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Vertretenmüssen


Begriff und Grundlagen des Vertretenmüssens

Das Vertretenmüssen ist ein zentraler Begriff im deutschen Zivilrecht, insbesondere im Schuldrecht. Es beschreibt die Zurechenbarkeit eines Erfolges oder einer Pflichtverletzung zu einer Person aufgrund ihres eigenen Verhaltens oder bestimmter Umstände, für die sie einzustehen hat. Die rechtliche Relevanz des Vertretenmüssens erstreckt sich insbesondere auf das Schadenersatzrecht sowie auf Fragen der Haftung und des Leistungsstörungsrechts.

Definition und Bedeutung

Das Vertretenmüssen bezeichnet die Verantwortlichkeit einer Person für ein Handeln oder Unterlassen, sodass ihr negatives Folgen (wie z.B. Schadensersatzansprüche) zugerechnet werden können. Das BGB verwendet den Begriff hauptsächlich im Kontext der Pflichtverletzung bei Vertragsverhältnissen.

Nach § 276 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) hat der Schuldner Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten, sofern nicht eine strengere oder mildere Haftung gesetzlich bestimmt oder vertraglich vereinbart ist. Das Vertretenmüssen beschreibt somit die subjektive Voraussetzung für eine Haftung neben der objektiven Pflichtverletzung.

Voraussetzungen und Umfang des Vertretenmüssens

Verschulden als Grundlage

Für das Vertretenmüssen ist grundsätzlich Verschulden erforderlich. Hierzu zählen Vorsatz (das Wissen und Wollen eines pflichtwidrigen Erfolgs) sowie Fahrlässigkeit (das Außerachtlassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt). Beide Begriffe sind gesetzlich definiert: Vorsatz in § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB, Fahrlässigkeit in § 276 Abs. 2 BGB.

Verschuldensunabhängiges Vertretenmüssen

Einige Vorschriften knüpfen das Vertretenmüssen nicht nur an persönliches Verschulden, sondern weiten es auf weitere Bereiche aus. Nach § 278 BGB muss zum Beispiel der Schuldner auch für das Verschulden gesetzlicher Vertreter und Erfüllungsgehilfen einstehen. In einigen Fällen sieht das Gesetz eine verschuldensunabhängige Haftung (Gefährdungshaftung) oder eine verschärfte Haftung vor.

Vertretenmüssen im Kontext der Leistungsstörungen

Pflichtverletzung nach § 280 BGB

Eine der zentralen Normen, die das Vertretenmüssen thematisieren, ist § 280 BGB. Danach steht dem Gläubiger bei einer Pflichtverletzung Schadensersatz zu, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung zu vertreten hat. Ohne Vertretenmüssen keine Schadensersatzpflicht – das ist ein Grundprinzip im deutschen Schuldrecht.

Beweislast

Auch die Beweislastregelungen sind von Bedeutung: Nach § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB wird das Vertretenmüssen im Zweifel vermutet, der Schuldner muss also darlegen und beweisen, dass ihn kein Verschulden trifft („exkulpieren“).

Besonderheiten bei bestimmten Vertragstypen

Bei speziellen Vertragstypen kann das Vertretenmüssen modifiziert werden:

  • Werkvertrag: Hier bestehen Sonderregelungen zum Vertretenmüssen bezüglich der Mängelhaftung (§ 634 BGB ff.).
  • Kaufvertrag: Nach § 437 Nr. 3 BGB in Verbindung mit §§ 280, 281 BGB wird das Vertretenmüssen beim Schadensersatz wegen Pflichtverletzung relevant.

Ausschluss und Beschränkung des Vertretenmüssens

Das Vertretenmüssen kann durch Vertrag ausgeschlossen oder zugunsten einer Partei beschränkt werden, soweit keine zwingenden rechtlichen Vorschriften entgegenstehen (z.B. § 309 Nr. 7 BGB zum Haftungsausschluss für Verletzung von Leben, Körper oder Gesundheit).

Rechtsfolgen des Vertretenmüssens

Schadensersatzpflicht

Das zentrale Rechtsfolgenregime bei vom Schuldner zu vertretender Pflichtverletzung ist die Schadensersatzpflicht. Nur bei objektiver Pflichtverletzung und gleichzeitigem Vertretenmüssen entsteht der Anspruch auf Schadensersatz neben oder statt der Leistung.

Rücktritt und Rückabwicklung

Daneben kann das Vertretenmüssen auch Einfluss auf weitere Rechtsfolgen im Schuldverhältnis haben, etwa auf das Rücktrittsrecht (§ 323 BGB) oder die Geltendmachung von Verzugszinsen (§ 286 BGB).

Vertretenmüssen von Dritten

Haftung für Erfüllungsgehilfen und Verrichtungsgehilfen

Gemäß § 278 BGB muss der Schuldner das Verschulden von Erfüllungsgehilfen wie eigenes Verschulden gegen sich gelten lassen. Erfüllungsgehilfe ist, wer mit Wissen und Wollen des Schuldners in dessen Pflichtenkreis tätig wird.

Im Unterschied dazu regelt § 831 BGB die Haftung des Geschäftsherrn für Verrichtungsgehilfen; hier ist jedoch ein eigenes Auswahl- oder Überwachungsverschulden erforderlich.

Ausschlussgründe und Entlastung vom Vertretenmüssen

Unmöglichkeit und Zufall

Nach § 275 BGB ist der Schuldner von der Leistungspflicht befreit, wenn die Leistung unmöglich ist. Ein Vertretenmüssen entfällt auch dann, wenn die Leistung durch einen von niemandem zu vertretenden Umstand („Zufall“) unmöglich wurde (§ 275 Abs. 1 BGB, § 326 BGB).

Selbstverschulden des Gläubigers

Hat der Gläubiger den Schaden (ganz oder teilweise) selbst zu vertreten, kann dies gemäß § 254 BGB zur Minderung oder zum Ausschluss von Schadensersatzansprüchen führen (Mitverschulden).

Zusammenfassung

Das Vertretenmüssen ist ein zentrales Konzept des deutschen Zivilrechts. Es erfasst die subjektive Verantwortlichkeit für Pflichtverletzungen und ist vielfach Voraussetzung für die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen. Die gesetzlichen Regelungen umfassen verschiedene Haftungsbereiche, die von der eigenen Pflichtverletzung über die Haftung für Dritte bis hin zum Ausschluss der Haftung reichen. In allen Anwendungsbereichen ist das Vertretenmüssen geprägt vom Gedanken der Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit innerhalb zivilrechtlicher Schuldverhältnisse.

Häufig gestellte Fragen

Welche Rolle spielt das Vertretenmüssen bei der Haftung für Schadensersatz?

Das Vertretenmüssen ist ein zentrales Kriterium bei der Haftung für Schadensersatz im Zivilrecht, insbesondere nach § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB. Nur wenn der Schuldner einen Pflichtverstoß zu vertreten hat, entsteht grundsätzlich eine Schadensersatzpflicht. Das bedeutet, dass neben einer Pflichtverletzung auch geprüft werden muss, ob den Schuldner im Sinne von Verschulden, d.h. Vorsatz oder Fahrlässigkeit, ein Vorwurf trifft. Dieser Verschuldensbegriff wird dabei in den §§ 276 und 278 BGB näher konkretisiert. Darüber hinaus wird unter Vertretenmüssen auch die Zurechnung von Verschulden Dritter betrachtet, etwa Erfüllungsgehilfen. Liegt kein Vertretenmüssen vor, zum Beispiel weil ein unverschuldeter Leistungshinderungsgrund vorliegt, entfällt die Schadensersatzpflicht. Das Vertretenmüssen ist somit stets eine eigene und detailliert zu prüfende Voraussetzung für Ansprüche auf Ersatz des entstandenen Schadens.

Wie gestaltet sich die Beweislast beim Vertretenmüssen?

Im Rahmen von Schadensersatzansprüchen nach § 280 Abs. 1 BGB wird zugunsten des Gläubigers eine Beweislastumkehr statuiert: Der Schuldner muss im Streitfall darlegen und beweisen, dass er die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat. Das bedeutet, nicht der Gläubiger muss das Verschulden des Schuldners beweisen, sondern der Schuldner muss seine Exkulpation, also den Nachweis fehlenden Verschuldens, erbringen. Wird ihm dies nicht gelingen, bleibt es bei der Haftung für Schadensersatz. Diese Regelung dient dem Schutz des Gläubigers, da es oftmals schwierig ist, die genauen Umstände einer Pflichtverletzung zu erkennen oder zu belegen.

Ist das Vertretenmüssen zwingend an ein eigenes Verschulden des Schuldners geknüpft?

Nein, das Vertretenmüssen ist nicht zwingend an ein persönliches Verschulden des Schuldners gebunden. Gemäß § 278 BGB wird dem Schuldner auch ein Verschulden von Erfüllungsgehilfen wie eigenes Verschulden zugerechnet. Ebenso sieht § 831 BGB eine Haftung für Verrichtungsgehilfen unter bestimmten Voraussetzungen vor. Die Haftungszuschreibung erfolgt dabei unabhängig davon, ob der Schuldner selbst die Pflichtverletzung begangen hat oder eine von ihm eingesetzte Hilfsperson. Entscheidend ist lediglich, dass die Pflichtverletzung im Zusammenhang mit der Erfüllung der dem Schuldner obliegenden Verbindlichkeit steht.

Welche Bedeutung hat § 276 BGB für das Vertretenmüssen?

§ 276 BGB regelt den Verschuldensmaßstab und bildet damit die rechtliche Grundlage für das Vertretenmüssen. Nach dieser Vorschrift hat der Schuldner Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten. Fahrlässigkeit ist dabei als das Außerachtlassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt definiert. Der Begriff „Vertretenmüssen“ umfasst damit alle Fälle, in denen dem Schuldner ein schuldhaftes Verhalten – sei es fahrlässig oder vorsätzlich – zur Last fällt. Der § 276 BGB eröffnet jedoch auch die Möglichkeit, die Haftung durch Parteivereinbarung, Gesetz oder Verkehrssitte zu mildern oder zu verschärfen.

Kann das Vertretenmüssen vertraglich ausgeschlossen werden?

Ja, das Vertretenmüssen beziehungsweise die Haftung auf Schadensersatz kann im Rahmen der Privatautonomie durch vertragliche Vereinbarungen beschränkt oder sogar ganz ausgeschlossen werden. Allerdings bestehen Grenzen, etwa im AGB-Recht nach §§ 305 ff. BGB und in Bezug auf grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz, deren Haftung nicht abbedungen werden kann (§ 309 Nr. 7 BGB). Auch einzelne gesetzliche Schuldverhältnisse, wie das Arbeitsrecht oder das Mietrecht, sehen Mindeststandards bezüglich der Haftung vor, sodass eine vollständige Haftungsfreistellung häufig unzulässig ist.

Auf welche Fallgruppen beschränkt sich das Vertretenmüssen, und wann entfällt dieses?

Das Vertretenmüssen beschränkt sich im Regelfall auf Verschulden des Schuldners und Verschulden von Erfüllungsgehilfen. Es entfällt insbesondere, wenn die Pflichtverletzung auf Ursachen zurückzuführen ist, die außerhalb des Einflussbereichs des Schuldners liegen und dieser auch mit größter zumutbarer Sorgfalt die Pflichtverletzung nicht hätte vermeiden können, wie etwa bei höherer Gewalt (z.B. Naturkatastrophen). Auch gesetzliche oder vertragliche Haftungsausschlüsse können zum Entfallen des Vertretenmüssens führen. Schließlich entfällt das Vertretenmüssen, wenn die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen des jeweiligen Schadensersatzanspruchs dies ausdrücklich vorsehen, etwa bei Gefährdungshaftungstatbeständen.

Wie wirkt sich das Vertretenmüssen im Rahmen des Verzugs (§§ 286 ff. BGB) aus?

Im Verzug des Schuldners mit einer Leistung nach §§ 286 ff. BGB ist das Vertretenmüssen ebenfalls Voraussetzung für den Ersatz des Verzugsschadens. Der Schuldner kommt in Verzug, wenn er trotz Fälligkeit und Mahnung die Leistung nicht erbringt und dies zu vertreten hat. Das Gesetz fingiert das Vertretenmüssen im Zweifel, sodass der Schuldner auch hier nachweisen muss, dass ihn am Verzug kein Verschulden trifft. Der Umfang der Ersatzpflicht beim Schuldnerverzug unterscheidet sich allerdings von anderen Schadensersatzansprüchen, weil zusätzliche Verzugsschäden wie Verzugszinsen (§ 288 BGB) selbständig geregelt werden, deren Ersatz grundsätzlich schon mit Eintritt des Verzugs entsteht.