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Einigungsvertrag (EVertr)


Einigungsvertrag (EVertr): Rechtliche Definition und Bedeutung

Der Einigungsvertrag (kurz: EVertr) bezeichnet im deutschen Recht die völkerrechtliche und staatsrechtliche Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zur Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands im Jahr 1990. Er bildet das grundlegende Dokument, welches die Durchführung, Gestaltung und somit den Rahmen der deutschen Wiedervereinigung festlegt. Der Einigungsvertrag regelte insbesondere den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes (GG) und die Angleichung der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialordnung.


Historischer Hintergrund

Politische und rechtliche Ausgangslage

Vor Abschluss des Einigungsvertrags existierten zwei deutsche Staaten: die Bundesrepublik Deutschland (BRD) und die Deutsche Demokratische Republik (DDR), die aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen waren. Mit den politischen Umwälzungen in der DDR 1989/1990 und dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems ergab sich die Möglichkeit zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands.

Bedeutung des 2+4-Vertrags

Parallel zum Einigungsvertrag verhandelten die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs sowie die beiden deutschen Staaten den sogenannten Zwei-plus-Vier-Vertrag, der die außenpolitischen Rahmenbedingungen für die Wiedervereinigung festlegte. Der Einigungsvertrag befasst sich daher in erster Linie mit den innerstaatlichen Regelungen des Vereinigungsprozesses.


Inhalt und Struktur des Einigungsvertrags

Vertragsschluss und Inkrafttreten

Der Einigungsvertrag wurde am 31. August 1990 in Berlin unterzeichnet und trat nach Zustimmung der Volkskammer der DDR und des Bundestages der Bundesrepublik Deutschland am 29. September 1990 in Kraft. Der formale Beitritt der DDR erfolgte zum 3. Oktober 1990, dem heutigen Tag der Deutschen Einheit.

Rechtsnatur des Einigungsvertrags

Der Einigungsvertrag ist rechtlich betrachtet ein völkerrechtlicher Vertrag mit verfassungsrechtlicher Bedeutung. Er ist Teil des sogenannten Vereinigungsrechts der beiden deutschen Staaten und wurde durch ein eigenes Zustimmungsgesetz in das Bundesrecht implementiert.

Aufbau des Vertragswerks

Der Einigungsvertrag umfasst insgesamt 45 Artikel sowie diverse Anlagen und Protokolle. Die Vertragsinhalte gliedern sich in folgende Hauptbereiche:

  • Staats- und Verfassungsrechtliche Bestimmungen
  • Anpassung der Rechts- und Verwaltungsstrukturen
  • Überleitung und Anpassung der Rechtsordnung
  • Vermögensrechtliche und wirtschaftliche Fragen
  • Sozialrechtliche Übergangsregelungen

Rechtliche Auswirkungen und Einzelregelungen

Staatsorganisation und Verfassungsrecht

Übernahme des Grundgesetzes

Mit Inkrafttreten des Einigungsvertrags wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in den neuen Ländern und Ost-Berlin wirksam. Eine Ausnahme bildeten zunächst einzelne Übergangsbestimmungen, die eine schrittweise Anpassung vorsahen.

Auflösung und Überleitung der Staatsorgane

Der Einigungsvertrag sieht die Auflösung der DDR-Staatsorgane und deren Überleitung in die Strukturen der Bundesrepublik vor. Landtage, Landesregierungen und Kommunalverwaltungen wurden nach westdeutschem Vorbild errichtet.

Gesetzesangleichung und Überleitung des Rechts

Überleitungsgesetz

Die Vereinheitlichung der Rechtsordnung wurde durch umfangreiche Überleitungsgesetze und Anpassungsgesetze geregelt, die bestehende DDR-Vorschriften unter bestimmten Voraussetzungen weitergelten ließen, sofern keine bundesdeutschen Vorschriften entgegenstanden.

Fortgeltung und Außerkrafttreten von Rechtsnormen

Der Vertrag enthält detaillierte Regelungen zur Fortgeltung ausgewählter DDR-Gesetze sowie zur sukzessiven Ablösung durch bundesdeutsches Recht.

Vermögensrechtliche Regelungen

Übertragung und Verwaltung öffentlicher Vermögen

Der Einigungsvertrag regelt die Vermögenszuordnungen, insbesondere die Übertragung des Volkseigentums der DDR auf das Bundesvermögen, die Länder oder Dritte. Zum Umgang mit Vermögensansprüchen wurde die Treuhandanstalt geschaffen, die für die Privatisierung staatlicher Betriebe der DDR zuständig war.

Eigentum und Rückübertragung

Der Vertrag enthält Bestimmungen zum Umgang mit enteigneten Vermögenswerten sowie zur Rückübertragung oder Entschädigung.

Sozialrecht und Arbeitsrecht

Renten, soziale Sicherung und Arbeitsverhältnisse

Zahlreiche Einzelbestimmungen betreffen die Überleitung der DDR-Sozialversicherung in das bundesdeutsche System, Rentenansprüche sowie die Behandlung öffentlicher und privater Arbeitsverhältnisse.


Verfahren und Umsetzung

Zustimmung und Implementierung

Der Einigungsvertrag trat mit Zustimmung beider Vertragspartner und nach Verkündung im Bundesgesetzblatt als innerstaatliches Bundesrecht und als völkerrechtlicher Vertrag in Kraft.

Rechtsschutz und Auslegung

Sämtliche Regelungen des Einigungsvertrags unterliegen dem Rechtsschutz durch die deutschen Gerichte. Streitfragen wurden und werden insbesondere vom Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht behandelt.


Bedeutung in der Rechtswissenschaft und Nachwirkungen

Dauerhafte Rechtswirkung

Der Einigungsvertrag bildet bis heute die maßgebliche Grundlage der staatlichen Einheit Deutschlands und wirkt insbesondere im Bereich der Übergangsregelungen und im Vermögensrecht fort.

Gesetzliche Weiterentwicklungen

Zwar haben zahlreiche Regelungen des Einigungsvertrags durch nachfolgende Gesetze ihre unmittelbare Wirkung verloren oder wurden abgelöst, gleichwohl bleibt der Vertrag ein grundlegendes Dokument des deutschen Vereinigungsrechts.


Literatur und weiterführende Quellen

  • Bundesgesetzblatt Teil II 1990, S. 885 – Einigungsvertrag
  • Gesetz zur Durchführung des Einigungsvertrages (EinigungsvertrG)
  • Amtliche Begründungen und Kommentarliteratur, u.a. Schneider/Knopp, Der deutsch-deutsche Einigungsvertrag
  • Bundeszentrale für politische Bildung: Informationen zum Einigungsvertrag

Siehe auch

  • Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
  • 2+4-Vertrag (Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland)
  • Treuhandanstalt und Vermögensrecht der ehemaligen DDR
  • Vereinigungsrecht

Der Einigungsvertrag (EVertr) bleibt ein zentrales Dokument der deutschen Rechtsgeschichte und prägt bis heute das öffentliche, verfassungsrechtliche und private Recht im wiedervereinigten Deutschland.

Häufig gestellte Fragen

Wie wurde der Einigungsvertrag (EVertr) rechtlich ausgestaltet und welches Verfahren wurde gewählt?

Der Einigungsvertrag (EVertr) wurde als völkerrechtlicher Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) konzipiert, wobei nach Art. 23 GG a.F. (Grundgesetz in der alten Fassung) das Beitrittsmodell gewählt wurde. Das Beitrittsmodell ermöglichte, dass die DDR dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitritt und dadurch als Teilstaat in die Bundesrepublik eingegliedert wird. Der Vertrag wurde am 31. August 1990 abgeschlossen und trat nach Ratifizierung durch die Volkskammer der DDR sowie den Deutschen Bundestag und Bundesrat der BRD in Kraft. Die rechtliche Besonderheit lag darin, dass zwar eine einvernehmliche Vertragslösung angestrebt wurde, jedoch – anders als bei klassischen völkerrechtlichen Verträgen – eine umfassende Übernahme des bundesdeutschen Rechtsrahmens inklusive der Grundrechte und des institutionellen Systems erfolgte. Die konkrete Ausgestaltung wurde im Vertrag präzise geregelt, sodass bestehende Landes- und Bundesgesetze auf das Gebiet der ehemaligen DDR ausgedehnt wurden, wobei der Einigungsvertrag als Transformationsgesetz diente.

Inwiefern wurden bestehende Gesetze im Rahmen des Einigungsvertrages auf das Beitrittsgebiet angewendet oder angepasst?

Durch den Einigungsvertrag wurden die bestehenden bundesdeutschen Gesetze grundsätzlich auf das Beitrittsgebiet (das Gebiet der ehemaligen DDR) ausgedehnt. In Artikel 3 EVertr wurde geregelt, dass mit dem Beitritt die Anwendung des gesamten Bundesrechts auf das Beitrittsgebiet erfolgt, soweit nach dem Vertrag nichts anderes bestimmt ist. Allerdings sah der Vertrag zahlreiche Ausnahmen und Übergangsregelungen vor: Einzelne Gesetze wurden aus Gründen des Bestandsschutzes, zur Wahrung spezifischer sozialer Belange oder zur Ermöglichung von Übergangsfristen explizit vom sofortigen Wirksamwerden ausgenommen oder an die besonderen Verhältnisse der DDR angepasst. Typische Beispiele betreffen das Sozialrecht, das Eigentumsrecht und das Verwaltungsrecht. Neben der bloßen Übertragung wurden durch den Vertrag auch Anpassungen und Modifikationen vereinbart, um bestehende Rechtslagen anzupassen und eine reibungslose Rechtsüberleitung sicherzustellen. Die Anwendungsdetails finden sich in den umfangreichen Anlagen zum Einigungsvertrag.

Welche verfassungsrechtlichen Bedenken und Herausforderungen gab es im Zusammenhang mit dem Einigungsvertrag?

Im Rahmen des Einigungsvertrags wurden verschiedentlich verfassungsrechtliche Bedenken geäußert, unter anderem bezüglich der Frage, ob das Beitrittsmodell nach Art. 23 GG a.F. tatsächlich die umfassende und unmittelbare Integration der DDR ins Grundgesetz und die Bundesrepublik ermöglichen konnte, oder ob ein komplett neues Grundgesetz gemäß Art. 146 GG hätte geschaffen werden müssen. Kritiker bemängelten zudem die starke Dominanz des westdeutschen Rechts und die geringe Beteiligung der Bevölkerung der ehemaligen DDR an der Ausarbeitung des Vertrages. Juristisch herausfordernd war auch die Integration zweier grundverschiedener staatlicher und rechtlicher Systeme, insbesondere im Hinblick auf Eigentumsverhältnisse, Vermögensrecht und Verwaltungsstrukturen. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch die Vereinbarkeit des Einigungsvertrags mit dem Grundgesetz bestätigt und festgestellt, dass der Vertrag den Rahmen der verfassungsrechtlich vorgesehenen Möglichkeiten nicht überschreitet.

Wie wurden offene Vermögens- und Eigentumsfragen im Einigungsvertrag rechtlich geregelt?

Die rechtliche Regelung der Vermögens- und Eigentumsfragen war eines der komplexesten Themen des Einigungsvertrags. In mehreren Bestimmungen und durch Verweis auf spezielle Anlagen (insbesondere Anlage III und IV EVertr) wurde ein Verfahren geschaffen, das die Rückübertragung, Entschädigung und Verwaltung ehemals enteigneter, volkseigener oder durch das DDR-Recht veränderter Vermögenswerte regelt. Besondere Bedeutung erhielt hierbei das sogenannte Vermögensgesetz, auf dessen Grundlage Ansprüche auf Rückübertragung von Grundstücken oder Unternehmen erhoben werden konnten, sofern diese nach den Maßstäben des westdeutschen Rechts als unrechtmäßige Enteignung bewertet wurden. Für bestimmte Konstellationen wurde ferner eine Ausgleichsentschädigung vorgesehen, und für besonders strittige Bereiche wurden Schieds- und Verwaltungsverfahren etabliert. Im Detail regelte der Einigungsvertrag außerdem die Verwaltung des volkseigenen Vermögens und die Aufgaben der Treuhandanstalt.

Welche Übergangsregelungen sah der Einigungsvertrag für bestehende Rechtsverhältnisse vor?

Um eine reibungslose Umstellung der unterschiedlichen Rechtssysteme zu gewährleisten, wurden im Einigungsvertrag umfangreiche Übergangsregelungen getroffen. Artikel 8 EVertr und die zugehörigen Anlagen bestimmten, welche DDR-Gesetze noch befristet weiter anzuwenden waren, bis diese durch bundesdeutsche Normen ersetzt oder angepasst wurden. Dies betraf zum Beispiel das Arbeitsrecht, das Sozialversicherungsrecht und das Familienrecht, wo teils längere Übergangsfristen eingeräumt wurden, um soziale Härten und Verwaltungschaos zu vermeiden. Für Beamtenverhältnisse, Mietverträge, Arbeitsverhältnisse und andere Dauerschuldverhältnisse legte der Einigungsvertrag ebenfalls Schutzbestimmungen und Fristen fest, um das Vertrauen der Bürger in rechtliche Stabilität zu sichern.

Welche Rolle spielten die Anlagen und Protokolle zum Einigungsvertrag?

Die unterschiedlichen Anlagen und Protokolle zum Einigungsvertrag waren aus rechtlicher Sicht von zentraler Bedeutung, da sie detaillierte Ausführungsregelungen für spezifische Bereiche enthielten. Sie stehen rechtlich in einem engen Zusammenhang mit dem eigentlichen Vertragstext und besitzen gleiche Verbindlichkeit. Die Anlagen gliederten sich in verschiedene Teile wie etwa den Anwendungsbereich des Bundesrechts, die Regelung zu internationalen Verträgen, spezielle Übergangsregelungen sowie sektorspezifische Anpassungen (z.B. im Umweltrecht, Gesundheitswesen, Steuerrecht). Damit wurde die Komplexität der Rechtsangleichung der DDR an die westdeutsche Rechtsordnung rechtssicher gestaltet und für die Praxis handhabbar gemacht.

Wie wurde das Verhältnis zu bestehenden internationalen Verträgen, die von der DDR abgeschlossen waren, geregelt?

Im Einigungsvertrag wurde geregelt, wie mit den internationalen Verträgen umzugehen ist, die von der DDR vor dem Beitritt abgeschlossen wurden. Nach Art. 2 Abs. 4 EVertr in Verbindung mit den entsprechenden Anlagen wurden bestehende völkerrechtliche Bindungen der DDR weitgehend von der Bundesrepublik übernommen, sofern sie mit dem Grundgesetz und bestehenden Verpflichtungen der BRD vereinbar waren. Völkerrechtlich problematische oder sich widersprechende Vertragsverhältnisse mussten einer gesonderten Prüfung unterzogen werden. Die Bundesrepublik trat mit Wirkung des Beitritts in zahlreiche völkerrechtliche Verträge ein, passte diese jedoch an ihre bestehenden Verpflichtungen an und behielt sich das Recht vor, einzelne Abkommen außer Kraft zu setzen oder zu modifizieren, um völkerrechtlich und innenpolitisch widersprüchliche Verpflichtungen zu vermeiden.