Definition und Bedeutung des Vertragswillens
Der Vertragswille ist ein zentrales Element im Vertragsrecht und bezeichnet das ernsthafte und finale innere Wollen einer Person, eine rechtlich bindende Vereinbarung einzugehen. Er bildet die Grundlage für das Zustandekommen eines Vertrages und ist von der bloßen Erklärung des Willens („Willenserklärung“) zu unterscheiden. Insbesondere im deutschen Zivilrecht wird dem Vertragswillen hohe Bedeutung beigemessen, da ein Vertrag nur dann abgeschlossen ist, wenn übereinstimmende Willenserklärungen der Parteien mit entsprechendem Rechtsbindungswillen vorliegen.
Abgrenzung zu anderen Begriffen
Willenserklärung und Vertragswille
Die Willenserklärung ist die nach außen gerichtete Kundgabe eines bestimmten Willens, die auf die Herbeiführung einer Rechtsfolge gerichtet ist. Der Vertragswille stellt das innere Element dar, während die Willenserklärung dessen äußere Manifestation ist. Für das Zustandekommen eines Vertrages ist erforderlich, dass Angebot und Annahme jeweils in Form einer Willenserklärung mit übereinstimmendem Vertragswillen erfolgen.
Rechtsbindungswille
Der Rechtsbindungswille ist eine spezielle Ausprägung des Vertragswillens und signalisiert den Willen, durch die Willenserklärung eine rechtlich verbindliche Verpflichtung zu begründen. Ein Vertragswille ohne Rechtsbindungswille liegt beispielsweise bei Gefälligkeiten oder bei Einladung zum Kaffee nicht vor. Erst wenn eine Partei den Willen hat, rechtsverbindliche Verpflichtungen einzugehen, ist das Element des Rechtsbindungswillens erfüllt.
Voraussetzungen und Prüfung des Vertragswillens
Objektiver und subjektiver Vertragswille
Die Prüfung des Vertragswillens erfolgt auf zwei Ebenen:
Subjektive Ebene
Auf subjektiver Ebene wird das tatsächliche, innere Wollen der Partei betrachtet. Es geht darum, ob die Partei tatsächlich die Absicht hatte, einen Vertrag mit dem konkret angebotenen Inhalt abzuschließen.
Objektive Ebene
Auf objektiver Ebene wird untersucht, wie die Erklärung und das Verhalten der Partei aus Sicht eines objektiven Dritten zu verstehen sind (§ 133, § 157 BGB). Entscheidend ist damit nicht nur, was die Partei innerlich wollte, sondern auch, wie ihre Erklärung beim Empfänger verstanden werden durfte.
Das Missverhältnis von Wille und Erklärung
Kommt es zu einem Auseinanderfallen von tatsächlichem Willen und abgegebener Erklärung, spricht man von einem „Willensmangel“. Die Konsequenzen richten sich nach den Vorschriften über Anfechtung (§§ 119 ff. BGB) und ggf. über das Zustandekommen des Vertrages aufgrund des objektiv erklärten, aber subjektiv nicht gewollten Inhalts (§ 164 ff. BGB, Vertretung ohne Vertretungsmacht).
Der Vertragswille im Kontext verschiedener Vertragstypen
Im Schuldrecht
Im Schuldrecht ist der Vertragswille Voraussetzung für das Zustandekommen eines Schuldverhältnisses (§ 311 BGB). Fehlt einer der Parteien der Vertragswille, etwa wenn sie sich geirrt, geäußert hat ohne zu wollen, oder zum Schein handelte (§ 117 BGB), liegt kein oder nur ein scheinbarer Vertrag vor.
Bei Verbraucherverträgen und Allgemeinen Geschäftsbedingungen
Im Bereich der Verbraucherverträge und der Verwendung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen kann sich das Vorliegen des Vertragswillens auf die Frage auswirken, welche Klauseln Vertragsbestandteil werden und ob die Verbraucherseite überhaupt den Wunsch hatte, einen Vertrag mit bestimmten Bedingungen abzuschließen.
Rechtliche Folgen des fehlenden oder fehlerhaften Vertragswillens
Anfechtung wegen Irrtums oder Täuschung
War die Willenserklärung nicht vom Vertragswillen getragen, etwa wegen Irrtums (§ 119 BGB), arglistiger Täuschung (§ 123 BGB) oder widerrechtlicher Drohung, kann die Erklärung angefochten werden. Dies führt rückwirkend zur Nichtigkeit des Vertrages (§ 142 BGB).
Schein- und Scherzgeschäfte
Beim Scheingeschäft (§ 117 BGB) stimmen Willenserklärung und tatsächlicher Wille ebenfalls nicht überein; der Vertrag entfaltet keine Rechtswirkung. Beim Scherzgeschäft (§ 118 BGB) fehlt der Wille, eine rechtsverbindliche Erklärung abzugeben, sodass auch hier kein wirksamer Vertrag zustande kommt.
Vertragswille bei der Stellvertretung
Im Rahmen der Stellvertretung (§§ 164 ff. BGB) ist nicht der Wille des Vertreters, sondern der des Vertretenen maßgeblich. Der Vertreter gibt die Willenserklärung im Namen des Vertretenen ab; die Rechtsfolgen treten ein, wenn die Erklärung mit dem Vertragswillen des Vertretenen erfolgt.
Beweislast und Auslegung des Vertragswillens
Beweis des Vertragswillens
Grundsätzlich trägt die Partei, die sich auf das Fehlen des Vertragswillens beruft, die Beweislast. Die Gerichte müssen anhand objektiver Umstände (z. B. Verhalten, Schriftverkehr) feststellen, ob tatsächlich ein entsprechender Willensmangel vorlag.
Auslegung nach §§ 133, 157 BGB
Die Auslegung richtet sich grundsätzlich nach dem objektiven Empfängerhorizont: Für die Auslegung maßgeblicher Willenserklärungen ist zu ermitteln, wie diese von einem verständigen Dritten anstelle des Erklärungsempfängers aufgefasst werden durften.
Vertragswille im internationalen Kontext
Auch im internationalen Vertragsrecht – beispielsweise im UN-Kaufrecht (CISG) – spielt der Vertragswille eine Rolle beim Zustandekommen von Verträgen. Hier gelten inhaltlich ähnliche Grundsätze bezüglich Angebot, Annahme und Rechtsbindungswillen.
Literaturhinweise und weiterführende Informationen
- Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, Kommentierungen zu §§ 104-185 (Willenserklärung und Vertrag)
- BGH-Rechtsprechung zum Rechtsbindungs- und Vertragswillen
- Medicus/Lorenz, Schuldrecht I: Allgemeiner Teil, Abschnitte zur Vertragsauslegung und Willenserklärung
Zusammenfassung
Der Vertragswille ist das entscheidende innere Element für das Zustandekommen eines Vertrags. Er muss sowohl subjektiv gewollt als auch objektiv erkennbar sein und kann bei Fehlen oder Fehlerhaftigkeit erhebliche Rechtsfolgen – z. B. Anfechtbarkeit oder Nichtigkeit des Vertrags – nach sich ziehen. Für die Wirksamkeit rechtlicher Vereinbarungen ist die genaue Prüfung und Auslegung des Vertragswillens aller beteiligten Personen von zentraler Bedeutung. Im deutschen Zivilrecht haben die gesetzlichen Regeln für Willenserklärungen, Rechtsbindungs- und Vertragswillen eine essentielle und sorgfältig zu prüfende Rolle bei sämtlichen vertraglichen Beziehungen.
Häufig gestellte Fragen
Welche Bedeutung hat der Vertragswille bei der Auslegung von Willenserklärungen?
Der Vertragswille ist im rechtlichen Kontext der Wille einer oder mehrerer Parteien, eine rechtliche Bindung durch einen Vertrag einzugehen. Bei der Auslegung von Willenserklärungen spielt der Vertragswille eine zentrale Rolle, da es im Vertragsrecht grundsätzlich auf die Ermittlung des tatsächlichen Willens der Erklärenden ankommt (§ 133 BGB – Auslegung einer Willenserklärung). Das heißt, bei Unklarheiten oder Streitigkeiten darüber, wie eine Erklärung gemeint war, wird zunächst untersucht, was die Parteien tatsächlich wollten. Dabei wird nicht allein auf den objektiven Wortlaut der Erklärung abgestellt, sondern vielmehr auf den inneren Willen, wie er sich nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte darstellt. Die Gerichte berücksichtigen dabei sämtliche Umstände des Einzelfalls, wie etwa die bisherigen Vertragsverhandlungen, das Verhalten der Parteien und die typischen Interessenlagen. So soll verhindert werden, dass jemand allein aufgrund einer missverständlichen Ausdrucksweise an einen Vertrag gebunden wird, der seinem wahren Willen nicht entspricht.
Wie unterscheidet sich der Vertragswille vom objektiven Empfängerhorizont?
Der Vertragswille stellt auf die subjektive Seite, also auf die tatsächlichen Absichten und Vorstellungen der Parteien ab. Demgegenüber steht der sogenannte objektive Empfängerhorizont, der maßgeblich ist, wenn sich der wahre Wille einer Partei nicht oder nur schwer feststellen lässt. Nach § 157 BGB sind Verträge so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern – dabei ist auf den objektiven Empfängerhorizont abzustellen. Das bedeutet, es wird gefragt, wie ein verständiger Dritter in der Position des Erklärungsempfängers die Äußerung verstehen musste. Der objektive Empfängerhorizont kommt vor allem dann zur Anwendung, wenn Willens- und Erklärungsbewusstsein auseinanderfallen oder eine Partei sich auf einen geheimen Vorbehalt (§ 116 Satz 1 BGB) beruft. In der Praxis kommt es oft zu einer Abwägung zwischen subjektivem Vertragswille und objektiver Auslegung, wobei im Zweifel letzterer maßgeblich ist, sofern durch die Erklärung ein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde.
Welche Rolle spielt der Vertragswille im Zusammenhang mit Anfechtung und Geschäftswillen?
Im Kontext von Anfechtung und Geschäftswillen ist der Vertragswille insbesondere bei Willensmängeln von Bedeutung. Liegt etwa ein Irrtum über die Bedeutung oder die Tragweite einer abgegebenen Erklärung vor (z.B. Inhaltsirrtum, Erklärungsirrtum, §§ 119 ff. BGB), wird geprüft, ob der geäußerte Wille tatsächlich dem inneren Vertragswille entspricht. Stimmt dies nicht überein, ist eine Anfechtung möglich, wodurch das Rechtsgeschäft rückwirkend als nichtig angesehen wird. Der Geschäftswille ist als spezifischer Wille, ein Rechtsgeschäft mit einem ganz bestimmten Inhalt herbeizuführen, wiederum eine Ausprägung des weiter gefassten Vertragswillens. Ohne Geschäftswillen kommt in der Regel kein wirksames Rechtsgeschäft zustande, da die innere Bindungsabsicht fehlt. Die Differenzierung ist insbesondere dann entscheidend, wenn im Einzelfall zwischen verbindlichem Vertragsschluss und bloßem Bereitschafts- oder Gefälligkeitsverhältnis abgegrenzt werden muss.
Kann einem Vertragspartner der fehlende Vertragswille entgegengehalten werden?
Ein fehlender Vertragswille kann grundsätzlich dann relevant werden, wenn sich eine Partei darauf beruft, sie habe die Erklärung nicht ernstlich abgegeben oder ein sogenannter „geheimer Vorbehalt“ vorlag (§ 116 BGB). Allerdings schützt das Recht den Verkehr, weshalb ein bloß „interner Vorbehalt“ gegenüber dem Erklärungsempfänger grundsätzlich unbeachtlich ist. Nur wenn der Empfänger den fehlenden Vertragswillen kennt oder kennen muss (§ 116 Satz 2 BGB), ist die Erklärung unwirksam. In Fällen der „mental reservation“ wird also nur derjenige geschützt, der nicht auf das Zustandekommen eines Rechtsgeschäfts vertraut hat. Dies ist insbesondere im Bereich der Scheingeschäfte (§ 117 BGB) und der Scherzerklärungen (§ 118 BGB) von Bedeutung, wo der objektive Empfängerhorizont und das verkehrsübliche Verständnis Vorrang vor dem tatsächlich fehlenden Vertragswillen haben.
Wie wird der Vertragswille bei Mehrdeutigkeit oder Schweigen der Parteien ermittelt?
Bei Mehrdeutigkeiten oder konkludentem Verhalten („Schweigen“) der Parteien ist die Ermittlung des Vertragswillens besonders anspruchsvoll. Grundsätzlich gilt, dass Schweigen im Rechtsverkehr mangels ausdrücklich erklärten Willens im Zweifel keine Willenserklärung darstellt. Ausnahmen gelten, wenn nach Verkehrssitte, Handelsbrauch oder früherer Übung eine gewisse Bedeutung des Schweigens angenommen werden kann (z.B. Schweigen auf ein kaufmännisches Bestätigungsschreiben). In diesen Fällen werden alle Begleitumstände ausgewertet und das Verhalten im Gesamtzusammenhang betrachtet. Auch bei der Auslegung mehrdeutiger oder lückenhafter Willenserklärungen ist stets auf den tatsächlichen Willen abzustellen. Die Gerichte ziehen hierzu alle zugänglichen Beweismittel heran, z.B. E-Mails, Verhandlungsprotokolle, Zeugenaussagen und die wirtschaftliche Interessenlage der Parteien. Erst wenn der subjektive Wille nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann, greift die Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont.
Welche Beweislastregelungen gelten bei Streit um den Vertragswillen?
Im Streitfall trägt grundsätzlich diejenige Partei die Beweislast für das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines bestimmten Vertragswillens, die sich auf diese Tatsache beruft. So muss z.B. die Partei, die eine Anfechtung wegen Irrtums erklärt und behauptet, eine andere Absicht gehabt zu haben als erklärt, den fehlenden oder abweichenden Vertragswillen beweisen. Gelingt dies nicht, gilt die abgegebene Erklärung im Zweifel nach ihrem objektiven Wortlaut und Sinn; der objektive Rechtsschein geht vor. Im Rahmen von Verbraucherverträgen, Arbeitsverträgen oder im Mietrecht gibt es zum Teil spezielle Schutzvorschriften, die die Beweislast im Einzelfall modifizieren können. Grundsätzlich bleibt aber derjenige beweispflichtig, der den subjektiven Willen seinerseits geltend macht, wobei Indizien und die Lebenswahrscheinlichkeit herangezogen werden dürfen.