlichen Verhaltens maßgeblich, z.B. bei der Rücknahme von Erklärungen oder der Geltendmachung bereits erloschener Ansprüche. Auch Mobbing, Diskriminierung oder ungerechtfertigte Weisungen können unter Bezugnahme auf § 242 BGB beanstandet werden.

Gibt es Ausnahmen oder Grenzen bei der Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben?

Der Grundsatz von Treu und Glauben findet zwar breite Anwendung, ist jedoch nicht uneingeschränkt und allumfassend. Seine Reichweite wird durch zwingendes Recht, klare gesetzliche Wertungen und die berechtigten Interessen beider Vertragsparteien begrenzt. Insbesondere kann § 242 BGB nicht dazu dienen, das Gesetz beliebig zu korrigieren oder gesetzliche Regelungen außer Kraft zu setzen. Vielmehr wirkt der Grundsatz als Ergänzung und als wertendes Korrektiv, wenn eine planwidrige Regelungslücke oder eine unbillige Härte vorliegt. Auch darf durch seine Anwendung keine unverhältnismäßige Benachteiligung einer Partei entstehen.

Inwiefern beeinflusst der Grundsatz von Treu und Glauben das Verhalten vor Gericht?

Auch im Gerichtsverfahren spielt der Grundsatz von Treu und Glauben eine entscheidende Rolle. Prozesshandlungen und die Ausübung prozessualer Rechte dürfen nicht missbräuchlich oder widersprüchlich erfolgen. Ein Beispiel ist das prozessuale „venire contra factum proprium“, wonach eine Partei sich nicht auf eine Prozesshandlung berufen kann, wenn sie hierzu durch ihr eigenes vorheriges Verhalten Anlass oder Vertrauen geschaffen hat, dass sie dies nicht tun werde. Zudem kann etwa das prozessuale Verzögern oder Verheimlichen von Tatsachen unzulässig sein, wenn dies für die andere Partei unzumutbar ist. So wird das gesamte gerichtliche Verfahren ebenfalls an den Grundsätzen von Fairness und Loyalität ausgerichtet.