Hintergrund und Bedeutung der Entscheidung im Wirecard-Komplex
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat im Zusammenhang mit dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Wirecard-Affäre mit Beschluss vom 16. Februar 2021 (Az. StB 43/20, StB 44/20 sowie StB 48/20) zentrale Grundsatzfragen zur Schweigepflicht von Berufsträgern und deren Entbindung im Kontext parlamentarischer Untersuchungen geklärt. Die Entscheidung betrifft maßgebliche Bereiche wie das Zeugnisverweigerungsrecht, die Schweigepflicht sowie deren Grenzen und mögliche Entbindungen, insbesondere im Spannungsfeld zwischen dem öffentlichen Aufklärungsinteresse und den Rechten Dritter.
Ausgangspunkt: Ermittlungen und Schutzpflichten
Nach dem spektakulären Zusammenbruch der Wirecard AG und den damit verbundenen strafrechtlichen sowie regulatorischen Untersuchungen richtete der Deutsche Bundestag einen Untersuchungsausschuss ein, um Vorgänge und Verantwortlichkeiten umfassend zu beleuchten. Im Rahmen der Beweisaufnahme wurden unterschiedlichste Zeugen geladen, darunter auch Personen, die aus dienstlichen oder beruflichen Gründen einer besonderen Verschwiegenheitspflicht unterliegen – etwa Organmitglieder, Compliance-Beauftragte oder Aufsichtsratspersonen.
Zentraler Konflikt war hier die Frage, ob und inwieweit eine wirksame Entbindung von der Schweigepflicht durch dazu legitimierte Gremien oder Organe, wie beispielsweise den Vorstand einer Gesellschaft oder einen Insolvenzverwalter, möglich und ausreichend ist, um die erbetene Aussagepflicht zu begründen und somit die Aussage vor dem Ausschuss rechtssicher zu ermöglichen.
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs
Abwägung zwischen Zeugnisverweigerungsrecht und Aufklärungspflicht
Der BGH hat in seinem Beschluss deutlich gemacht, dass das grundsätzliche Zeugnisverweigerungsrecht für zum Schweigen verpflichtete Personen nach § 53 der Strafprozessordnung (StPO) unter bestimmten Voraussetzungen aufgehoben werden kann. Voraussetzung dafür ist, dass der zur Verschwiegenheit verpflichtete Personenkreis eine wirksame und rechtskonforme Entbindung erhält. Diese Entbindung muss von der tatsächlich zur Vertretung und zur Befreiung berechtigten Instanz erfolgen, wie zum Beispiel dem verwaltungs- oder gesellschaftsrechtlich bestellten Vertretungsorgan, dem bestellten Insolvenzverwalter bei Gesellschaften in Insolvenz oder etwaigen anderen vom Gesetzgeber vorgesehenen befugten Stellen.
Anforderungen an eine wirksame Entbindung
Für eine ordnungsgemäße Befreiung von der Schweigepflicht müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
- Die Entbindung muss durch das aktuell zuständige Organ oder die rechlich ermächtigte Instanz erfolgen; bei Gesellschaften nach Insolvenz ist dies regelmäßig der Insolvenzverwalter.
- Die Erklärungen zur Entbindung bedürfen keiner besonderen Form, solange sie transparent und nachvollziehbar dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss vorgelegt und von diesem überprüfbar dokumentiert werden.
- Liegt eine ordnungsgemäße Entbindung vor, entfällt das Zeugnisverweigerungsrecht; die Entpflichtung ist wirksam.
Schutz weiterhin bestehender Individualrechte
Der BGH betont zugleich, dass auch bei Vorliegen einer Entbindung von der Schweigepflicht weitere Rechte – insbesondere Datenschutz, Persönlichkeitsrechte sowie gegebenenfalls Sperrerklärungen nach § 96 StPO und Art. 10 GG – zu achten sind. In strafprozessualen und auch parlamentarischen Ermittlungen greift daher keine absolute Offenbarungspflicht.
Konkrete Auswirkungen im Kontext des Wirecard-Ausschusses
Bedeutung für die Praxis der Untersuchungsausschüsse
Die Entscheidung liefert für die Praxis eine bedeutsame Orientierung: Sie ermöglicht es Untersuchungsausschüssen künftig öfter, Auskünfte von ursprünglich zur Verschwiegenheit verpflichteten Zeugen zu erhalten, sofern klare und formgerechte Entbindungen vorliegen. Gleichzeitig bleibt es aber beim Vorrang der jeweiligen schutzwürdigen Rechte Dritter, an deren Integrität parlamentarische Untersuchungen grundsätzlich gebunden sind.
Zulässigkeit der gewonnenen Aussagen
Im konkreten Fall bestätigte der BGH, dass die durch den Insolvenzverwalter und die aktuellen Vertreter der Wirecard AG erteilte Entbindung ausreichend war, Zeugen wirksam von ihrer Schweigepflicht zu befreien. Die auf dieser Grundlage erhobenen Aussagen konnten somit als zulässig verwertet werden, wogegen eingebrachte Einwände der Zeugen keinen Bestand hatten.
Bewertung und rechtlicher Rahmen
Die Entscheidung fügt sich in die Grundsätze der Strafprozessordnung und des Gesellschaftsrechts ein und konkretisiert die Kontrollbefugnisse und Prüfungspflichten von Sondergremien, wie sie insbesondere nach Unternehmensskandalen wie Wirecard gebildet werden. Sie klärt praxisrelevante Fragestellungen zu Schnittstellen von Unternehmensinsolvenz, Beweisrecht und Datenschutz – und setzt Maßstäbe für die Transparenz von Aufklärungsprozessen in Wirtschaftsstrafsachen.
Quellenhinweis und laufende Entwicklungen
Es ist darauf hinzuweisen, dass die strafrechtlichen und zivilrechtlichen Verfahren im Zusammenhang mit dem Wirecard-Komplex zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des BGH-Beschlusses weiterhin andauern. Die damit einhergehende Unschuldsvermutung für betroffene Personen bleibt deshalb ausdrücklich bestehen. Die dargestellten Inhalte beziehen sich auf die veröffentlichten Beschlüsse des Bundesgerichtshofs (abrufbar unter: https://urteile.news/BGH_StB-4320StB-4420-und-StB-4820_Entbindungen-von-der-Schweigepflicht-gegenueber-dem-Wirecard-Untersuchungsausschuss-wirksam~N29846).
Bei Fragen oder Unsicherheiten zu zeugnisrelevanten Pflichten, Entbindungen von der Schweigepflicht oder weiteren Aspekten rund um unternehmensbezogene Ermittlungen kann es für Betroffene und Verantwortliche hilfreich sein, qualifizierte rechtsberatende Unterstützung in Anspruch zu nehmen. MTR Legal Rechtsanwälte verfügen über umfangreiche Erfahrungen in komplexen gesellschafts- und kapitalmarktrechtlichen Fragestellungen und stehen bei Bedarf gerne als Ansprechpartner zur Verfügung.