Legal Lexikon

Gemeinsames Recht


Begriff und Bedeutung des Gemeinsamen Rechts

Das Gemeinsame Recht bezeichnet eine Rechtsordnung oder eine Gesamtheit von rechtlichen Normen, die für mehrere Rechtssubjekte, Gebietskörperschaften oder Staaten gemeinsam gelten und angewendet werden. Der Begriff findet insbesondere in föderalen Systemen, internationalen Organisationen und im europäischen Einigungsprozess Anwendung. Gemeinsames Recht bildet die rechtliche Grundlage für eine abgestimmte, kooperative und einheitliche Rechtsanwendung und Rechtsprechung in bestimmten Teilbereichen, wobei die Reichweite und die Art der betroffenen Normen nach Sachgebiet und dem jeweiligen Regelungsrahmen variieren können.

Historische Entwicklung des Gemeinsamen Rechts

Entstehung im Bundesstaat

In föderalen Systemen, wie etwa der Bundesrepublik Deutschland, entwickelte sich das Gemeinsame Recht aus der Notwendigkeit heraus, für zentral geregelte Materien einheitliche Normen zu schaffen, um ein hohes Maß an Rechtssicherheit und -klarheit zu gewährleisten und divergierende Einzelregelungen der Gliedstaaten zu vermeiden. So entstand das Bundesrecht als gemeinsames Recht für Bund und Länder.

Paneuropäische und internationale Entwicklung

Auch auf europäischer und internationaler Ebene bildet Gemeinsames Recht inzwischen eine wichtige Grundlage für die Zusammenarbeit verschiedener Staaten. Prominente Beispiele bilden das Recht der Europäischen Union, Verträge wie das UN-Kaufrecht (CISG) oder europäische Übereinkommen.

Anwendungsbereiche und Rechtsquellen

Föderale und zwischenstaatliche Ordnungssysteme

Gemeinsames Recht kann innerhalb eines Staates, beispielsweise zwischen Bund und Ländern, oder zwischen mehreren Staaten auf Grundlage völkerrechtlicher Verträge oder supranationaler Regelungen entstehen. Zu den wichtigsten Rechtsquellen gehören:

  • Verfassungen und Grundgesetze, z. B. das Grundgesetz in Deutschland
  • Gesetzgebungsakte einer Staatenvereinigung, wie EU-Verordnungen und -Richtlinien
  • Völkerrechtliche Verträge wie das Wiener Übereinkommen über das CISG
  • Satzungen und Regelwerke internationaler Organisationen

Unionsrecht im europäischen Kontext

Das Unionsrecht, bestehend aus den Verträgen, Verordnungen und Richtlinien der Europäischen Union, ist ein bedeutendes Beispiel für Gemeinsames Recht. Die Anwendbarkeit und Umsetzung erfolgt sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene und fordert eine Vereinheitlichung rechtsstaatlicher Regelungen im gesamten Binnenmarkt.

Kollisionsrecht und gemeinsames Internationales Privatrecht

Ein weiteres Beispiel für Gemeinsames Recht ist das Internationale Privatrecht (IPR), das in Form internationaler Abkommen die Zuständigkeit und das anwendbare Recht bei grenzüberschreitenden Sachverhalten festlegt. Auch hier stellen multilaterale Vereinbarungen das Gemeinsame Recht der Vertragsstaaten dar.

Charakteristische Merkmale des Gemeinsamen Rechts

Abgrenzung zur Eigenständigkeit der Mitgliedseinheiten

Gemeinsames Recht grenzt sich von den eigenen, dezidierten Regelungen der beteiligten Einheiten ab. Es ist für alle Beteiligten verbindlich, hat Vorrang im Anwendungsbereich, der sich häufig nach dem Grundsatz „Bundesrecht bricht Landesrecht” (Art. 31 GG) gestaltet oder auf entsprechenden internationalen Vereinbarungen beruht.

Durchsetzung und Rechtsschutz

Das Gemeinsame Recht kann eigene Durchsetzungsmechanismen besitzen. Im europäischen Kontext steht beispielsweise der Europäische Gerichtshof für die einheitliche Auslegung und Anwendung zur Verfügung. Im föderalen System übernehmen Bundesgerichte entsprechende Aufgaben. Die Rechtsdurchsetzung erfolgt nach dem Prinzip der Primär- und Sekundärgesetzgebung sowie durch unmittelbare Anwendbarkeit im Einzelfall (direkte Wirkung).

Gemeinsames Recht im deutschen Rechtssystem

Bundesrecht und Landesrecht

Im deutschen Recht steht Gemeinsames Recht insbesondere für die bundesgesetzlichen Regelungen, die für alle Länder verbindlich sind. Typische Beispiele sind das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), das Strafgesetzbuch (StGB), das Handelsgesetzbuch (HGB) sowie das Grundgesetz als Verfassung.

Rechtsprechung und Anwendung

Die Auslegung und Anwendung des Gemeinsamen Rechts erfolgt durch die Gerichte, wobei im Bereich des Bundesrechts insbesondere die Bundesgerichte letztverbindliche Entscheidungen treffen können. Im Rahmen der föderalen Ordnung kommt es zu einer kontinuierlichen Wechselwirkung zwischen Bundes- und Landesrecht, wobei das Gemeinsame Recht stets vorrangig angewendet wird.

Gemeinsames Recht in der Europäischen Union

Grundlagen und Prinzipien

Das Recht der Europäischen Union stellt ein umfassendes Beispiel für Gemeinsames Recht dar, da es unmittelbar in den Mitgliedstaaten gilt oder durch nationale Rechtsakte umgesetzt werden muss. Besondere Bedeutung hat der Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Recht, gewährleistet durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.

Anwendungsfelder und Harmonisierung

Zu den zentralen Anwendungsgebieten zählen unter anderem das Wettbewerbsrecht, der Verbraucherschutz oder das Datenschutzrecht. Die Harmonisierung dieser Rechtsmaterien fördert die einheitliche Rechtsdurchsetzung und den freien Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital auf dem Binnenmarkt.

Gemeinsames Recht im internationalen Kontext

Multilaterale völkerrechtliche Verträge

Internationale Abkommen wie das Übereinkommen über den internationalen Warenkauf (CISG), das Montrealer Übereinkommen im Luftverkehr oder die Haager Übereinkommen stellen Gemeinsames Recht für die Vertragsparteien dar. Diese Regelungen gewährleisten einheitliche Standards und erhöhen so die Rechtssicherheit in grenzüberschreitenden Sachverhalten.

Schiedsgerichtsbarkeit und Gerichte

Gemeinsames Recht kommt auch im Rahmen von Schiedsverfahren und internationalen Streitbeilegungsmechanismen zur Anwendung, wobei spezielle internationale Gerichte für die Auslegung und Anwendung zuständig sein können.

Bedeutung und praktische Relevanz

Das Gemeinsame Recht leistet einen zentralen Beitrag zur Rechtsvereinheitlichung und -harmonisierung, fördert die Integration, Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit innerhalb von Staatenverbünden und auf internationaler Ebene. Es ermöglicht wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Austausch unter einheitlichen Rahmenbedingungen und bildet eine wichtige Grundlage für die Zusammenarbeit souveräner Einheiten.

Literatur und weiterführende Quellen

  • Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
  • Vertrag über die Europäische Union (EUV) und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)
  • Wiener Übereinkommen über Verträge über den internationalen Warenkauf (CISG)
  • Europäischer Gerichtshof: Rechtsprechung und Veröffentlichungen
  • Bundesverfassungsgericht: Entscheidungen zu Normenkonflikten und Anwendungsfragen des Gemeinsamen Rechts

Der Begriff „Gemeinsames Recht” ist somit vielschichtig und findet auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene zahlreiche praktische Umsetzungen und Anwendungsbereiche. Die grundlegende Intention liegt stets in der einheitlichen Ausgestaltung und Anwendung von Normen über die Grenzen einzelner Rechtsräume hinaus.

Häufig gestellte Fragen

Wer ist zur Anwendung des Gemeinsamen Rechts in einem Mitgliedsstaat verpflichtet?

Zur Anwendung des Gemeinsamen Rechts in einem Mitgliedstaat sind vorrangig die nationalen Gerichte, Behörden und Organe der öffentlichen Verwaltung verpflichtet. Diese Verpflichtung ergibt sich sowohl aus völkerrechtlichen Vereinbarungen als auch aus innerstaatlichen Durchführungsakten, je nachdem, ob das Gemeinsame Recht durch ein supranationales System (wie z. B. das Unionsrecht der Europäischen Union) oder andere internationale Rechtsrahmen statuiert wird. Die Gerichte müssen im Zweifel das Gemeinsame Recht gegenüber nationalen Bestimmungen anwenden bzw. diese unangewendet lassen, falls es zu einem Konflikt kommt und das Gemeinsame Recht Anwendungsvorrang beansprucht. Die praktische Umsetzung erfolgt einerseits durch unmittelbare Anwendung, andererseits durch Auslegung nationaler Gesetze im Lichte des Gemeinsamen Rechts. Verstöße gegen die Pflicht zur Anwendung können zu internationalen Streitbeilegungsverfahren oder – im Falle der EU – zu Vertragsverletzungsverfahren durch die Kommission führen.

Welche Rechtsquellen zählen unter rechtsvergleichenden Gesichtspunkten zum Gemeinsamen Recht?

Rechtsvergleichend gesehen umfasst das Gemeinsame Recht alle Rechtsnormen, die aufgrund von völkerrechtlichen Verträgen, internationalen Übereinkommen, supranationalen Regelwerken oder bilateralen/multilateralen Vereinbarungen in mehreren Staaten gleichermaßen oder ähnlich Anwendung finden. Zu den zentralen Rechtsquellen gehören hier insbesondere supranationale Verträge (z. B. EU-Verträge), Regelungen internationaler Organisationen (z. B. Regelwerke der WTO oder der Vereinten Nationen), völkerrechtliche Übereinkommen (etwa die Europäische Menschenrechtskonvention), Verordnungen und Richtlinien mit unmittelbarer oder mittelbarer Geltung sowie autonome Rechtsakte internationaler Einrichtungen. In manchen Rechtsordnungen kann auch das Richterrecht einen Beitrag zum Gemeinsamen Recht leisten, insofern überstaatliche Gerichte Präzedenzfälle schaffen, die für Mitgliedstaaten verbindlich sind.

Wie verhält sich das Gemeinsame Recht zum nationalen Recht bei Normwidersprüchen?

Kommt es zu einem Wiederspruch zwischen nationalem Recht und Gemeinsamen Recht, so regelt zumeist der Anwendungsvorrang das Verhältnis beider Rechtsordnungen. Das bedeutet, dass das Gemeinsame Recht im Kollisionsfall gegenüber entgegenstehenden nationalen Regelungen den Vorrang hat. Dies gilt insbesondere im Bereich des Europäischen Unionsrechts, wo sowohl der Grundsatz des Anwendungsvorrangs (beispielsweise CJEU, Rs. 6/64 Costa/ENEL) als auch der Grundsatz der unmittelbaren Wirkung etabliert sind. Die nationalen Gerichte sind damit verpflichtet, das nationale Recht soweit wie nötig unangewendet zu lassen, um die Wirksamkeit des Gemeinsamen Rechts sicherzustellen. Eine vollständige Aufhebung der nationalen Norm erfolgt in der Regel nicht, sondern lediglich deren Nichtanwendung im Kollisionsfall. Ausnahmen oder Abweichungen hiervon regelt ggf. das jeweilige völker- oder unionsrechtliche System, insbesondere bei sogenannten Vorbehalten oder opt-outs.

Welche Durchsetzungsmechanismen bestehen für das Gemeinsame Recht in den Mitgliedsstaaten?

Zur Sicherung der Wirksamkeit des Gemeinsamen Rechts in den Mitgliedsstaaten existieren unterschiedliche Durchsetzungsmechanismen. Einerseits sind nationale Gerichte und Behörden gehalten, das Gemeinsame Recht von Amts wegen – also ohne gesonderten Antrag – anzuwenden. Zusätzlich bieten supranationale Systeme häufig eigene Rechtsschutzinstrumente, etwa Individual- oder Verbandsklagerechte vor internationalen oder supranationalen Gerichten (wie dem Gerichtshof der EU oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte). Daneben können völkerrechtliche Streitbeilegungsmechanismen greifen, etwa zwischenstaatliche Schiedsgerichte oder Klageverfahren zwischen Mitgliedsstaaten. Im EU-Kontext spielt zudem das Vertragsverletzungsverfahren, das von der Europäischen Kommission eingeleitet werden kann, eine zentrale Rolle. In nationalen Rechtsordnungen werden die im Gemeinsamen Recht vorgesehenen Sanktionen beziehungsweise Rechtsfolgen regelmäßig durch autonome Ausführungsgesetze umgesetzt.

Welche Rolle spielt die Auslegung bei der Anwendung des Gemeinsamen Rechts?

Die Auslegung des Gemeinsamen Rechts kommt besondere Bedeutung zu, da dieses oft auf multilateralen oder supranationalen Vereinbarungen basiert, die sprachlich wie systematisch Auslegungsspielraum bieten. Mit der Auslegung wird sichergestellt, dass Rechtsinstitute, Normzwecke und Definitionsmerkmale in einem Sinne verstanden und angewandt werden, der der Einheitlichkeit und Wirksamkeit des Regelungsregimes entspricht. Hierbei unterscheidet sich der methodische Ansatz je nach Rechtskreis: Während im Europäischen Unionsrecht der sogenannte “effet utile” (praktische Wirksamkeit) betont wird, richten sich völkerrechtliche Verträge nach den Interpretationsregeln der Wiener Vertragsrechtskonvention. Nationale Gerichte können bei Auslegungszweifeln von bestehenden Vorabentscheidungsverfahren (z. B. Art. 267 AEUV) Gebrauch machen und damit eine einheitliche Anwendung sicherstellen. Leitentscheidungen supranationaler Gerichte entfalten insoweit faktische, mitunter verbindliche Präzedenzwirkung für die Auslegung.

Können Privatpersonen sich direkt auf das Gemeinsame Recht berufen?

Ob Privatpersonen sich unmittelbar auf das Gemeinsame Recht berufen können, hängt maßgeblich von der jeweiligen Ausgestaltung dieses Rechts ab. Im EU-Recht wird diese Möglichkeit unter dem Stichwort der „unmittelbaren Wirkung” diskutiert: Hiernach können bestimmte Bestimmungen, die inhaltlich hinreichend genau, unbedingt und klar sind, von Einzelnen vor nationalen Gerichten geltend gemacht werden, ohne dass es einer vorherigen Umsetzung in nationales Recht bedarf. Im klassischen Völkerrecht hingegen fehlt es häufig an der unmittelbaren Anwendbarkeit zugunsten Privater, da internationale Verpflichtungen in der Regel an Staaten adressiert sind („Staatenverträge”), allerdings gibt es Ausnahmen (z. B. Menschenrechtsgarantien). Auch im Rahmen internationaler Konventionen ist generell zwischen „self-executing” und „non-self-executing”-Normen zu unterscheiden. In supranationalen oder integrativen Rechtsordnungen wächst damit die Bedeutung individueller Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten im Rahmen des Gemeinsamen Rechts.