Begriff und Bedeutung der Kann-Vorschrift
Die Kann-Vorschrift ist ein Begriff aus dem deutschen Recht, der sich auf Gesetzesbestimmungen bezieht, die eine Ermächtigung oder Befugnis erteilen, nicht aber eine Muss- oder Soll-Verpflichtung begründen. Im Gegensatz zu Muss- und Soll-Vorschriften ist eine Handlung nach einer Kann-Vorschrift in das Ermessen des Adressaten gestellt. Sie statuiert damit eine Entscheidungsfreiheit im Rahmen des rechtlich Zulässigen. Kann-Vorschriften entfalten insbesondere im Verwaltungsrecht, Zivilrecht sowie im Sozialrecht eine bedeutende Funktion.
Systematik der Rechtsvorschriften: Muss-, Soll- und Kann-Vorschrift
Muss-Vorschriften
Muss-Vorschriften (zwingende Vorschriften) verlangen stets eine bestimmte Rechtsfolge. Ein Abweichen ist grundsätzlich unzulässig.
Soll-Vorschriften
Soll-Vorschriften lassen in Ausnahmefällen ein Abweichen zu, wenn besondere atypische Umstände vorliegen.
Kann-Vorschriften
Kann-Vorschriften ermöglichen ein Ermessen zwischen verschiedenen rechtlich zulässigen Handlungsalternativen. Es besteht keine Verpflichtung zur Ausübung der Befugnis, der Entscheidungsträger darf, muss jedoch nicht tätig werden.
Aufbau und Formulierung der Kann-Vorschrift
Im Gesetzestext sind Kann-Vorschriften meist an Wendungen wie „können“, „ist berechtigt“, „ist befugt“ o. ä. erkennbar. Beispielhaft findet sich die Formulierung vielerorts, etwa in § 34 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG): „Ein nicht nach der Vorschrift dieses Gesetzes angefochtener Verwaltungsakt kann… aufgehoben werden.“
Rechtsfolgen und Bedeutung in der Praxis
Ermessenseinräumung
Der Kerngedanke einer Kann-Vorschrift ist die Einräumung eines Ermessens. Der Gesetzgeber überlässt dem Normadressaten, ob und in welchem Umfang eine bestimmte Rechtsfolge eintritt. Dabei unterscheidet man zwischen Entschließungsermessen (ob gehandelt wird) und Auswahlermessen (wie gehandelt wird).
Grenzen des Ermessens
Auch das durch eine Kann-Vorschrift erteilte Ermessen ist rechtlich überprüfbar. Es darf insbesondere nicht willkürlich, sondern muss sachgerecht (Ermessensgerechtigkeit) und unter Beachtung des Gesetzeszwecks ausgeübt werden. Eine fehlerhafte Ermessensausübung kann zur Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts oder einer Entscheidung führen.
Bindungswirkung
Kann-Vorschriften begründen regelmäßig keine subjektiven Ansprüche des Betroffenen auf eine bestimmte Entscheidung. Gleichwohl kann im Einzelfall, insbesondere bei Ermessensreduzierung auf Null, eine Verpflichtung zur Gewährung der Begünstigung entstehen, sofern ausnahmsweise keine andere Entscheidung sachgerecht ist.
Einsatzbereiche der Kann-Vorschrift im deutschen Recht
Verwaltungsrecht
Im Verwaltungsrecht finden sich zahlreiche Kann-Vorschriften. Sie ermöglichen insbesondere Behörden Handlungsspielräume, um Einzelfallgerechtigkeit zu fördern. Beispiele sind § 80 Abs. 4 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zur Aussetzung der Vollziehung oder § 36 VwVfG zur Erteilung von Nebenbestimmungen bei Verwaltungsakten.
Zivilrecht
Auch im Zivilrecht sind Kann-Vorschriften verbreitet. Nach § 242 BGB („nach Treu und Glauben“) bestehen beispielsweise Ermessensspielräume bei der Rechtsanwendung. Insbesondere bei richterlichen Entscheidungen (z. B. § 315 BGB – Leistungsbestimmung durch eine Partei nach billigem Ermessen) finden sich Kann-Vorschriften.
Sozialrecht
Das Sozialrecht enthält zahlreiche Kann-Vorschriften, etwa im Zusammenhang mit der Bewilligung von Mehrbedarfen (§ 21 SGB II) oder Befreiungen von bestimmten Verpflichtungen.
Abgrenzung zu anderen Ermessensformen
Verpflichtungsermessen („soll“)
Bei Soll-Vorschriften besteht eine Grundpflicht zu handeln, Ausnahmen sind nur in atypischen Sonderkonstellationen denkbar.
uneingeschränktes Ermessen („kann“)
Bei reinen Kann-Vorschriften verfügt die Verwaltung über das volle Ermessen, im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben.
Rechtsschutz bei Kann-Vorschriften
Gegen Entscheidungen, die auf einer Kann-Vorschrift beruhen, besteht grundsätzlich Rechtsschutz. Die gerichtliche Kontrolle beschränkt sich dabei im Wesentlichen auf eine Ermessenskontrolle (§ 114 VwGO), d.h. es wird geprüft, ob das Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt wurde.
Literaturverweise und weiterführende Gesetzesnormen
Wichtige Regelungen rund um die Kann-Vorschrift finden sich unter anderem in:
- § 40 VwVfG (Ermessen)
- § 36 VwVfG (Nebenbestimmungen)
- § 80 Abs. 4 VwGO (Aussetzung der Vollziehung)
Fazit
Die Kann-Vorschrift spielt im deutschen Recht eine bedeutende Rolle für die flexible und sachgerechte Rechtsanwendung. Sie sorgt für einen Ausgleich zwischen Gesetzesbindung und Einzelfallgerechtigkeit. Die Ermächtigung zur Entscheidungseröffnung findet in vielen Rechtsgebieten Anwendung und unterliegt dabei stets den Grundprinzipien des Rechtsstaates, insbesondere der sachgerechten Ermessensausübung und gerichtlichen Kontrolle.
Häufig gestellte Fragen
Wer entscheidet im rechtlichen Kontext, ob von einer Kann-Vorschrift Gebrauch gemacht wird?
Im rechtlichen Kontext trifft grundsätzlich die zur Entscheidung berufene Stelle die Ausübung des Ermessens, das durch eine Kann-Vorschrift eingeräumt wird. Dies kann je nach Rechtsgebiet eine Behörde, ein Gericht oder auch eine bestimmte Person mit Entscheidungsbefugnis sein. Die Entscheidungsfindung erfolgt dabei nicht beliebig, sondern ist an die allgemein anerkannten Grundsätze der Ermessensausübung gebunden. Die Entscheidung muss sachlich begründet sein und die rechtlichen Rahmenbedingungen, die durch Gesetz, Verordnung oder Satzung vorgegeben sind, beachten. Dabei sind alle relevanten Umstände des Einzelfalls zu würdigen, Gleichheitsgrundsatz und Verhältnismäßigkeit zu beachten und eine willkürliche Anwendung der Kann-Vorschrift zu vermeiden.
Ist die Ausübung einer Kann-Vorschrift gerichtlich überprüfbar?
Die Ausübung einer Kann-Vorschrift unterliegt – im Gegensatz zu zwingenden Muss-Vorschriften – einer gerichtlichen Kontrolle auf Ermessensfehler. Gerichte überprüfen nicht, ob die getroffene Entscheidung materiell „richtig“ ist, sondern ob das Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt wurde. Dabei werden insbesondere Ermessensnichtgebrauch (wenn das Ermessen gar nicht oder fehlerhaft ausgeübt wurde), Ermessensüberschreitung (wenn die Entscheidung den rechtlichen Rahmen überschreitet) und Ermessensmissbrauch (insbesondere bei Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz oder sachwidriger Auswahl) geprüft. Die konkrete Ausübung des Ermessens bleibt jedoch grundlegend der entscheidenden Stelle vorbehalten.
Können Kann-Vorschriften durch Verwaltungsvorschriften oder Ermessensrichtlinien eingeschränkt werden?
Kann-Vorschriften gewähren grundsätzlich einen Ermessensspielraum, der jedoch durch interne Verwaltungsvorschriften oder Ermessensrichtlinien einer Behörde konkretisiert werden kann. Solche Richtlinien sind oft notwendig, um eine einheitliche Verwaltungspraxis zu gewährleisten. Allerdings dürfen sie das gesetzlich eingeräumte Ermessen nicht auf Null reduzieren oder so einschränken, dass die gesetzliche Intention verfehlt wird. In besonderen Einzelfällen sind Abweichungen von internen Richtlinien zulässig, wenn die Umstände des Einzelfalls dies gebieten. Gerichte überprüfen auch, ob die Verwaltung eine selbstauferlegte Bindung durch Richtlinien im Einzelfall sachgerecht durchbrochen hat.
Welche Bedeutung kommt Kann-Vorschriften im Verwaltungsverfahren zu?
Im Zusammenhang mit Verwaltungsverfahren dienen Kann-Vorschriften häufig dazu, der Verwaltungsspielraum zu schaffen, auf besondere Konstellationen flexibel zu reagieren. So kann die Verwaltung z. B. besondere soziale Härten berücksichtigen oder im Interesse der Allgemeinheit abweichend von der Regelbedingungen entscheiden. Die Einräumung von Ermessen durch Kann-Vorschriften dient der Einzelfallgerechtigkeit und vermeidet starre Rechtsanwendung, die den Besonderheiten des Einzelfalles nicht gerecht würde. Ob und wie das Ermessen ausgeübt wird, wird im Rahmen der Begründungspflicht im Verwaltungsverfahren dokumentiert.
Gibt es rechtliche Grenzen für die Ausübung einer Kann-Vorschrift?
Ja, die Ausübung einer Kann-Vorschrift ist sowohl an gesetzliche Vorgaben als auch an allgemeine Grundsätze des Verwaltungsrechts gebunden. Wesentliche Grenzen bildet das Willkürverbot, das Diskriminierungsverbot, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie das Gebot des gleichen Behandlung gleichartiger Fälle (Gleichbehandlungsgrundsatz). Außerdem muss das zugrunde liegende Gesetz den Rahmen des Ermessens bestimmen; weder darf das Ermessen auf Null reduziert, noch über den gesetzlichen Rahmen hinaus ausgedehnt werden. Die Ermessensausübung darf nicht zu sachfremden Ergebnissen führen und muss im Konfliktfall einer gerichtlichen Überprüfung standhalten.
Können aus einer Nichtausübung einer Kann-Vorschrift Ansprüche abgeleitet werden?
Grundsätzlich besteht aus einer Kann-Vorschrift kein individueller Rechtsanspruch auf die begehrte Leistung oder Entscheidung, da es sich um eine Ermessensvorschrift handelt. In Ausnahmefällen jedoch kann aus dem sogenannten „Ermessensreduzierung auf Null“-Prinzip ein Anspruch abgeleitet werden: Dies ist dann der Fall, wenn der Sachverhalt so eindeutig ist, dass jede andere Entscheidung ermessensfehlerhaft wäre, oder aus verfassungsrechtlichen Gründen (z. B. Gleichbehandlungsgebot) nur eine Entscheidung als rechtmäßig angesehen werden kann. Dann entsteht aus der Kann-Vorschrift faktisch eine Muss-Vorschrift für den konkreten Fall.