Legal Lexikon

Wiki»Legal Lexikon»Vertragsrecht»Vorvertragliches Schuldverhältnis

Vorvertragliches Schuldverhältnis


Vorvertragliches Schuldverhältnis

Begriff und Rechtsgrundlage

Ein vorvertragliches Schuldverhältnis beschreibt im deutschen Zivilrecht ein Rechtsverhältnis, das zwischen Parteien entsteht, wenn diese in Vertragsverhandlungen eintreten, ohne dass bereits ein verbindlicher Vertrag abgeschlossen wurde. Das vorvertragliche Schuldverhältnis begründet dabei wechselseitige Rechte und Pflichten, insbesondere Schutzpflichten, auch wenn ein endgültiger Vertragsschluss später scheitert oder nicht erfolgt.

Die Rechtsgrundlage hierfür findet sich in § 311 Abs. 2 und Abs. 3 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). Ergänzt werden diese Normen durch § 241 Abs. 2 BGB, der die Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils normiert.

Entstehung des vorvertraglichen Schuldverhältnisses

Das vorvertragliche Schuldverhältnis entsteht im Regelfall durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen oder die Anbahnung eines Vertrages. Bereits das ernstliche Interesse an einem Vertragsabschluss und die Aufnahme entsprechender Gespräche genügen für die Begründung eines solchen Verhältnisses.

Nach § 311 Abs. 2 BGB entsteht das vorvertragliche Schuldverhältnis durch

  • die Aufnahme von Vertragsverhandlungen,
  • die Anbahnung eines Vertrags, bei der eine Partei im Hinblick auf eine etwaige vertragliche Beziehung den anderen Teil in dessen Geschäftsbetrieb oder in eine Verhandlungsumgebung einbezieht (z.B. das Betreten eines Geschäftslokals),
  • oder durch sonstige geschäftliche Kontakte, durch die eine intensive vertragsähnliche Beziehung entsteht.

Wird ein Vertreter für eine Partei tätig und gibt sich dieser als Vertreter zu erkennen, so kommt das vorvertragliche Schuldverhältnis in der Regel mit dem Vertretenen zustande (§ 311 Abs. 3 BGB).

Typische Anwendungsfälle

  • Vorverhandlungen zwischen Kaufinteressenten und einem Verkäufer
  • Besichtigung einer Immobilie oder eines Fahrzeugs mit anschließender Beratung
  • Einholung von Angeboten im Rahmen einer Ausschreibung

Inhalt und Pflichten des vorvertraglichen Schuldverhältnisses

Das vorvertragliche Schuldverhältnis verpflichtet die Parteien insbesondere zur Beachtung sogenannter Schutzpflichten. Die wichtigste Vorschrift hierzu ist § 241 Abs. 2 BGB, der verlangt, dass sich die Parteien gegenseitig so verhalten, dass das Rechtsgut des anderen nicht beeinträchtigt wird.

Aufklärungspflichten

Im Rahmen eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses besteht eine Pflicht zur wahrheitsgemäßen Aufklärung über alle wesentlichen Umstände, die für die Willensbildung der anderen Partei von Bedeutung sind. Diese Pflicht umfasst etwa die Offenlegung von Mängeln oder Risiken, die für den Vertragsgegenstand wesentlich sind.

Rücksichtnahme- und Sorgfaltspflichten

Jede Partei muss im Rahmen der Vertragsverhandlungen Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen der anderen Partei nehmen. Es besteht die Verpflichtung, keine Gefahrenquellen zu schaffen oder zu verschweigen, die zu Schäden bei der anderen Partei führen könnten.

Verschwiegenheitspflichten

Informationen, die im Zuge der Vertragsanbahnung bekannt werden, dürfen nicht zu Nachteil der anderen Partei verwendet werden. So besteht beispielsweise eine Pflicht zur vertraulichen Behandlung von Geschäfts­geheimnissen.

Haftung bei Pflichtverletzung

Verletzt eine Partei die ihr obliegenden Pflichten aus dem vorvertraglichen Schuldverhältnis, kann sie unter Umständen zur Haftung auf Schadensersatz verpflichtet sein. Die Anspruchsgrundlage hierfür ergibt sich regelmäßig aus § 280 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 311 Abs. 2 oder 3, sowie § 241 Abs. 2 BGB.

Voraussetzungen der Haftung

Eine Haftung besteht dann, wenn

  1. ein vorvertragliches Schuldverhältnis entstanden ist,
  2. eine Pflichtverletzung aus diesem Schuldverhältnis vorliegt
  3. hierdurch ein Schaden eintritt,
  4. und kein Haftungsausschluss greift (z.B. bei Mitverschulden gemäß § 254 BGB).

Die Haftung aus dem vorvertraglichen Schuldverhältnis wird als sogenannte Culpa in Contrahendo (c.i.c.) bezeichnet.

Schadensarten und Umfang

Typische Schadenspositionen sind:

  • Ersatz von Aufwendungen, die im Vertrauen auf einen Vertragsschluss getätigt wurden
  • Ersatz von Vermögensschäden durch falsche Aufklärung oder unterlassene Hinweise (z.B. verdeckte Mängel)
  • Ersatz sonstiger Schäden, die durch eine Verletzung der Rücksichtnahmepflichten entstanden sind

Abgrenzung zum Vertrag und zu anderen Rechtsinstituten

Das vorvertragliche Schuldverhältnis unterscheidet sich vom eigentlichen Vertrag durch das Fehlen einer Einigung über alle wesentlichen Vertragsbestandteile. Es ist daher als ein Rechtsverhältnis eigener Art zu verstehen, das neben dem eigentlichen Schuldverhältnis aus dem Vertrag besteht oder diesem vorausgeht.

Das vorvertragliche Schuldverhältnis ist zudem abzugrenzen von geschäftsähnlichen Handlungen und von einseitigen Willenserklärungen wie dem Angebot, die noch nicht zu gegenseitigen Pflichten führen.

Beendigung des vorvertraglichen Schuldverhältnisses

Das vorvertragliche Schuldverhältnis endet regelmäßig

  • mit Abschluss des Hauptvertrages, da dann das eigentliche Vertragsschuldverhältnis eintritt,
  • mit dem endgültigen Abbruch der Vertragsverhandlungen durch eine oder beide Parteien,
  • oder durch sonstige Umstände, die erkennen lassen, dass kein Vertrag mehr geschlossen werden soll.

Mit Beendigung des vorvertraglichen Schuldverhältnisses entfallen die wechselseitigen Schutz- und Rücksichtnahmepflichten, bestehende Schadensersatzansprüche bleiben jedoch bestehen.

Rechtsfolgen eines Verstoßes

Kommt es zu einer Pflichtverletzung im Rahmen des vorvertraglichen Schuldverhältnisses, können die Geschädigten nach den allgemeinen Vorschriften des BGB Schadensersatz verlangen. Dabei kann Anspruch auf Rückzahlung von Aufwendungen, Ersatz von entstandenen Schäden oder im Einzelfall auf weitere Entschädigungsleistungen bestehen.

Literaturhinweise und weiterführende Informationen

  • Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), insbesondere §§ 241, 280, 311 BGB
  • Palandt, BGB-Kommentar
  • Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch
  • MüKoBGB, Münchener Kommentar zum BGB

Zusammenfassung:
Das vorvertragliche Schuldverhältnis ist ein zentraler Begriff im deutschen Zivilrecht und bildet die Grundlage für wechselseitige Schutzpflichten bereits während der Anbahnung eines Vertrages. Seine Bedeutung liegt vor allem darin, einen angemessenen Ausgleich bei Schäden zu schaffen, die durch Pflichtverletzungen während der Vertragsanbahnung entstehen – unabhängig davon, ob der Vertrag schließlich zustande kommt oder nicht.

Häufig gestellte Fragen

Welche Pflichten ergeben sich aus einem vorvertraglichen Schuldverhältnis?

Aus einem vorvertraglichen Schuldverhältnis gemäß §§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB entstehen insbesondere sogenannte Schutz-, Sorgfalts- und Aufklärungspflichten. Diese Pflichten verlangen von den Parteien, sich bereits vor Abschluss eines Vertrags rücksichtsvoll zu verhalten und jedwede Schädigung des potentiellen Vertragspartners zu vermeiden. Typische Beispiele sind die Pflicht zur wahrheitsgemäßen Information über vertragsrelevante Umstände, die Pflicht zur Unterlassung irreführender Angaben sowie die Verpflichtung, erhebliche Risiken, die die Vertragsdurchführung bedrohen könnten, offen zu legen. Auch zählt die Pflicht, keine Gefahrenquellen auf dem eigenen Grundstück zu schaffen oder zu dulden, zu diesen Pflichten. Ein Verstoß kann Schadensersatzansprüche nach sich ziehen, auch wenn der eigentliche Vertrag später nicht zustande kommt.

Wann entsteht ein vorvertragliches Schuldverhältnis?

Ein vorvertragliches Schuldverhältnis entsteht regelmäßig in dem Moment, in dem ernsthafte Vertragsverhandlungen aufgenommen werden oder ein Geschäftskontakt durch eine solche Anbahnung entsteht, etwa durch die Aufnahme von Vertragsgesprächen, das Übersenden eines Angebots oder die Besichtigung einer zum Verkauf stehenden Immobilie. Entscheidend ist, dass einer Partei durch das Verhalten der anderen Partei ein besonderer Vertrauenstatbestand geschaffen wird, der über bloßes Interesse hinausgeht. Nach § 311 Abs. 2 BGB sind hierfür nicht zwingend formelle Vertragserklärungen nötig; auch vorbereitende Gespräche oder konkrete Anfragehandlungen können ausreichend sein.

Welche Rechtsfolgen hat eine Pflichtverletzung im vorvertraglichen Schuldverhältnis?

Bei einer Verletzung von Pflichten aus einem vorvertraglichen Schuldverhältnis haftet die schuldhafte Partei grundsätzlich auf Schadensersatz nach § 280 Abs. 1 BGB. Dies bedeutet, der Geschädigte ist so zu stellen, wie er stünde, wenn ein schädigendes Verhalten nicht erfolgt wäre. Häufig umfasst dies die Erstattung von Vertrauenskosten, etwa für vergebliche Vorbereitungsmaßnahmen oder entgangene Chancen anderweitiger Vertragsanbahnung. Zu beachten ist, dass der Anspruch nicht auf Erfüllung des ursprünglich geplanten Vertrags gerichtet ist, sondern auf den Ausgleich des erlittenen Schadens durch die Pflichtverletzung vor Vertragsschluss.

Kann ein vorvertragliches Schuldverhältnis auch ohne persönlichen Kontakt entstehen?

Ja, ein vorvertragliches Schuldverhältnis kann auch ohne physischen oder persönlichen Kontakt entstehen, insbesondere durch die Aufnahme von Verhandlungen per Telefon, E-Mail oder anderen elektronischen Kommunikationsmitteln. Entscheidend ist das Zustandekommen eines geschäftlichen Kontaktes, bei dem die Möglichkeit der Beeinflussung rechtlich geschützter Interessen besteht. Auch durch das Bereitstellen von Waren in einem Selbstbedienungsladen oder das Einstellen von Angeboten im Internet kann ein solches Schuldverhältnis generiert werden, sobald eine Partei zur Teilnahme am Vertragsschluss eingeladen wird.

Gilt das vorvertragliche Schuldverhältnis auch für mehrseitige Vertragsverhältnisse?

Das vorvertragliche Schuldverhältnis findet nicht nur im klassischen Zweipersonenverhältnis Anwendung, sondern auch im Rahmen von mehrseitigen Verträgen, wie etwa bei Gesellschaftsverträgen oder im Kontext von Ausschreibungsverfahren. Alle an den Verhandlungen Beteiligten können Schutzpflichten gegenüber den übrigen Parteien treffen. Diese Pflichtenkonstellation erstreckt sich sogar auf Personen, die nicht unmittelbar Vertragspartei werden sollen, sofern sie in besonderer Weise in die Vertragsanbahnung eingebunden sind und Vertrauenstatbestände gesetzt oder Schutzbedürfnisse ausgelöst werden.

Gibt es Besonderheiten beim vorvertraglichen Schuldverhältnis im Arbeitsrecht?

Im Arbeitsrecht ergeben sich besondere Schutzmechanismen aus dem vorvertraglichen Schuldverhältnis – etwa bei Bewerbungsgesprächen oder im Rahmen von Auswahlverfahren. Hier ist der Arbeitgeber verpflichtet, den Bewerber über Umstände aufzuklären, die für das Arbeitsverhältnis von wesentlicher Bedeutung sind, beispielsweise über geplante Betriebsstilllegungen. Ebenso sollen die Datenschutzrechte beachtet werden, insbesondere bei der Erhebung und Speicherung von Bewerberdaten. Eine Verletzung dieser Pflichten kann zu Schadensersatzbzw. Entschädigungsansprüchen, etwa nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG), führen.

Können vorvertragliche Schuldverhältnisse durch Allgemeine Geschäftsbedingungen beeinflusst werden?

Ja, Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) können vorvertragliche Schuldverhältnisse beeinflussen, insbesondere indem sie bestimmte Informations- oder Verhaltenspflichten regeln bzw. modifizieren. Es gilt jedoch, dass AGB-rechtliche Kontroll- und Transparenzvorschriften sowie das Recht der unangemessenen Benachteiligung nach §§ 305 ff. BGB greifen. Unwirksame Klauseln, die etwa die Haftung für Pflichtverletzungen im Rahmen des vorvertraglichen Schuldverhältnisses generell ausschließen, sind nicht zulässig. Zudem dürfen AGB die wesentlichen Kernpflichten nicht aushöhlen.