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Vertragsauslegung


Definition und Bedeutung der Vertragsauslegung

Die Vertragsauslegung ist ein zentrales Konzept im deutschen Zivilrecht und bezeichnet die Ermittlung des tatsächlichen Inhalts und der Reichweite der Rechte und Pflichten aus einem Vertrag. Vertragsauslegung ist erforderlich, wenn die Vertragsparteien Uneinigkeit über die Bedeutung einzelner Vertragsbestimmungen haben oder ein Vertrag Lücken, Unklarheiten oder Mehrdeutigkeiten aufweist. Ziel der Vertragsauslegung ist es, den wirklichen Willen der Parteien bei Vertragsschluss festzustellen und im Rahmen des rechtlich Zulässigen umzusetzen.

Gesetzliche Grundlagen der Vertragsauslegung

Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

Die gesetzlichen Grundlagen der Vertragsauslegung finden sich im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Wesentliche Regelungen hierzu enthält § 133 BGB (Auslegung einer Willenserklärung) und § 157 BGB (Auslegung von Verträgen):

  • § 133 BGB: „Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.“
  • § 157 BGB: „Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.“

Weitere Rechtsquellen

Darüber hinaus können grundsätzliche Auslegungsmaßstäbe in anderen Normen, etwa bei speziellen gesetzlichen Vertragstypen, enthalten sein. Relevanz besitzen zudem die Auslegungsgrundsätze der höchstrichterlichen Rechtsprechung.

Grundsätze und Methoden der Vertragsauslegung

Objektive und subjektive Auslegung

Die Auslegung eines Vertrags erfolgt grundsätzlich in zwei Schritten:

  1. Subjektive Auslegung: Vorrangig ist zu ermitteln, was die Parteien tatsächlich gewollt haben (sogenannter Parteiwille oder Individualwille).
  2. Objektive Auslegung: Lassen sich Wille oder Absicht der Parteien nicht eindeutig feststellen, ist der Vertrag so auszulegen, wie ihn redliche und verständige Parteien unter Berücksichtigung von Treu und Glauben sowie der Verkehrssitte verstehen durften.

Auslegungsregel: Treu und Glauben

Gemäß § 157 BGB sind Verträge unter Berücksichtigung von Treu und Glauben auszulegen. Hiermit wird sichergestellt, dass Verträge nicht entgegen dem redlichen Sinn und Zweck verstanden und angewendet werden dürfen.

Vorrang der Individualabrede

Nach § 305b BGB hat eine individuell ausgehandelte Vertragsabrede Vorrang vor Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB), selbst wenn diese abweichende Bestimmungen enthalten.

Arten der Vertragsauslegung

Natürliche Vertragsauslegung (wirklicher Wille)

Die natürliche Auslegung steht an erster Stelle: Sie zielt darauf ab, den tatsächlich bestehenden, übereinstimmenden Parteiwillen herauszufinden. Hierzu können alle Umstände herangezogen werden, die bei Vertragsschluss vorlagen, beispielsweise Verhandlungsprotokolle, Schriftwechsel oder das Verhalten beider Parteien vor und nach Vertragsschluss.

Normative Vertragsauslegung (objektiver Empfängerhorizont)

Wenn eine Übereinstimmung der Parteien nicht feststellbar ist, wird anhand des sogenannten objektiven Empfängerhorizonts ausgelegt, was eine vernünftige, redliche Person in der spezifischen Situation unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände verstanden hätte.

Ergänzende Vertragsauslegung

Bleiben nach einer Auslegung Lücken (Regelungslücken), kommt die ergänzende Vertragsauslegung zum Tragen. Hierbei wird gefragt, was die Parteien voraussichtlich geregelt hätten, wenn sie an die jeweilige Problematik gedacht hätten.

Vertragsauslegung bei Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB)

Unklarheitenregel

Bei AGB gilt die sogenannte Unklarheitenregel (§ 305c Abs. 2 BGB): Zweifel bei der Auslegung gehen zu Lasten des Verwenders der AGB. Diese Regel dient dem Schutz der typischerweise weniger informierten Vertragspartei.

Vorrang der Individualvereinbarung

Widersprechen sich individuelle Vereinbarungen und AGB, geht die individuelle Vereinbarung vor (§ 305b BGB).

Erfassbare Auslegungsmittel

Wortlaut und Sprachgebrauch

Der Wortlaut des Vertrages bildet die Ausgangsbasis der Auslegung. Der übliche Sprachgebrauch und die Terminologie einer Branche werden ebenso herangezogen.

Gesamtzusammenhang

Einzelne Klauseln werden im Gesamtzusammenhang des Vertragswerks und im Lichte des Vertragszwecks gelesen. Auch ein im Vertrag verwendeter systematischer Aufbau ist auslegungserheblich.

Entstehungsgeschichte (Verhandlungsprotokolle)

Insbesondere bei individuellen Vereinbarungen kann die Entstehungsgeschichte (vorvertragliche Korrespondenz, Angebote) herangezogen werden.

Verkehrsgewohnheiten und Handelsbräuche

Branchenübliche Gepflogenheiten oder bestehende Handelsbräuche können herangezogen werden, um den Vertragsinhalt zu konkretisieren.

Besondere Auslegungsprobleme

Mehrdeutige und lückenhafte Verträge

Bei mehrdeutigen oder lückenhaften Regelungen kommt der ergänzenden Vertragsauslegung eine wesentliche Bedeutung zu. Hierbei ist stets zu fragen, wie der Vertrag nach Treu und Glauben geschlossen worden wäre.

Gesetzliche Auslegungsregeln im Einzelfall

In bestimmten Vertragstypen, etwa im Arbeitsrecht oder bei Mietverträgen, existieren spezielle gesetzliche Leitlinien und ergänzende Auslegungsregeln, an die sich die Vertragsauslegung anlehnt.

Verhältnis zu weiteren Auslegungsformen

Unterschied zur Gesetzesauslegung

Während die Gesetzesauslegung auf die Interpretation von Normtexten zielt, steht bei der Vertragsauslegung die Ermittlung des von den Parteien Gewollten im Vordergrund.

Abgrenzung zur Lückenfüllung

Von der Vertragsauslegung wird die sogenannte Lückenfüllung unterschieden. Sie kommt nur dann zum Einsatz, wenn nach umfassender Auslegung noch offen bleibt, wie eine bestimmte Regelung zu verstehen ist. Dann tritt dispositives Recht ein oder wird nach ergänzender Vertragsauslegung eine Regelung gefunden.

Rechtsprechung und Entwicklung der Vertragsauslegung

Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) und anderer Gerichte hat die Grundsätze und Methoden der Vertragsauslegung fortentwickelt und konkretisiert. Insbesondere die Anforderungen an die Feststellung des Parteiwillens und die Annahme einer ergänzenden Vertragsauslegung sind Gegenstand zahlreicher Entscheide.

Gerichte sind bei der Auslegung an die tatrichterlichen Feststellungen des Einzelfalls gebunden. Die Auslegung selbst ist Kernaufgabe der Tatsacheninstanz (z. B. Landgericht, Amtsgericht).

Bedeutung der Vertragsauslegung in der Praxis

Vertragsauslegung ist für nahezu alle Vertragsarten relevant, sei es Kaufvertrag, Arbeitsvertrag, Mietvertrag, Gesellschaftsvertrag oder Werkvertrag. Feinheiten der Auslegung können entscheidend für die Durchsetzung von Ansprüchen und Rechten sein, weshalb der präzisen Vertragsgestaltung und der Kenntnis der Auslegungsregeln große praktische Bedeutung zukommt.

Zusammenfassung

Die Vertragsauslegung dient der Ermittlung des tatsächlichen Vertragsinhalts, orientiert sich sowohl an individuellen Willenserklärungen als auch an objektivierten Maßstäben wie Treu und Glauben sowie Verkehrssitte, berücksichtigt spezifische Auslegungsregeln etwa bei AGB und beeinflusst maßgeblich die Durchsetzung privater Rechte im Vertragsrecht. Die Entwicklung der Auslegungsmethoden und der Rechtsprechung führen fortlaufend zu einer Differenzierung und Präzisierung der Regeln für die praktische Anwendung.


Literatur:

  • Palandt, BGB-Kommentar
  • MüKo BGB, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch
  • Bamberger/Roth, Beck’scher Online-Kommentar BGB
  • BGH-Rechtsprechung zur Vertragsauslegung

Weiterführende Themen:

  • Willensmängel im Vertragsrecht
  • Allgemeine Geschäftsbedingungen
  • Dispositives Recht
  • Lückenfüllung im Vertrag

Dieser Beitrag ist für den Einsatz in einem Rechtslexikon konzipiert und bietet eine umfassende, strukturierte Übersicht der Vertragsauslegung im deutschen Recht.

Häufig gestellte Fragen

Wie wird der wirkliche Wille der Parteien bei der Vertragsauslegung ermittelt?

Bei der Vertragsauslegung ist der wirkliche Wille der Parteien von zentraler Bedeutung, da im deutschen Zivilrecht gemäß § 133 BGB („Auslegung einer Willenserklärung“) nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften ist, sondern der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an der äußeren Form zu kleben ist. Dies bedeutet, dass bei Unstimmigkeiten oder Unklarheiten bezüglich der Bedeutung einzelner Vertragsklauseln zunächst danach zu fragen ist, was beide Vertragsparteien tatsächlich gewollt haben – unabhängig vom genauen Wortlaut. Hierbei sind sämtliche Umstände des Vertragsschlusses zu berücksichtigen, insbesondere vorvertragliche Korrespondenz, Verhandlungen, konkrete Interessenlagen der Parteien sowie das tatsächliche Verhalten nach Vertragsschluss. Die Ermittlung erfolgt objektiv aus Sicht eines redlichen und verständigen Dritten, der alle tatsächlichen Begleitumstände kennt. Können sich beide Parteien allerdings später nicht mehr auf einen gemeinsamen Willen einigen oder lässt sich ein übereinstimmender Wille nicht feststellen, ist auf den objektiven Empfängerhorizont abzustellen.

Welche Bedeutung kommt dem sogenannten Empfängerhorizont bei der Vertragsauslegung zu?

Der Empfängerhorizont spielt eine tragende Rolle bei der Auslegung von Willenserklärungen. Nach der Rechtsprechung und der Lehre des objektiven Empfängerhorizonts ist eine Willenserklärung so auszulegen, wie sie ein verständiger Dritter in der Position des Erklärungsempfängers unter Würdigung aller erkennbaren Umstände verstanden hätte. Dies bedeutet, dass es weniger darauf ankommt, wie der Erklärende seine Äußerung verstanden wissen wollte, sondern darauf, wie sie aus Sicht des Empfängers aufgrund von Wortlaut, Kontext und begleitenden Umständen zu verstehen war. Besonders bei mehrdeutigen oder unklaren Formulierungen entscheidet also die objektiv zumutbare Auslegung, die der Erklärungsempfänger zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses vornehmen konnte und durfte. Entscheidender Faktor sind hierbei auch die dem Erklärungsempfänger bekannten oder erkennbaren Umstände zum Zeitpunkt der Erklärung.

Inwiefern sind Handelsbräuche und Gepflogenheiten für die Vertragsauslegung relevant?

Handelsbräuche und Gepflogenheiten können gemäß § 157 BGB („Auslegung von Verträgen“) und insbesondere im kaufmännischen Geschäftsbetrieb gemäß § 346 HGB („Handelsbräuche“) herangezogen werden, um bei der Auslegung von Verträgen unklare oder ergänzungsbedürftige Vertragsbestimmungen zu konkretisieren. Sogenannte Verkehrssitten und gewohnheitsrechtlich anerkannte Praktiken können beispielsweise für die Frage entscheidend sein, wie bestimmte Klauseln typischerweise verstanden und angewendet werden und, ob eine Vertragslücke besteht. Dabei reicht es aus, dass die betreffende Verkehrsgewohnheit bekannte oder zumindest branchenübliche Praxis ist (Handelsbrauch). Die Heranziehung von Handelsbräuchen darf jedoch nicht zu einer Vertragsauslegung führen, die dem erkennbaren Parteiwillen widerspricht.

Welche Rolle spielen nachträgliche Erklärungen und tatsächliche Vertragsdurchführungen bei der Auslegung?

Nachträgliche Erklärungen, Umdeutungen oder das spätere Verhalten der Parteien, insbesondere wie sie den Vertrag tatsächlich durchgeführt haben, sind sogenannte „Indizien“ für den tatsächlich vereinbarten Parteiwillen. Nach der Lehre der sogenannten „praktischen Vertragsauslegung“ kann das tatsächliche Verhalten der Parteien nach Vertragsschluss Rückschlüsse auf das ursprünglich Gemeinte zulassen. Wenn sich beide Parteien beispielsweise über längere Zeit hinweg in bestimmter Weise an eine Klausel gehalten haben, spricht dies dafür, dass diese Klausel in genau dieser Art von beiden Parteien verstanden wurde. Gleichwohl ersetzen diese Indizien nicht die eigentliche Auslegung durch Wortlaut, Systematik und Ziel des Vertrags, sondern können diese lediglich ergänzen und stützen.

Was passiert, wenn der Vertragstext lückenhaft, widersprüchlich oder mehrdeutig ist?

Enthält ein Vertrag widersprüchliche, mehrdeutige oder lückenhafte Regelungen, ist in einem gestuften Verfahren vorzugehen. Zunächst ist zu prüfen, ob der wirkliche Wille der Parteien (§ 133 BGB) feststellbar ist. Gelingt dies nicht eindeutig, gilt die objektivierte Auslegung nach dem Empfängerhorizont (§§ 133, 157 BGB). Können diese Schritte die Lücke oder Mehrdeutigkeit nicht beheben, sind ergänzende Auslegungsmethoden möglich, insbesondere durch Schließen einer Vertragslücke mittels ergänzender Auslegung (hypothetischer Parteiwille). Hierbei ist zu rekonstruieren, was redliche Parteien bei Kenntnis der Lücke oder Widersprüchlichkeit vereinbart hätten. Stellt ein Teil der Vereinbarungen gleichzeitig eine Allgemeine Geschäftsbedingung (AGB) dar, findet zusätzlich das sogenannte Transparenzgebot (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB) und grundsätzlich die Auslegung zugunsten des Vertragspartners („Unklarheitenregel“ des § 305c Abs. 2 BGB) Anwendung.

Welche Bedeutung haben gesetzliche Auslegungsregelungen, insbesondere im Kontext von Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB)?

Bei Verträgen, die zumindest teilweise aus Allgemeinen Geschäftsbedingungen bestehen, gelten spezifische Auslegungsregeln. Hier ist insbesondere § 305c Abs. 2 BGB relevant, wonach Zweifel bei der Auslegung von AGB zu Lasten des Verwenders gehen (Unklarheitenregel). Zusätzlich ist das Transparenzgebot (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB) zu beachten, nach dem Klauseln klar und verständlich gefasst sein müssen. Weitergehende gesetzliche Sonderregelungen finden sich etwa im Mietrecht, Arbeitsrecht oder bei Verbraucherverträgen. Das Ziel dieser gesetzlichen Regelungen ist es, die schwächere Vertragspartei zu schützen und sicherzustellen, dass unverständliche oder überraschende Klauseln nicht zu deren Nachteil ausgelegt werden.

Welche Grundsätze gelten bei der ergänzenden Vertragsauslegung?

Wenn lückenhafte Verträge vorliegen und eine planwidrige Regelungslücke festgestellt wurde, kommt die ergänzende Vertragsauslegung zur Anwendung. Diese beruht auf der Fiktion, dass hypothetisch zu fragen ist, welche Regelung die Parteien bei Kenntnis der Lücke – redlich und vernünftig – getroffen hätten. Die ergänzende Vertragsauslegung ist von der geltungserhaltenden Reduktion zu unterscheiden, denn sie dient der Schließung von Vertragslücken, nicht der Rettung unwirksamer Klauseln. Sie setzt voraus, dass keine gesetzlichen Regelungen unmittelbar greifen und der Vertragswille nicht abschließend feststellbar ist. Die Ermittlung erfolgt durch eine Interessenabwägung unter Berücksichtigung der beiderseitigen Ziele, typischen vertraglichen Gepflogenheiten sowie der Grundsätze von Treu und Glauben (§ 242 BGB).