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Verschulden beim Vertragsschluss


Begriff und Bedeutung des Verschuldens beim Vertragsschluss

Das Verschulden beim Vertragsschluss (lateinisch: culpa in contrahendo, kurz: c.i.c.) bezeichnet im deutschen Zivilrecht ein Verhalten, bei dem eine Partei während der Anbahnung eines Vertrages gegenüber der anderen Partei schuldhaft Pflichten verletzt, die bereits im Vorfeld eines Vertrages wirksam werden. Das Verschulden beim Vertragsschluss begründet eine eigene Haftung, unabhängig davon, ob letztlich ein Vertrag zustande gekommen ist. Die Regelungen hierzu sind insbesondere dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) sowie der Rechtsprechung zu entnehmen.

Rechtsgrundlagen und Entwicklung

Die Grundidee der Haftung des Verschuldens beim Vertragsschluss wurde durch die deutsche Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert entwickelt und inzwischen durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts (2002) in §§ 311 Abs. 2 und 3, 241 Abs. 2, 280 Abs. 1 BGB kodifiziert. Die Regelungen erstrecken sich insbesondere auf das vorvertragliche Schuldverhältnis (schuldähnliches Verhältnis) sowie auf die Rückabwicklung und Schadensersatzansprüche im Falle von Pflichtverletzungen in der Vertragsanbahnungsphase.

Entstehung des Schuldverhältnisses durch Vertragsanbahnung

Anbahnung und Aufnahme von Vertragsverhandlungen

Ein vorvertragliches Schuldverhältnis entsteht nach § 311 Abs. 2 BGB durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen, die Anbahnung eines Vertrages oder ähnliche geschäftliche Kontakte. Schon infolge dieser Beziehung haben die Parteien gegenseitige Pflichten hinsichtlich Rücksichtnahme und Schutz.

Vorvertragliche Pflichten gemäß § 241 Abs. 2 BGB

Die wesentlichen Pflichten, die sich im Rahmen der Vertragsanbahnung ergeben, sind die sogenannten Rücksichtnahmepflichten. Diese umfassen insbesondere die Verpflichtung, auf die Rechtsgüter, insbesondere das Eigentum, das Leben, die Gesundheit und andere Interessen, der jeweils anderen Partei Rücksicht zu nehmen und diese nicht zu verletzen.

Voraussetzungen und Umfang der Haftung

Voraussetzungen der Haftung wegen Verschuldens beim Vertragsschluss

Die Haftung wegen Verschuldens beim Vertragsschluss setzt typischerweise voraus:

  • das Bestehen eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses gemäß § 311 Abs. 2 und 3 BGB,
  • eine Verletzung einer vorvertraglichen Pflicht nach § 241 Abs. 2 BGB,
  • Verschulden (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) der anspruchsgegnerischen Partei,
  • einen kausalen Schaden bei der anderen Partei.

Arten der Pflichtverletzungen

Typische Pflichtverletzungen im Rahmen des Verschuldens beim Vertragsschluss sind:

  • die schuldhafte Verletzung von Aufklärungs- und Informationspflichten (z. B. arglistiges Verschweigen von Mängeln),
  • das unberechtigte Abbrechen von Vertragsverhandlungen sowie
  • die Verletzung von Schutz- und Obhutspflichten beim Betreten oder Besichtigen von Geschäftsräumen.

Rechtsfolgen des Verschuldens beim Vertragsschluss

Schadensersatzanspruch gemäß § 280 BGB

Im Falle einer Pflichtverletzung haften die Parteien gemäß § 280 Abs. 1 BGB auf Schadensersatz. Der Geschädigte ist grundsätzlich so zu stellen, wie er stünde, wenn die Pflichtverletzung nicht eingetreten wäre (sog. negatives Interesse oder Vertrauensschaden). Dazu zählt:

  • Ersatz von Aufwendungen, die im Vertrauen auf den Vertragsschluss entstanden sind,
  • Erstattung von Kosten für nutzlose Vorbereitungen,
  • in bestimmten Fällen der Ersatz entgangenen Gewinns.

Abgrenzung zu anderen Haftungsregimen

Die Haftung wegen Verschuldens beim Vertragsschluss ist abzugrenzen von:

  • der vertraglichen Haftung bei bereits abgeschlossenem Vertrag,
  • der Haftung aus unerlaubter Handlung gemäß §§ 823 ff. BGB,
  • der Gefährdungshaftung bei bestimmten Sachverhalten.

Beispiele aus der Praxis und Rechtsprechung

Ein klassischer Fall ist die arglistige Täuschung über Eigenschaften eines Vertragsobjekts bereits im Rahmen der Anbahnung eines Vertrages. Ebenso kann ein Teilnehmer an Vertragsverhandlungen haften, wenn durch schuldhafte Verletzung von Verkehrssicherungspflichten eine andere Person zu Schaden kommt.

Die Rechtsprechung hat das Verschulden beim Vertragsschluss stets als Ausprägung des allgemeinen Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstanden und zahlreiche Einzelfälle entwickelt, etwa zur vorvertraglichen Aufklärungspflicht und zur Haftung bei Abbruch von Vertragsverhandlungen ohne triftigen Grund.

Verhältnis zur Anfechtung und Rückabwicklung

Eine Anfechtung des geschlossenen Vertrages wegen arglistiger Täuschung (§ 123 BGB) kann parallel zu Ansprüchen aus Verschulden beim Vertragsschluss bestehen. Während durch die Anfechtung der Vertrag rückwirkend vernichtet wird, bleibt der Schadensersatzanspruch aus c.i.c. hiervon unberührt und kann selbstständig geltend gemacht werden.

Internationale Einordnung und Bedeutung

Die culpa in contrahendo ist nicht auf das deutsche Zivilrecht beschränkt, sondern international verbreitet und etwa im Schweizer Obligationenrecht ebenfalls bekannt. Im europäischen Recht finden sich vergleichbare Grundsätze zum Schutz vorvertraglicher Pflichten beispielsweise im Acquis der EU-Verbraucherrichtlinien.

Zusammenfassung

Das Verschulden beim Vertragsschluss stellt eine erhebliche Ausprägung des gesetzlichen Schuldverhältnisses dar und schützt die Parteien der Vertragsanbahnung vor nachteiligen Folgen schuldhafter Pflichtverletzungen. Seine Relevanz erstreckt sich auf vielfältige Lebens- und Geschäftssituationen und dient der Kompensation von Vermögensnachteilen, die durch das Vertrauen auf einen möglichen Vertragsschluss entstanden sind.


Siehe auch:

Häufig gestellte Fragen

Welche typischen Pflichtverletzungen kommen beim Verschulden beim Vertragsschluss in Betracht?

Beim Verschulden beim Vertragsschluss (culpa in contrahendo, kurz: c.i.c.) kommen eine Reihe typischer Pflichtverletzungen in Betracht. Dazu zählen insbesondere das Unterlassen wesentlicher Informationen (Aufklärungspflichtverletzung), die Erteilung falscher oder unvollständiger Auskünfte sowie das bewusste Täuschen oder Verschweigen relevanter Tatsachen. Auch die Herbeiführung eines Irrtums beim Verhandlungspartner oder die bereits im Vorfeld mangelnde Leistungsbereitschaft bzw. -fähigkeit können schuldhaftes Verhalten begründen. Weiterhin fällt darunter die Verletzung von Sorgfalts- und Rücksichtnahmepflichten nach § 311 Abs. 2 und § 241 Abs. 2 BGB, etwa durch die Schädigung von Rechtsgütern (Leben, Körper, Gesundheit, Eigentum) des Vertragspartners während der Anbahnung des Vertrages. Schließlich sind auch Fälle einschlägig, in denen eine Partei Vertragsverhandlungen grundlos oder zum Schein aufnimmt, ohne ernsthaft einen Vertrag abschließen zu wollen.

Welche Voraussetzungen müssen für eine Haftung aus Verschulden beim Vertragsschluss erfüllt sein?

Die Haftung wegen Verschuldens beim Vertragsschluss setzt nach heute herrschender Auffassung voraus, dass erstens zwischen den Verhandlungsparteien ein gesetzliches Schuldverhältnis entsteht (oft über § 311 Abs. 2 BGB), zweitens eine Pflichtverletzung im Sinne des § 241 Abs. 2 BGB gegeben ist, drittens die Pflichtverletzung kausal einen Schaden verursacht hat und viertens ein Verschulden, also Vorsatz oder Fahrlässigkeit, vorliegt (§ 276 BGB). Ferner darf keine vorrangige spezialgesetzliche Anspruchsgrundlage vorliegen, die das c.i.c.-Recht verdrängt. Zu beachten ist zudem, dass das Verschulden widerleglich vermutet wird und der Schädiger darlegen und beweisen muss, dass er die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat.

In welchem Verhältnis steht das Verschulden beim Vertragsschluss zu anderen Haftungsregimen, z.B. Delikt oder Garantie?

Das Verschulden beim Vertragsschluss ist als vertragliches Schuldverhältnis eigener Art zwischen reiner Vertragshaftung und Deliktsrecht angesiedelt. Es besteht neben deliktischen Ansprüchen nach § 823 BGB, die vorrangig auf den Schutz absoluter Rechte abzielen und ein Verschulden voraussetzen, sowie neben den besonderen Vertragspflichten aus dem geschlossenen Vertrag. Bei konkurrierenden Ansprüchen – etwa bei einer Eigentumsverletzung vor Vertragsschluss – kann der Geschädigte grundsätzlich zwischen c.i.c.- und Deliktsanspruch wählen. Garantien oder ausdrückliche Zusicherungen können die Haftung verschärfen und ggfs. eigene Anspruchsgrundlagen statuieren, sind aber von c.i.c. abzugrenzen, da sie regelmäßig dem abgeschlossenen Vertrag zuzurechnen sind.

Welche Ansprüche kann der Geschädigte aus einer Pflichtverletzung beim Vertragsschluss herleiten?

Im Falle einer Pflichtverletzung im Rahmen der c.i.c. ist der Hauptanspruch auf Schadensersatz gemäß § 280 Abs. 1 i.V.m. § 311 Abs. 2, § 241 Abs. 2 BGB gerichtet. Der Schadensersatz umfasst insbesondere das negative Interesse, das heißt, der Geschädigte ist so zu stellen, wie er stünde, wenn die Vertragsverhandlungen ordnungsgemäß verlaufen wären. Dazu kann der Ersatz von Ausgaben für nutzlose Verhandlungen, entgangene Gewinnmöglichkeiten aus anderen Geschäften, bestimmte Folgekosten oder auch Ersatz für erlittene Schäden an Rechtsgütern gehören. In Fällen arglistiger Täuschung kann die Anfechtung des Vertrages und Ersatz des Vertrauensschadens verlangt werden. Teilweise umfasst die Haftung auch Ersatz für Schäden jenseits des vertraglichen Bereichs, sofern sie typischerweise im Anbahnungsstadium eintreten konnten.

Welche Rolle spielt das Mitverschulden des Geschädigten bei der Haftung wegen Verschuldens beim Vertragsschluss?

Gemäß § 254 BGB findet das Mitverschulden des Geschädigten auch im Rahmen der culpa in contrahendo Anwendung. Das bedeutet, wenn der Geschädigte durch eigenes Verhalten – etwa durch Missachtung offensichtlicher Risiken, fehlende Nachfrage bei unklaren Angaben oder mangelnde Sorgfalt beim Lesen von Vertragsunterlagen – zur Entstehung des Schadens beiträgt, kann dies zu einer Minderung oder gar zum vollständigen Ausschluss des Schadensersatzanspruchs führen. Das Gericht nimmt hierbei eine Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile vor.

Wie lange bestehen Ansprüche aus Verschulden beim Vertragsschluss und wie verjähren sie?

Ansprüche aus Verschulden beim Vertragsschluss unterliegen grundsätzlich der regelmäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren gemäß § 195 BGB. Die Frist beginnt am Ende des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Geschädigte von den anspruchsbegründenden Umständen und der Person des Schädigers Kenntnis erlangte oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen (§ 199 Abs. 1 BGB). Bei Schadensersatzansprüchen wegen Verletzung von Leben, Körper, Gesundheit beträgt die Verjährungsfrist jedoch gem. § 199 Abs. 2 BGB dreißig Jahre. Die jeweiligen Verjährungsregelungen werden auch auf dem Gebiet der c.i.c. uneingeschränkt angewandt.

Können auch Dritte Ansprüche aus Verschulden beim Vertragsschluss geltend machen?

Ja, nach ständiger Rechtsprechung und Lehre kann sich die Schutzwirkung des vorvertraglichen Schuldverhältnisses auch auf Dritte erstrecken (Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter), sofern diese bestimmungsgemäß in den vertraglichen Einwirkungsbereich einbezogen werden und erkennbar dem Schutz der Dritten dienen soll. Typische Fälle sind Familienmitglieder, Angestellte oder andere Personen, die bei den Vertragsverhandlungen anwesend sind oder aus dem später abzuschließenden Vertrag typische Vorteile ziehen sollen. Voraussetzung ist, dass der Dritte aufgrund seiner Einbeziehung besonders schutzwürdig ist und der Schädiger mit seiner Beteiligung rechnen musste.