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AEUV


Allgemeine Einführung zum AEUV

Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (kurz: AEUV) ist ein zentrales Regelwerk des Europäischen Unionsrechts. Er wurde ursprünglich 1957 als Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag, auch Römische Verträge) unterzeichnet und hat sich im Rahmen zahlreicher Reformen zu einem der beiden grundlegenden Primärrechtsverträge der Europäischen Union entwickelt. Gemeinsam mit dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) bildet der AEUV den verfassungsrechtlichen Rahmen, auf dessen Grundlage die Europäische Union ihre Kompetenzen ausübt und ihre Ziele verwirklicht.

Entstehung und Entwicklung des AEUV

Historische Entwicklung

Der AEUV geht in seinen Ursprüngen auf den Vertrag von Rom aus dem Jahr 1957 zurück. Mit der Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon im Jahr 2007 und dessen Inkrafttreten am 1. Dezember 2009 wurde der Vertrag umfassend überarbeitet, umbenannt und erhielt seine heutige Form als Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Seitdem ist er der wichtigste Vertrag zur Regelung der inneren Organisation, der Zuständigkeiten sowie des Funktionierens der Organe der Europäischen Union.

Systematik und Struktur

Der AEUV ist systematisch in sieben Teile gegliedert, die unterschiedliche Themenbereiche und Politikfelder umfassen:

  1. Grundsätze (Art. 1-17 AEUV)
  2. Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft (Art. 18-25 AEUV)
  3. Binnenpolitiken und interne Maßnahmen (Art. 26-197 AEUV)
  4. Assoziierung der überseeischen Länder und Hoheitsgebiete (Art. 198-204 AEUV)
  5. Auswärtiges Handeln der Union (Art. 205-222 AEUV)
  6. Institutionelle und finanzielle Bestimmungen (Art. 223-334 AEUV)
  7. Allgemeine und Schlussbestimmungen (Art. 335-358 AEUV)

Diese Struktur gewährleistet eine klare Trennung der Kompetenzen und Zuständigkeiten sowie eine systematische Regelung der wichtigsten Rechtsbereiche.

Rechtsnatur und Bedeutung des AEUV

Verhältnis zum Unionsrecht und nationalen Recht

Der AEUV ist Teil des Primärrechts der EU und steht damit an der Spitze der Normenhierarchie innerhalb der Europäischen Union. Er genießt Anwendungsvorrang vor sekundärem Unionsrecht, insbesondere vor Verordnungen, Richtlinien und Beschlüssen. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, ihre nationalen Rechtsvorschriften im Einklang mit dem AEUV auszulegen und anzuwenden.

Anwendungsbereich des Vertrags

Der Anwendungsbereich des AEUV umfasst sowohl wirtschaftliche als auch soziale, politische und institutionelle Fragestellungen der Union. Schwerpunkte bilden:

  • Der Binnenmarkt (freier Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr)
  • Wettbewerbsrecht
  • Agrarpolitik und Fischerei
  • Sozial- und Beschäftigungspolitik
  • Umweltpolitik
  • Verbraucher- und Gesundheitsschutz
  • Verkehrspolitik
  • Energiepolitik
  • Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

Die wichtigsten Inhalte des AEUV

Binnenmarkt und Grundfreiheiten

Ein wesentliches Element des AEUV ist die Schaffung und Sicherung des europäischen Binnenmarktes, geregelt insbesondere in den Art. 26 ff. AEUV. Dieser beruht auf den vier Grundfreiheiten:

  • Freier Warenverkehr (Art. 28-37 AEUV)
  • Freier Personenverkehr (Art. 45-55 AEUV)
  • Dienstleistungsfreiheit (Art. 56-62 AEUV)
  • Freier Kapital- und Zahlungsverkehr (Art. 63-66 AEUV)

Diese Grundfreiheiten verpflichten die Mitgliedstaaten zu einem Abbau von Handelshemmnissen und Diskriminierungen zwischen den Unionsbürgern.

Wettbewerbsrecht

Das Wettbewerbsrecht der Europäischen Union ist in den Art. 101 ff. AEUV kodifiziert und verbietet wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen, den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung und bestimmte Zusammenschlüsse.

Politiken und Maßnahmen

Der AEUV normiert detailliert die gemeinsamen Politiken auf verschiedenen Gebieten, darunter Landwirtschaft, Fischerei, Handel, Energie, Verkehr, Gesundheit, Verbraucherschutz, Umwelt, Forschung, Raumfahrt und Kohäsionspolitik. Jede dieser Politiken wird durch spezifische Rechtsgrundlagen im Vertrag geregelt, welche die Zuständigkeiten der EU definieren und das Verhältnis zu den Mitgliedstaaten bestimmen.

Auswärtiges Handeln

Teil V AEUV regelt das auswärtige Handeln der Union, insbesondere die Gemeinsame Handelspolitik, Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe und die Zusammenarbeit mit Drittstaaten und internationalen Organisationen.

Organe und Verfahren nach dem AEUV

Institutionelle Bestimmungen

Der AEUV beschreibt detailliert die Struktur, Arbeitsweise und Zuständigkeiten der wichtigsten Organe der EU:

  • Europäisches Parlament (Art. 223-234 AEUV)
  • Europäischer Rat (Art. 235-236 AEUV)
  • Rat der Europäischen Union (Art. 237-243 AEUV)
  • Europäische Kommission (Art. 244-250 AEUV)
  • Gerichtshof der Europäischen Union (Art. 251-281 AEUV)
  • Europäische Zentralbank (Art. 282-284 AEUV)
  • Rechnungshof (Art. 285-287 AEUV)

Hierbei werden jeweils Zusammensetzung, Ernennung, Amtszeit sowie wesentliche Befugnisse und Entscheidungsverfahren festgelegt.

Gesetzgebungsverfahren

Der Vertrag unterscheidet zwischen dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art. 289 AEUV) – als Regelfall – und den besonderen Gesetzgebungsverfahren, die für spezifische Sachbereiche vorgesehen sind. Das ordentliche Verfahren sieht insbesondere die gleichberechtigte Mitentscheidung von Parlament und Rat vor.

Finanzverfassung

Im Teil VI enthält der AEUV Regelungen zur Haushaltsführung sowie zu den Einnahmen und Ausgaben der Europäischen Union.

Auslegung und Kontrolle: Rolle des EuGH

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist gemäß Art. 267 AEUV für die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts, einschließlich des AEUV, zuständig. Die nationalen Gerichte können dem EuGH Vorabentscheidungsfragen zu Auslegungsproblemen vorlegen. Zudem überprüft der Gerichtshof die Rechtmäßigkeit von Handlungen der EU-Organe und gewährleistet so die Kohärenz und Wirksamkeit des europäischen Primärrechts.

Reform und Änderung des AEUV

Änderung des Vertrags

Eine Änderung des AEUV ist im vereinfachten oder im ordentlichen Verfahren nach Art. 48 EUV möglich. Vertragsänderungen bedürfen grundsätzlich der einstimmigen Zustimmung aller Mitgliedstaaten und treten nach entsprechender Ratifizierung in Kraft.

Bedeutung für die Entwicklung der Europäischen Union

Der AEUV unterliegt einem stetigen Anpassungsprozess, um auf sich verändernde politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Herausforderungen reagieren zu können. Er bildet das Fundament für eine kontinuierliche Fortentwicklung und Vertiefung der europäischen Integration.

Literatur und weiterführende Hinweise

Der AEUV gilt als eines der zentralen Dokumente des modernen europäischen Verfassungsrechts und ist in sämtlichen Amtssprachen der EU veröffentlicht. Die fortlaufende Kommentierung, wissenschaftliche Analyse und gerichtliche Auslegung sorgen für eine ständige Weiterentwicklung und Anpassung an die aktuellen Anforderungen des europäischen Zusammenlebens.


Siehe auch:

  • Vertrag über die Europäische Union (EUV)
  • Recht der Europäischen Union
  • Europäischer Gerichtshof (EuGH)
  • Entwicklung der Europäischen Union

Häufig gestellte Fragen

Wann findet der AEUV im Verhältnis zum nationalen Recht Anwendung?

Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) kommt im Verhältnis zum nationalen Recht immer dann zur Anwendung, wenn ein Sachverhalt einen sogenannten „Unionsbezug“ aufweist. Das bedeutet, dass das betreffende nationale Recht in den Anwendungsbereich des AEUV fällt, also eine Materie betrifft, die auf EU-Ebene harmonisiert oder unionsrechtlich geregelt ist. Grundsätzlich ist nach dem Prinzip des Anwendungsvorrangs das Unionsrecht – und damit der AEUV – dem nationalen Recht in Fällen des Konflikts übergeordnet. Dies bedeutet, dass nationale Vorschriften, die mit Bestimmungen des AEUV unvereinbar sind, unangewendet bleiben müssen. Die nationalen Gerichte sind nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) verpflichtet, etwaige Kollisionen zugunsten des AEUV aufzulösen. Dies gilt insbesondere bei der Durchsetzung der vier Grundfreiheiten (Warenverkehr, Personenfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit und Kapitalverkehr) sowie im Zusammenhang mit Wettbewerbsrecht, Beihilferecht oder sonstigen unionsrechtlich geregelten Bereichen. Nicht erfasst werden hingegen reine Inlandssachverhalte (ohne grenzüberschreitenden Bezug), auf die ausschließlich nationales Recht ohne Bezug zum AEUV angewendet wird.

Welche Rolle spielt der AEUV im System der europäischen Grundfreiheiten?

Der AEUV bildet die rechtliche Grundlage für die sogenannten vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes, namentlich die Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 ff. AEUV), die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 ff. AEUV), die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 ff. AEUV) sowie die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 ff. AEUV) und den freien Kapital- und Zahlungsverkehr (Art. 63 ff. AEUV). Diese Bestimmungen dienen dazu, nationale Hindernisse und Diskriminierungen innerhalb des EU-Binnenmarktes weitgehend zu beseitigen. Der EuGH hat durch seine Rechtsprechung dazu beigetragen, das Verständnis und die Tragweite dieser Freiheiten zu konkretisieren und den Mitgliedstaaten verbindliche Vorgaben für deren Umsetzung gemacht. Der AEUV enthält auch detaillierte Vorschriften zu möglichen Beschränkungen und deren Rechtfertigung, beispielsweise aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit, und zu zulässigen Ausnahmen. Die Grundfreiheiten sind unmittelbar anwendbar und können von Einzelpersonen und Unternehmen vor nationalen Gerichten geltend gemacht werden.

Inwiefern ist der AEUV unmittelbar anwendbar und welche Bedeutung hat dies für den Einzelnen?

Viele Bestimmungen des AEUV sind „unmittelbar anwendbar“ (self-executing), d.h. sie begründen subjektive Rechte und Pflichten für Einzelne oder Unternehmen, ohne dass es einer weiteren Umsetzung in nationales Recht bedarf. Voraussetzung hierfür ist, dass die Norm hinreichend klar, bestimmt und unbedingt ist. Der EuGH hat dieses Prinzip in seiner Grundsatzrechtsprechung festgelegt. Für den Einzelnen bedeutet dies, dass er sich direkt auf einzelne Vorschriften des AEUV vor nationalen Gerichten berufen kann, sofern diese Voraussetzungen erfüllt sind. Dies gilt etwa für die Diskriminierungsverbote in Bezug auf die vier Grundfreiheiten oder das Beihilfenverbot in Art. 107 AEUV. Die nationalen Gerichte wiederum sind verpflichtet, solchen Vorschriften Anwendung zu verschaffen und gegebenenfalls kollidierendes nationales Recht unangewendet zu lassen.

Welche Kontrollmechanismen sieht der AEUV bei Verstößen von Mitgliedstaaten gegen das Unionsrecht vor?

Der AEUV sieht in den Artikeln 258 ff. ein eigenständiges Vertragsverletzungsverfahren vor, das es der Europäischen Kommission – und unter bestimmten Voraussetzungen auch den Mitgliedstaaten – ermöglicht, Verstöße gegen das Unionsrecht zu verfolgen. Zunächst wird ein Vorverfahren durchgeführt, in dem der betreffende Mitgliedstaat zur Stellungnahme aufgefordert wird. Kommt keine Einigung zustande, kann die Kommission den Fall vor den EuGH bringen. Stellt dieser eine Vertragsverletzung fest, ist der Mitgliedstaat verpflichtet, diese zu beheben. Kommt er dem nicht nach, kann der EuGH auf Antrag der Kommission finanzielle Sanktionen verhängen (Art. 260 AEUV). Dies gewährleistet die einheitliche Anwendung und Durchsetzung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten.

Wie regelt der AEUV die Rechtsetzung und die Zuständigkeiten der Organe der Europäischen Union?

Im AEUV sind die zentralen Verfahren zur Rechtsetzung in der EU geregelt. Hauptverfahrensformen sind das ordentliche Gesetzgebungsverfahren (Art. 294 AEUV), bei dem Parlament und Rat gemeinsam Gesetze erlassen, und das besondere Gesetzgebungsverfahren, bei dem z.B. der Rat alleine oder mit erhöhter Mitwirkung der Kommission entscheidet. Der AEUV legt neben den jeweiligen Verfahren auch die Materien fest, in denen die EU entweder ausschließliche oder geteilte Zuständigkeiten besitzt. In den Bereichen ausschließlicher Zuständigkeit (z. B. Zollunion, Wettbewerb) darf nur die EU Regelungen treffen, während bei geteilter Zuständigkeit (z. B. Binnenmarkt, Umwelt, Verbraucherschutz) beide Ebenen tätig werden können, wobei das Vorrangprinzip gilt, falls die EU tätig geworden ist. Daneben legt der AEUV die Kompetenzen der zentralen Organe – insbesondere der Kommission, des Rates, des Europäischen Parlaments, des Gerichtshofs und der Europäischen Zentralbank – im Einzelnen fest.

Wie ist das Verhältnis zwischen AEUV und dem Vertrag über die Europäische Union (EUV)?

Der Vertrag über die Europäische Union (EUV) und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) bilden gemeinsam die sogenannte „Verfassungsgrundlage“ der EU und sind in einem engen, komplementären Verhältnis zueinander zu verstehen. Der EUV enthält die grundlegenden Prinzipien, Werte sowie allgemeine Zielsetzungen und Organisationsstrukturen der EU, während der AEUV die materiellen und institutionellen Einzelheiten regelt. So regelt der AEUV insbesondere den Binnenmarkt, Kompetenzverteilung, Politikbereiche sowie das Verfahren der Rechtssetzung und das Justizsystem der Europäischen Union. Bei Widersprüchen oder Auslegungsschwierigkeiten ist eine unionsrechtskonforme, systematische Interpretation beider Verträge erforderlich. Aufbauend auf den Zielen und Vorgaben des EUV finden die eher technischen, detaillierten Bestimmungen des AEUV Anwendung. Die Charta der Grundrechte (GRCh) ergänzt beide Verträge um grundrechtliche Aspekte.