Legal Lexikon

Derogation


Begriff und Grundlagen der Derogation

Definition der Derogation

Der Begriff Derogation beschreibt im rechtlichen Sinne die (teilweise) Außerkraftsetzung oder Aufhebung von bestehenden Rechtsnormen durch eine andere Norm gleich- oder höherrangigen Rechts. Häufig wird hierbei zwischen der partiellen Derogation (teilweise Aufhebung oder Änderung einer Rechtsvorschrift) und der totalen Derogation (vollständige Aufhebung einer Norm) unterschieden. Derogation kann sowohl zwischen einander gleichstehenden Normen (z.B. zwischen Gesetzen) als auch zwischen Normen unterschiedlicher Hierarchiestufen erfolgen, wobei stets der Grundsatz gilt: Lex superior derogat legi inferiori (die höherrangige Norm setzt die niederrangige außer Kraft).

Abgrenzung zu ähnlichen Begriffen

Im Unterschied zur Abrogation, die die vollständige Außerkraftsetzung eines Gesetzes beschreibt, steht bei der Derogation meist die partielle oder selektive Außerkraftsetzung einzelner Normabschnitte im Vordergrund. Das Prinzip lex specialis derogat legi generali ist eng mit der Derogation verbunden: So setzt eine speziellere Norm eine allgemeinere Norm im selben Regelungsbereich außer Kraft oder schränkt sie ein.

Formen und Anwendungsbereiche der Derogation

Arten der Derogation

Partielle Derogation

Von partieller Derogation ist dann die Rede, wenn lediglich bestimmte Vorschriften oder Teilbereiche eines Gesetzes oder einer Rechtsnorm aufgehoben oder geändert werden. Typischerweise geschieht dies durch Änderungsgesetze, in denen klar benannt ist, welche Passagen außer Kraft gesetzt oder durch neue Regelungen ersetzt werden.

Totale Derogation

Bei der totalen Derogation wird das gesamte Gesetz oder die gesamte Rechtsnorm vollständig aufgehoben. Dies erfolgt regelmäßig durch explizite Abrogationsklauseln oder Aufhebungsgesetze, in denen die vollständige Außerkraftsetzung klargestellt wird.

Rechtsgebiete mit Bedeutung der Derogation

Derogation besitzt in zahlreichen Rechtsgebieten Relevanz, darunter im Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Strafrecht und im internationalen Recht. Besonders im europäischen Recht ist der Begriff der Derogation von zentraler Bedeutung, da hier regelmäßig Verpflichtungen aus Verträgen oder Richtlinien durch spätere Regelungen modifiziert oder eingeschränkt werden.

Derogation im internationalen und europäischen Recht

Europarecht und völkerrechtliche Verträge

Im Rahmen der Europäischen Union wird Derogation häufig verwendet, um den Mitgliedstaaten unter bestimmten Bedingungen eine zeitlich oder sachlich begrenzte Abweichung von unionsrechtlichen Vorgaben zu ermöglichen („Derogationsklauseln“ oder „Abweichungsklauseln“). Ziel solcher Klauseln ist es, nationale Besonderheiten zu berücksichtigen oder Übergangsfristen für die Umsetzung bestimmten Rechts zu schaffen. Gleichzeitig kann auf diese Weise auch die Harmonisierung des Rechts in der EU gesteuert werden.

Im Völkerrecht findet Derogation hauptsächlich im Zusammenhang mit Menschenrechtsabkommen Anwendung, etwa wenn Staaten im Ausnahmezustand von bestimmten Verpflichtungen vorübergehend zurücktreten dürfen, sofern dies in den entsprechenden Konventionen vorgesehen ist (sogenannte notstandsbefugte Derogation, z. B. nach Art. 15 EMRK).

Voraussetzungen, Verfahren und Grenzen der Derogation

Voraussetzungen für eine wirksame Derogation

Die Derogation einer Rechtsnorm setzt voraus, dass die derogierende (außer Kraft setzende) Norm hinreichend bestimmt ist und das Verhältnis zur früheren Norm klar geregelt wird. Maßgeblich ist dabei, ob die Derogation ausdrücklich (express) oder stillschweigend (konkludent) erfolgt.

Express Derogation

Eine ausdrückliche Derogation liegt vor, wenn das Änderungs- oder Aufhebungsgesetz ausdrücklich angibt, welche Regelungen außer Kraft gesetzt werden. Hierdurch entsteht Rechtssicherheit und Klarheit für die Rechtsanwender.

Konkludente Derogation

Eine stillschweigende Derogation wird angenommen, wenn eine neue Norm mit einer bestehenden inhaltlich unvereinbar ist und davon auszugehen ist, dass die spätere Regelung die ältere außer Kraft setzt (lex posterior derogat legi priori).

Grenzen der Derogation

Die Möglichkeit zur Derogation ist durch höherrangiges Recht begrenzt. So sind beispielsweise bestimmte Grundrechte unabdingbar und können durch einfachgesetzliche Vorschriften nicht derogiert werden. Auch das Prinzip der Normenhierarchie setzt Schranken: Eine Norm kann nur durch eine auf derselben oder höheren Stufe stehende Norm derogiert werden.

Im internationalen und europäischen Recht regelt meist die betreffende Rechtsquelle selbst Umfang, Voraussetzungen und zulässigen Inhalt der Derogation sowie deren zeitliche Befristung und Kontrolle durch übergeordnete Gremien oder Gerichtsbarkeiten.

Wirkung und Bedeutung der Derogation in der Praxis

Rechtsfolgen der Derogation

Durch die (teilweise) Außerkraftsetzung einer Norm durch die Derogation entsteht ein neues Normengefüge, das fortan für die Regelung desselben Sachverhalts maßgeblich ist. Alle vom Geltungsbereich der derogierten Norm erfassten Rechtsverhältnisse werden ab dem Zeitpunkt der Außerkraftsetzung nach dem neuen Recht beurteilt – ausgenommen sind regelmäßig abgeschlossene Sachverhalte, für die noch das alte Recht weiter gelten kann (Grundsatz des intertemporalen Rechts).

Bedeutung für die Rechtssicherheit

Derogationen dienen der Anpassung, Modernisierung und Harmonisierung des Rechts. Allerdings erfordern sie hohe Präzision in der Gesetzgebung, um Unklarheiten oder Lücken zu vermeiden, insbesondere bei konkludenten Derogationen.

Literatur und weiterführende Quellen

  • Erich Molitor: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. München, 2010.
  • Hans Kelsen: Reine Rechtslehre, Wien 1960.
  • Vertrag über die Europäische Union (EUV)
  • Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)

Mit dieser Darstellung bietet der Artikel einen umfassenden, systematischen Überblick über die rechtlichen Dimensionen der Derogation und deren Bedeutung in verschiedenen nationalen und internationalen Rechtsordnungen.

Häufig gestellte Fragen

Wann und unter welchen Bedingungen ist eine Derogation nach deutschem Recht zulässig?

Eine Derogation, also das Außerkraftsetzen oder Abweichen von bestehenden Rechtsvorschriften, ist nach deutschem Recht nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig. Grundsätzlich bedarf es einer klaren gesetzlichen Ermächtigung, wenn von geltendem Recht abgewichen werden soll. Im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren kann eine neuere Norm eine ältere ausdrücklich oder konkludent derogieren. Im Bereich des Verwaltungsrechts besteht die Möglichkeit, sogenannte Ausnahmegenehmigungen zu erteilen, die unter engen Voraussetzungen ein Abweichen von Rechtsvorschriften ermöglichen. Diese bedürfen in der Regel einer gesetzlichen Grundlage, die Art, Umfang und Grenzen der Ermächtigung genau regelt. Im Verfassungsrecht sind Derogationen ebenfalls nur unter strenger Beachtung des Grundgesetzes möglich, insbesondere dürfen sie nicht die in Art. 79 Abs. 3 GG festgelegte Ewigkeitsklausel tangieren. Verstöße gegen die Zulässigkeitsvoraussetzungen führen regelmäßig zur Nichtigkeit derogierender Maßnahmen oder Normen.

Wie unterscheidet sich die temporäre von der dauerhaften Derogation?

Temporäre Derogationen betreffen ein zeitlich begrenztes Außerkraftsetzen von Normen, etwa durch befristete Gesetze, Notstandsgesetze oder pandemiebezogene Ausnahmeregelungen. Ihre Zulässigkeit erfordert regelmäßig eine eindeutige zeitliche Begrenzung sowie eine explizite Begründung im Gesetzgebungsverfahren, warum eine temporäre Abweichung notwendig ist. Eine dauerhafte Derogation hingegen führt dazu, dass die vorherige Norm dauerhaft aufgehoben oder durch eine neue ersetzt wird. Diese erfolgt durch den Gesetzgeber im Wege eines ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens und bedarf keines weiteren Endzeitpunkts; die frühere Regelung gilt danach grundsätzlich als aufgehoben, sofern keine Übergangsvorschriften getroffen wurden. Die konkreten Anforderungen an Klarheit und Bestimmtheit sind in beiden Fällen hoch, damit Rechtssicherheit und Bestimmtheitsgrundsatz gewahrt bleiben.

Welche rechtlichen Folgen hat eine Derogation für bereits bestehende Rechtsverhältnisse?

Eine Derogation wirkt grundsätzlich ex nunc, d.h. ab dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens. Bereits rechtskräftig abgeschlossene Sachverhalte bleiben von der neuen Rechtslage regelmäßig unberührt, es sei denn, der Gesetzgeber ordnet ausdrücklich eine Rückwirkung (ex tunc) an. Die Zulässigkeit einer echten Rückwirkung ist jedoch an enge verfassungsrechtliche Voraussetzungen gebunden, insbesondere den Grundsatz des Vertrauensschutzes nach Art. 20 Abs. 3 GG. Für schwebende Verfahren oder Dauerrechtsverhältnisse kann die Derogation jedoch unmittelbar Anwendung finden, sofern keine besonderen Übergangsregelungen geschaffen wurden. In der verwaltungsrechtlichen Praxis kann dies zur Folge haben, dass bereits begonnene Verfahren unter der neuen Rechtslage weiterzuführen sind, sofern keine Vertrauensschutzgesichtspunkte entgegenstehen.

Kann eine Derogation durch Normen niedrigeren Rangs erfolgen?

Nach dem Prinzip der Normenhierarchie ist eine Derogation nur durch gleichrangige oder höherrangige Normen zulässig. Eine Rechtsverordnung kann daher grundsätzlich kein Gesetz derogieren, sondern nur innerhalb der vom Gesetz gesetzten Grenzen Abweichungen bestimmen. Lediglich innerhalb eines von der höherrangigen Norm eröffneten Rahmens kann eine konkretere, aber nicht derogatorische Regelung getroffen werden (lex specialis). Eine untergesetzliche Regelung darf in keinem Fall das höherrangige Recht derogieren; sollte dies dennoch versucht werden, ist die betroffene Regelung nichtig und unwirksam aufgrund des Vorrangs des Gesetzes beziehungsweise Verfassungsrechts (Art. 20 Abs. 3 GG).

Welche Rolle spielt das Gebot der Normenklarheit bei einer Derogation?

Das Gebot der Normenklarheit verlangt, dass die Reichweite und Tragweite einer derogierenden Vorschrift eindeutig zu erkennen sind. Eine Derogation muss für die Normadressaten nachvollziehbar und klar verständlich sein. Insbesondere muss kenntlich sein, welche Vorschrift in welchem Umfang aufgehoben beziehungsweise abgeändert wird – dies wird regelmäßig durch explizite Aufhebungs-, Änderungs- oder Ersetzungsvorschriften im Gesetzestext gewährleistet. Unklare derogierende Regelungen widersprechen dem Rechtsstaatsprinzip und können, insbesondere durch die ordentliche Gerichtsbarkeit oder das Bundesverfassungsgericht, für nichtig erklärt werden.

Inwiefern kann das Europarecht nationale derogierende Vorschriften beeinflussen?

Das Europarecht kann nationale Gesetzgeber verpflichten, bestimmte Normen derogativ zu ändern, aufzuheben oder anzupassen, beispielsweise im Rahmen der Umsetzung von EU-Richtlinien oder aufgrund der unmittelbaren Anwendung von EU-Verordnungen. Nationale Derogationen, die europäischen Vorgaben widersprechen, sind aus unionsrechtlicher Sicht ungültig und können von den nationalen Gerichten unangewendet bleiben. Außerdem geht EU-Recht gemäß Art. 25 GG und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nationalem Recht im Kollisionsfall grundsätzlich vor, sodass auch eine ursprünglich zulässige nationale Derogation aufgehoben oder modifiziert werden muss, sofern sie gegen sekundäres oder primäres Europarecht verstößt.

Können Grundrechte durch Derogation eingeschränkt oder aufgehoben werden?

Grundrechte können in Deutschland nur unter sehr engen, verfassungsrechtlich festgelegten Voraussetzungen eingeschränkt werden. Eine vollständige Derogation von Grundrechten wäre nur in den Fällen möglich, in denen das Grundgesetz entsprechende Einschränkungsvorbehalte vorsieht (z.B. Art. 9 Abs. 2 GG oder bei Art. 10 GG). Selbst bei Notstandsgesetzen sieht Art. 19 Abs. 2 GG ein unabdingbares Minimum an Grundrechtsschutz vor; die sogenannte Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG verbietet jede Derogation der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG), des Demokratieprinzips und des Rechtsstaatsprinzips. Jegliche derogierende Maßnahme, die über diese Grenzen hinausgeht, wäre verfassungswidrig.