Begriff und rechtliche Einordnung der Europäischen Verfassung
Die Europäische Verfassung – auch bekannt als Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE oder EU-Verfassungsvertrag) – bezeichnet den Versuch innerhalb der Europäischen Union (EU), die rechtlichen und institutionellen Grundlagen der Gemeinschaft in einem einheitlichen Verfassungsdokument zusammenzufassen. Ziel war die Kodifizierung und Modernisierung der bestehenden Verträge sowie die Stärkung der Kohärenz, Handlungsfähigkeit und demokratischen Legitimation der europäischen Integration.
Der Begriff ist von der tatsächlichen Verfassung im Sinne des Verfassungsrechts zu unterscheiden, da die Mitgliedstaaten weiterhin Inhaber der Souveränität bleiben und die EU keine eigenständige, staatsähnliche Verfassungsgewalt erlangt. Der Verfassungsvertrag stellt dementsprechend ein völkerrechtliches Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten dar.
Historische Entwicklung
Vorläufer und Motivation des Verfassungsprojekts
Die Diskussionen über eine europäische Verfassung reichen bis in die Anfänge der europäischen Einigung zurück. Bereits 1952 wurde der Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft als verfassungsähnliches Dokument entworfen, jedoch nicht ratifiziert. Die wachsende Bedeutung der Europäischen Gemeinschaften und die Erweiterung der Kompetenzen schufen einen Bedarf nach einer klareren und einheitlicheren Verfassungsordnung.
Mit dem Vertrag von Maastricht (1992), dem Vertrag von Amsterdam (1997) und dem Vertrag von Nizza (2001) wurde die EU weiterentwickelt, blieben jedoch Strukturen und Entscheidungsprozesse vielfach als komplex, unübersichtlich und wenig bürgernah kritisiert. Der Europäische Konvent (2002-2003) bereitete schließlich einen Entwurf für eine Europäische Verfassung vor.
Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE)
Der Vertrag über eine Verfassung für Europa wurde am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnet. Im Fokus des Vertrages standen insbesondere:
- Die Zusammenführung aller bestehenden EU-Verträge in einem Dokument
- Die Klarstellung der Rechtsgrundlagen der EU
- Die Einführung einer Rechtspersönlichkeit der Union
- Eine stärkere Gewichtung demokratischer und bürgernaher Elemente (z. B. durch die Einführung der Europäischen Bürgerinitiative)
- Effizienzsteigerung der Entscheidungsprozesse durch Abschaffung der bisherigen Säulenstruktur
Scheitern und Nachwirkung
Die Ratifizierung des Vertrags scheiterte 2005 an ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden. Das Verfassungsvorhaben wurde daraufhin in dieser Form nicht weiterverfolgt. Viele Inhalte des Vertrags fanden jedoch Eingang in den Vertrag von Lissabon (2007), welcher am 1. Dezember 2009 in Kraft trat und als „Reformvertrag” der EU eine konstitutionelle Teilfunktion übernimmt.
Inhaltliche Struktur des Verfassungsvertrages
Aufbau
Der Text der Europäischen Verfassung gliederte sich in vier Teile:
- Grundsätze und Werte (Institutionelle Grundordnung, Kompetenzen, Grundrechte)
- Charta der Grundrechte der Europäischen Union
- Politiken und Funktionsweise der Union
- Schluss-, Übergangs- und Änderungsbestimmungen
Rechtliche Grundlagen und Neuerungen
Der Verfassungsvertrag ersetzte nicht nationale Verfassungen, sondern legte eine übergeordnete Rechtsordnung auf Ebene der Mitgliedstaaten fest. Wesentliche rechtliche Neuerungen waren:
- Rechtspersönlichkeit der EU: Erstmals wurde die EU ausdrücklich als mit der Rechtspersönlichkeit ausgestattete internationale Organisation benannt und konnte eigene Verträge mit Drittstaaten abschließen.
- Kompetenzabgrenzung: Die Zuständigkeiten zwischen Union und Mitgliedstaaten wurden explizit festgelegt (ausschließliche, geteilte und unterstützende Kompetenzen).
- Rechtsgrundsätze: Klare Festlegung von Prinzipien wie Subsidiarität, Verhältnismäßigkeit und Vorrang des EU-Rechts.
- Institutionelle Reformen: Stärkung des Europäischen Parlaments, neue Ämter wie des Präsidenten des Europäischen Rates, Einführung des Europäischen Außenministers (später abgeändert in Hoher Vertreter).
- Charta der Grundrechte: Erstmals wurde die 2000 verkündete Charta der Grundrechte der Europäischen Union Teil des „Primärrechts”, d. h. für alle Mitgliedstaaten verbindlich.
Rechtliche Bewertung und Bedeutung
Verfassungsrechtliche Dimension
Der Verfassungsvertrag war rechtlich gesehen ein völkerrechtlicher Vertrag, dem eine verfassungsgestaltende Wirkung zukam, ohne dass es sich rechtstechnisch um eine „Verfassung” im staatsrechtlichen Sinn handelte. Er hätte das bisherige Vertragsgefüge (EU-Vertrag, EG-Vertrag, Euratom-Vertrag) ersetzt und die Unionsstruktur einheitlich geregelt.
Verhältnis zu den nationalen Verfassungen
Die nationale Souveränität wäre durch die Europäische Verfassung nicht aufgehoben worden. Die Mitgliedstaaten hätten weiterhin eigene Verfassungen behalten, jedoch wären deren Regelungen im Kollisionsfall dem Vorrang des europäischen Verfassungsrechts unterlegen gewesen. Nationale Gerichte, insbesondere Verfassungsgerichte, hätten weiterhin die Kontrolle darüber ausgeübt, dass die EU nicht ihre Kompetenzen überschreitet (Ultra-vires-Kontrolle).
Demokratische und rechtsstaatliche Implikationen
Die stärkere Einbindung des Europäischen Parlaments sowie neue Beteiligungsrechte für Bürger sollten die demokratische Legitimation der EU verbessern. Die Verankerung der Grundrechte zielte auf einen verbesserten Rechtsschutz für Unionsbürger. Kritisch wurde jedoch der Umfang der übertragenen Kompetenzen und die Transparenz der Entscheidungsfindung beurteilt.
Europäische Verfassung im Lichte des Europäischen Verfassungsrechts
Begriff im engeren und weiteren Sinn
Auch nach dem Scheitern des Vertrags wird in der Fachliteratur häufig von einer „Europäischen Verfassungsordnung” gesprochen. Damit sind die Verträge und das Primärrecht gemeint, die die konstitutionellen Grundlagen der EU abbilden. Der Vertrag von Lissabon hat viele Elemente aus dem Verfassungsvertrag übernommen und weiterentwickelt.
Gerichtliche Kontrolle und Rechtsdurchsetzung
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist für die Auslegung und Anwendung des europäischen Primärrechts zuständig. Die Charta der Grundrechte ist seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon für alle Organe und Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von EU-Recht verbindlich. Zudem bleibt die Kontrolle durch nationale Gerichte bestehen, insbesondere im Hinblick auf die Wahrung der verfassungsrechtlichen Identität.
Fazit und aktuelle Bedeutung
Auch wenn die Europäische Verfassung formell nie in Kraft trat, prägen ihre Inhalte maßgeblich das heutige Primärrecht der Europäischen Union. Die umfassenden Reformen des Vertrags von Lissabon beruhen weitgehend auf den Arbeiten und Konzepten des Europäischen Konvents. Die Diskussion um eine kodifizierte, einheitliche Europäische Verfassung bleibt ein zentrales Thema im Kontext der Weiterentwicklung der EU und ihrer institutionellen, demokratischen und rechtlichen Grundlagen. Die Europäische Verfassung ist somit in rechtlicher Hinsicht als Meilenstein und Katalysator in der fortschreitenden Konstitutionalisierung des europäischen Rechtsraums zu verstehen.
Häufig gestellte Fragen
Welche rechtlichen Unterschiede bestehen zwischen der Europäischen Verfassung und den bestehenden EU-Verträgen?
Die Europäische Verfassung, offiziell „Vertrag über eine Verfassung für Europa”, war darauf ausgerichtet, die bislang bestehenden europäischen Verträge – insbesondere den Vertrag über die Europäische Union (EUV) und den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) – in einem einheitlichen Dokument zusammenzuführen und teilweise zu ersetzen. Rechtlich gesehen hätte die Verfassung als Primärrecht in der Hierarchie der Rechtsquellen der EU gestanden und wäre direkt anwendbar gewesen. Sie sollte die rechtlichen Grundlagen der Union klarer, transparenter und zugänglicher gestalten. Im Vergleich zu den bestehenden Verträgen hätte die Verfassung eine konsolidierte Kodifikation elementarer Rechtsprinzipien, eine explizite Festlegung der Kompetenzen der EU und eine einheitliche Struktur vorgesehen. Zudem wären verschiedene Protokolle und Erklärungen, die zuvor verstreut waren, in den Verfassungstext integriert worden. Eine wesentliche Änderung bestand in der Einführung juristischer Begriffe wie „Gesetz” und „Rahmengesetz”, die jedoch in späteren Reformverträgen wie dem Vertrag von Lissabon nicht übernommen wurden.
Welche rechtlichen Konsequenzen hätte die Ratifizierung der Europäischen Verfassung für die Souveränität der Mitgliedstaaten gehabt?
Die Ratifizierung der Europäischen Verfassung hätte bedeutsame Auswirkungen auf die Souveränität der Mitgliedstaaten gehabt, indem sie die Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten explizit geregelt hätte. Die Verfassung sah vor, die Prinzipien der begrenzten Einzelermächtigung, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit ausdrücklich festzuschreiben. Das bedeutete, dass die EU nur in denjenigen Politikbereichen tätig werden darf, die ihr durch die Verfassung ausdrücklich übertragen wurden. Gleichzeitig hätte sie den Mitgliedstaaten einen Mechanismus zur Überprüfung der Einhaltung dieser Prinzipien an die Hand gegeben (Subsidiaritätsklage). Neue Vertragsänderungen wären zudem durch ein vereinfachtes Verfahren möglich gewesen, wodurch die Anpassung an politische Notwendigkeiten erleichtert worden wäre, was allerdings auch die Schwelle für Kompetenzverschiebungen hätte senken können. Die Grundrechtecharta wäre in bindender Form Teil des Primärrechts geworden, was nationale Gesetzgebungen in vielen Fällen unmittelbar überlagert hätte.
Inwiefern hätte die Europäische Verfassung das Verhältnis zwischen EU-Recht und nationalem Recht verändert?
Mit der Europäischen Verfassung wäre der Vorrang des EU-Rechts vor nationalem Recht ausdrücklich normiert worden, ein Grundsatz, der bis dahin nur durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) entwickelt wurde. Durch eine formelle Festschreibung im Verfassungstext hätte sich das Verhältnis zwischen EU-Recht und nationalem Recht weiter zugunsten des Unionsrechts verschoben; nationale Gerichte wären ausdrücklich verpflichtet worden, entgegenstehendes nationales Recht unangewendet zu lassen. Auch die nationalen Verfassungen wären dem Verfassungstext nachgeordnet gewesen, ausgenommen die grundsätzlichen Verfassungsidentitäten, die allerdings weiterhin Respekt gefunden hätten. Dies wäre insbesondere mit Blick auf verfassungsgerichtliche Vorbehalte einzelner Mitgliedstaaten (z. B. Bundesverfassungsgericht in Deutschland) von erheblicher rechtlicher Bedeutung gewesen, da etwaige Konflikte nun direkt anhand des Verfassungstextes zu lösen gewesen wären.
Wie wäre die Kontrolle der Einhaltung der Europäischen Verfassung rechtlich ausgestaltet gewesen?
Die Einhaltung der Europäischen Verfassung wäre primär durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) überwacht worden. Der EuGH hätte die Kompetenz gehabt, die Auslegung und Anwendung der Verfassungsbestimmungen in sämtlichen Mitgliedstaaten verbindlich festzulegen. Darüber hinaus sah die Verfassung neue Klagerechte vor, etwa für nationale Parlamente, die eine Verletzung des Subsidiaritätsprinzips rügen konnten. Die Klagebefugnis gegen Rechtsakte der EU wäre erweitert worden, um eine stärkere rechtliche Kontrolle zu gewährleisten. Für Verstöße gegen die Verfassung und die Grundrechtecharta wären spezifische Sanktionsmöglichkeiten geschaffen worden, sodass die rechtlichen Kontrollmechanismen insgesamt gestärkt wären.
Welche rechtlichen Regelungen hätte die Europäische Verfassung bezüglich der Mitgliedschaft und des Austritts der Staaten vorgesehen?
Erstmals hätte mit der Europäischen Verfassung ein förmlicher Rechtsrahmen für den Austritt aus der EU geschaffen werden sollen („Austrittsklausel”). Dieser hätte es einem Mitgliedstaat ermöglicht, nach seinen eigenen verfassungsrechtlichen Vorschriften den Austritt zu erklären, woraufhin Verhandlungen über die Modalitäten des Austritts mit der Union aufgenommen worden wären. Die Verfassung hätte zudem die Aufnahmekriterien für neue Mitglieder transparent geregelt und ein klares Verfahren für die Suspendierung von Mitgliedsrechten bei schwerwiegenden Verstößen gegen die Grundprinzipien der Union etabliert. Diese Regelungen wurden später weitgehend – insbesondere die Austrittsklausel – in den Vertrag von Lissabon übernommen.
Wie hätte sich die Europäische Verfassung auf die Grundrechte und deren rechtliche Durchsetzung in der EU ausgewirkt?
Mit der Europäischen Verfassung wäre die Charta der Grundrechte der Europäischen Union vollumfänglich und rechtlich bindend in das Primärrecht integriert worden. Dies hätte zur Folge gehabt, dass sämtliche Organe der EU sowie die Mitgliedstaaten bei der Ausführung des Unionsrechts unmittelbar an die Grundrechte gebunden gewesen wären. Die Einzeldurchsetzung der Grundrechte durch Individualklagen beim EuGH wäre gestärkt und erweitert worden. Der Anwendungsbereich hätte sich auf alle Bereiche des EU-Rechts erstreckt, während rein nationale Sachverhalte außen vor geblieben wären. Diese rechtliche Verankerung der Grundrechte sollte ein einheitliches und hohes Schutzniveau innerhalb der EU gewährleisten.
Welche spezifischen Regelungen bezüglich der Änderung der Europäischen Verfassung wären rechtlich vorgesehen gewesen?
Die Europäische Verfassung hätte ein mehrstufiges und differenziertes Verfahren zur Änderung ihrer Bestimmungen eingeführt. Grundsätzliche Änderungen sollten nur durch einen einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates mit darauf folgender Ratifikation in allen Mitgliedstaaten erfolgen können. Für technische Anpassungen und institutionelle Änderungen hätte jedoch ein vereinfachtes Verfahren vorgesehen werden sollen. Durch diese Mechanismen wäre einerseits eine höhere Flexibilität beim Umgang mit unvermeidlichen Reformen erreicht worden, andererseits aber auch eine Absicherung vor ungewollten Kompetenzverschiebungen geschaffen worden.