Begriffserklärung: Asoziale Rechtsgeschäfte
Der Ausdruck „asoziale Rechtsgeschäfte“ findet zwar keine direkte Verwendung im Gesetzeswortlaut des deutschen oder österreichischen Zivilrechts, wird jedoch im juristischen Schrifttum zur Bezeichnung von Rechtsgeschäften verwendet, deren Inhalt gegen soziale Mindeststandards oder gesellschaftliche Grundwerte verstößt. In einem weiteren Sinne umfasst der Begriff solche Verträge und Willenserklärungen, die mit grundlegenden Prinzipien von Recht, Sitte und Moral unvereinbar sind und daher in ihrer Wirksamkeit rechtlich eingeschränkt oder nichtig sind.
Rechtsgrundlagen asozialer Rechtsgeschäfte
Sittenwidrigkeit gemäß § 138 BGB
Das zentrale rechtliche Instrument zur Beurteilung von asozialen Rechtsgeschäften im deutschen Zivilrecht ist die Vorschrift des § 138 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Nach Absatz 1 dieser Vorschrift ist ein Rechtsgeschäft nichtig, wenn es gegen die guten Sitten verstößt (sogenannte Sittenwidrigkeit). Dies umfasst insbesondere Geschäfte, die gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstoßen. Auch nach österreichischem Recht existieren vergleichbare Normen, etwa § 879 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (ABGB).
Definition der „guten Sitten“
Die „guten Sitten“ sind ein unbestimmter Rechtsbegriff, der durch die Rechtsprechung und herrschende Meinung ausgefüllt wird. Orientierung bieten hierbei das ethische Empfinden der Gemeinschaft, das Sozialethos sowie die Wertung der Verfassung.
Weitere einschlägige Vorschriften
- § 134 BGB: Nichtigkeit von Rechtsgeschäften, die gegen ein gesetzliches Verbot verstoßen.
- § 826 BGB: Schadenersatzpflicht bei vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung.
- § 879 ABGB (Österreich): Nichtigkeit wider die guten Sitten.
Erscheinungsformen asozialer Rechtsgeschäfte
Wucher (§ 138 Abs. 2 BGB)
Bereits der Gesetzgeber sieht im sogenannten Wucher ein besonders gravierendes asoziales Rechtsgeschäft. Gemäß § 138 Abs. 2 BGB ist ein Rechtsgeschäft nichtig, wenn jemand unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder einer erheblichen Willensschwäche eines anderen für Leistungen Vermögensvorteile verspricht, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der Leistung stehen. Die Schwelle zu einem wucherischen Rechtsgeschäft wird dabei regelmäßig im Rahmen von Kreditverträgen, Mietverträgen oder bei sittenwidrigen Bürgschaften überschritten.
Verträge mit sittenwidrigem Inhalt
Als asoziale Rechtsgeschäfte werden auch solche angesehen, die einen sittenwidrigen oder unmoralischen Zweck verfolgen, etwa Verträge über verbotene Handlungen, die Förderung strafbarer oder sittenwidriger Taten oder sozialethisch missbilligte Abreden (wie Knebelungsverträge, Totalunterwerfungsklauseln, Schweigeabreden im Zusammenhang mit Gesetzesverstößen).
Diskriminierende oder ausbeuterische Verträge
Unter diesen Begriff werden zudem Rechtsgeschäfte gefasst, die einzelne Personen oder Gruppen auf diskriminierende, entwürdigende oder ausbeuterische Weise benachteiligen, etwa durch extreme Ungleichgewichte bei den Leistungspflichten, sittenwidrige Arbeitsbedingungen oder Verstöße gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG).
Rechtsfolgen asozialer Rechtsgeschäfte
Nichtigkeit
Das zentrale Rechtsfolge asozialer Rechtsgeschäfte ist gemäß § 138 BGB in der Regel die absolute Nichtigkeit. Das bedeutet, das Rechtsgeschäft entfaltet von Anfang an keine rechtliche Wirkung. Leistungen, die bereits erbracht wurden, können im Wege des Bereicherungsrechts (§§ 812 ff. BGB) zurückgefordert werden, sofern nicht gesetzliche Ausschlussgründe (z.B. § 817 Satz 2 BGB) entgegenstehen.
Folgen für Nebenabreden und Teilnichtigkeit
Sofern das Rechtsgeschäft teilweise sittenwidrig ist, kann nach dem sogenannten „blue-pencil-test“ der ansonsten wirksame Teil des Vertrags aufrechterhalten werden, wenn dies dem mutmaßlichen Willen der Parteien entspricht und die Restgültigkeit gesetzlich zulässig ist.
Schadensersatzansprüche
Für den Fall, dass eine Partei durch ein asoziales Rechtsgeschäft besonders benachteiligt oder geschädigt wurde, kann unter Umständen ein Schadenersatzanspruch nach § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung bestehen.
Abgrenzung zu anderen unwirksamen Rechtsgeschäften
Asoziale Rechtsgeschäfte sind von anderen unwirksamen Rechtsgeschäften abzugrenzen, beispielsweise solchen, die aufgrund eines Verbotsgesetzes nach § 134 BGB nichtig sind, aber keine Sittenwidrigkeit aufweisen müssen. Ebenso unterscheiden sie sich von Rechtsgeschäften, die aufgrund Irrtums, Drohung oder Täuschung angefochten werden können (vgl. § 119 ff. BGB, § 870 ABGB), oder von solchen, die auf Grund fehlender Geschäftsfähigkeit unwirksam sind (§ 104 ff. BGB).
Bedeutung und gesellschaftlicher Kontext
Asoziale Rechtsgeschäfte haben erhebliche Bedeutung im Bereich des Verbraucherschutzes, Arbeitsrechts, Mietrechts sowie in der Vertragsgestaltung im Allgemeinen. Der Begriff unterliegt einer stetigen inhaltlichen Weiterentwicklung durch gerichtliche Entscheidungen und sich verändernde gesellschaftliche Wertungen. Die Sittenwidrigkeit wird nicht zeitlos definiert, sondern muss an den jeweils maßgeblichen Moral- und Rechtsvorstellungen der Gemeinschaft ausgerichtet werden.
Rechtsprechung zu asozialen Rechtsgeschäften
Die Rechtsprechung beschäftigt sich regelmäßig mit Fällen, in denen das Vorliegen eines asozialen Rechtsgeschäfts zu beurteilen ist. Beispielhaft sei auf folgende Entscheidungen hingewiesen:
- Bundesgerichtshof, Urteil vom 19. Januar 2001 (V ZR 437/99): Sittenwidrigkeit einer extrem überhöhten Maklerprovision
- Bundesgerichtshof, Urteil vom 13. Mai 2014 (XI ZR 170/13): Unwirksamkeit sittenwidriger Bearbeitungsgebühren bei Verbraucherkrediten
- Oberster Gerichtshof (Österreich), 22.5.2007, 10 Ob 59/07x: Missbrauchliche Vertragsklauseln und Sittenwidrigkeit
Diese Entscheidungen verdeutlichen die dynamische Entwicklung und die Bedeutung der Wertungen in der Beurteilung des jeweiligen Sachverhalts.
Zusammenfassung
Der Begriff „asoziale Rechtsgeschäfte“ bezeichnet Rechtsgeschäfte mit einem Inhalt, der gegen soziale Mindeststandards, das Anstandsgefühl und gesellschaftliche Grundwerte verstößt. In der Praxis ist die Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB, § 879 ABGB) das maßgebliche Kriterium. Typische Erscheinungsformen sind Wucher, ausbeuterische Verträge und Vereinbarungen mit diskriminierenden Inhalten. Die Rechtsfolgen reichen von der Nichtigkeit über Schadenersatzansprüche bis zu teilweiser Unwirksamkeit. Die Beurteilung bleibt einzelfallbezogen und wandelt sich mit den Wertvorstellungen der jeweiligen Zeit.
Häufig gestellte Fragen
Welche Voraussetzungen müssen für die Nichtigkeit eines asozialen Rechtsgeschäfts vorliegen?
Ein asoziales Rechtsgeschäft kann gemäß § 138 Abs. 1 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) nichtig sein, wenn es gegen die guten Sitten verstößt. Für die Nichtigkeit müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Zunächst muss es objektiv einen gravierenden Verstoß gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden geben. Das bedeutet, dass das Rechtsgeschäft so sittenwidrig ist, dass es vom Gesetz nicht mehr geschützt werden kann. Typische Beispiele sind Rechtsgeschäfte, die auf eine erhebliche Missachtung der sozialen Wertevorstellungen hinauslaufen, etwa durch Ausnutzung einer Zwangslage, einer Unerfahrenheit oder eines auffälligen Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung (Wucher, § 138 Abs. 2 BGB). Hinzu kommt in bestimmten Fällen eine subjektive Komponente: Der Handelnde muss regelmäßig in Kenntnis der verwerflichen Umstände und mit zumindest bedingtem Vorsatz gehandelt haben. Gerichtliche Prüfung erfolgt stets einzelfallbezogen und unter Berücksichtigung der besonderen Umstände, die bei Vertragsschluss vorlagen.
Kann ein asoziales Rechtsgeschäft rückwirkend genehmigt oder nachträglich geheilt werden?
Ein einmal als nichtig erkanntes asoziales Rechtsgeschäft kann grundsätzlich nicht durch nachträgliche Genehmigung oder Heilung wirksam werden. Die Nichtigkeit wirkt ex tunc, also vom Zeitpunkt des Vertragsschlusses an. Das bedeutet, dass das Rechtsgeschäft so behandelt wird, als hätte es nie existiert. Auch eine spätere Zustimmung der Vertragsparteien oder eine Veränderung der zugrunde liegenden Umstände kann die Sittenwidrigkeit nicht ausräumen. Abweichungen hiervon bestehen nur in Ausnahmefällen, etwa wenn das Rechtsgeschäft nach seiner ursprünglichen Sittenwidrigkeit in der Folge durch inhaltliche Veränderungen zu einem legalen Sachverhalt umgestaltet wird und dann neu abgeschlossen wird.
Welche Bedeutung hat das subjektive Element beim asozialen Rechtsgeschäft?
Neben dem objektiven Verstoß gegen die guten Sitten kann für die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts auch ein subjektives Element erforderlich sein. Insbesondere bei Tatbeständen wie dem Wucher (§ 138 Abs. 2 BGB) ist ein bewusstes Ausnutzen der Schwächesituation des Vertragspartners notwendig. Der Handelnde muss von der Schwäche oder Notlage des anderen wissen und diese gezielt zu seinem Vorteil nutzen. In anderen Konstellationen reicht es für die Sittenwidrigkeit unter Umständen schon aus, wenn ein grobes Missverhältnis besteht, sofern weitere verwerfliche Begleitumstände hinzutreten. Im Zweifel prüft das Gericht, ob beide Vertragspartner sich bewusst auf einen sittenwidrigen Vertrag eingelassen haben oder ob einer davon ahnungslos war.
Welche Rechtsfolgen treten bei Nichtigkeit eines asozialen Rechtsgeschäfts ein?
Die wichtigste Rechtsfolge bei der Nichtigkeit eines asozialen Rechtsgeschäfts ist, dass es keinerlei Rechtswirkungen zwischen den Parteien entfaltet; das Rechtsgeschäft ist „von Anfang an“ unwirksam. Das bedeutet auch, dass bereits erbrachte Leistungen grundsätzlich zurückzugewähren sind (§ 812 BGB – ungerechtfertigte Bereicherung). In Fällen, in denen beide Parteien sittenwidrig gehandelt haben, kann allerdings nach § 817 Satz 2 BGB ein Rückforderungsverbot greifen: Wer gegen ein gesetzliches Verbot oder die guten Sitten verstoßen hat, kann das Geleistete gegebenenfalls nicht zurückverlangen. Ziel dieser Regelung ist es, die Parteien von sittenwidrigen Geschäften abzuhalten, indem ihnen die Vorteile aus solchen Geschäften entzogen werden.
Wer trägt die Beweislast für die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts?
Die Beweislast für die Sittenwidrigkeit eines Vertrags trägt grundsätzlich die Partei, die sich auf die Nichtigkeit beruft. Das bedeutet, dass sie das Vorliegen der objektiven und ggf. subjektiven Voraussetzungen substantiiert darlegen und nachweisen muss. Die Beurteilung, was als sittenwidrig im Sinne des § 138 BGB gilt, ist einzelfallabhängig und wird durch die Rechtsprechung stetig weiterentwickelt. Im Prozess spielt auch die Darlegung und Beweislast für die konkreten Begleitumstände eine große Rolle, beispielsweise bei der Frage, ob eine Partei sich in einer Zwangslage befand oder ein krasses wirtschaftliches Ungleichgewicht vorlag.
Sind auch einseitige Rechtsgeschäfte von der Vorschrift über asoziale Rechtsgeschäfte erfasst?
Ja, § 138 BGB gilt nicht nur für Verträge, sondern auch für einseitige Rechtsgeschäfte wie Testamentserrichtungen oder Schenkungsversprechen. Auch hier kann das Rechtsgeschäft nichtig sein, wenn es gegen die guten Sitten verstößt. Bei einseitigen Rechtsgeschäften prüft das Gericht ebenfalls, ob eine erhebliche Verletzung der allgemeinen Wertvorstellungen der Gesellschaft vorliegt und ob besondere Umstände vorliegen, die eine Sittenwidrigkeit begründen.
Gibt es bei asozialen Rechtsgeschäften spezifische Verjährungsfristen?
Die Nichtigkeit eines asozialen Rechtsgeschäfts ist grundsätzlich dauerhaft; die Feststellung der Nichtigkeit ist nicht an eine Verjährungsfrist gebunden, da es um die Unwirksamkeit des Geschäfts als solches geht. Ansprüche auf Rückgewähr erbrachter Leistungen unterliegen hingegen den allgemeinen Verjährungsvorschriften, insbesondere der regelmäßigen dreijährigen Verjährungsfrist nach § 195 BGB. Der Lauf der Frist beginnt mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den anspruchsbegründenden Umständen Kenntnis erlangt hat oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen.