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Verschulden beim Vertragsschluss

Verschulden beim Vertragsschluss: Begriff, Bedeutung und Systematik

Verschulden beim Vertragsschluss bezeichnet die Haftung für Pflichtverletzungen in der Phase der Vertragsanbahnung. Bereits bevor ein Vertrag zustande kommt, entstehen zwischen den Beteiligten besondere Rücksichtnahme-, Informations- und Schutzpflichten. Wer diese Pflichten verletzt und dadurch bei der anderen Seite einen Schaden verursacht, haftet auf Ersatz. In der Praxis wird hierfür oft der lateinische Ausdruck „culpa in contrahendo“ verwendet.

Die Haftung dient dem Ausgleich von Schäden, die dadurch entstehen, dass jemand auf ein ordnungsgemäßes Verhalten in Verhandlungen vertraut. Sie schließt die Lücke zwischen rein außervertraglicher Haftung und Ansprüchen aus einem bereits geschlossenen Vertrag. Sie greift auch dann, wenn der angestrebte Vertrag später nicht zustande kommt oder unwirksam ist.

Entstehung der Haftung

Anbahnung und Vertrauensverhältnis

Die Haftung setzt ein besonderes Vertrauensverhältnis voraus, das durch die Aufnahme geschäftlicher Kontakte entsteht. Dies ist der Fall, wenn konkrete Verhandlungen geführt, Vertragsentwürfe ausgetauscht, Angebote erörtert oder Besichtigungen und Prüfungen zur Vorbereitung eines Vertrags erfolgen. Bereits in dieser Phase müssen die Beteiligten auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen der Gegenseite Rücksicht nehmen.

Schutz- und Aufklärungspflichten

Aus dem Vertrauensverhältnis folgen insbesondere:
– Pflicht zur wahrheitsgemäßen und vollständigen Aufklärung über Umstände, die für die Entscheidung der Gegenseite erkennbar wesentlich sind.
– Pflicht, Gefahrenquellen zu vermeiden und die andere Seite sowie deren Rechtsgüter nicht zu gefährden (z. B. bei Besichtigungen von Räumlichkeiten oder Anlagen).
– Pflicht zur Rücksichtnahme auf schutzwürdige Geheimnisse, Geschäfts- und Betriebsinterna.
– Pflicht, keine Erwartungen zu wecken, die nicht gedeckt sind, etwa durch das Auftreten mit nicht vorhandener Abschluss- oder Vertretungsmacht.

Pflichtverletzung und Verschulden

Eine Haftung setzt eine Pflichtverletzung voraus, die mindestens fahrlässig begangen wird. Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Vorsätzliches Fehlverhalten führt ebenso zur Haftung. Die Verantwortung umfasst auch das Verhalten von Personen, derer sich eine Partei in den Verhandlungen bedient (zum Beispiel Mitarbeitende oder eingeschaltete Dritte). Organisationsmängel und unklare Zuständigkeiten können sich als Sorgfaltspflichtverletzungen auswirken.

Kausalität und Schaden

Zwischen der Pflichtverletzung und dem eingetretenen Schaden muss ein ursächlicher Zusammenhang bestehen. Erfasst sind insbesondere Aufwendungen, Dispositionen und Nachteile, die im berechtigten Vertrauen auf eine ordnungsgemäße Verhandlungssituation entstanden sind. Der ersatzfähige Schaden ist im Grundsatz dem Vertrauensbereich zuzuordnen.

Typische Fallgruppen

Unzutreffende oder unterlassene Aufklärung

Haftung entsteht, wenn entscheidende Informationen verschwiegen oder falsch dargestellt werden, etwa zur Bonität, zu gravierenden Sachmängeln, zu bestehenden Rechten Dritter oder zu behördlichen Genehmigungslagen, sofern diese Informationen für die Entscheidung der Gegenseite erkennbar wesentlich sind.

Verletzung von Schutzpflichten

Wer in Verhandlungen die Rechtsgüter der Gegenseite gefährdet oder verletzt (zum Beispiel durch mangelhafte Sicherung von Geschäftsräumen bei Besichtigungen), kann für daraus resultierende Schäden einstehen müssen.

Treuwidriges Abbrechen von Verhandlungen

Das bloße Scheitern von Verhandlungen ist grundsätzlich risikotypisch. Eine Haftung kommt jedoch in Betracht, wenn Verhandlungen in einem fortgeschrittenen Stadium ohne sachlichen Grund abgebrochen werden, nachdem zuvor bei der Gegenseite berechtigtes Vertrauen auf einen baldigen Vertragsschluss geschaffen und zu kostspieligen Dispositionen veranlasst wurde.

Verhandlungen ohne Abschlussbereitschaft oder mit fehlender Vertretungsmacht

Wer Verhandlungen führt, ohne tatsächlich abschließen zu wollen oder zu können, oder wer mit nicht vorhandener Vollmacht auftritt, kann für die dadurch verursachten Vertrauensschäden haften.

Nichtigkeit oder Unwirksamkeit des angestrebten Vertrags

Ist der beabsichtigte Vertrag später unwirksam (zum Beispiel wegen Formmangels oder anderer Wirksamkeitshindernisse), greifen Ansprüche aus Verschulden beim Vertragsschluss häufig ein, um Vertrauensschäden auszugleichen. Dadurch wird verhindert, dass Pflichtverletzungen in der Anbahnungsphase folgenlos bleiben.

Abgrenzungen

Außervertragliche Haftung

Die außervertragliche Haftung setzt regelmäßig die Verletzung bestimmter absolut geschützter Rechtsgüter voraus. Demgegenüber erfasst Verschulden beim Vertragsschluss den Schutz des berechtigten Vertrauens in ordnungsgemäße Verhandlungen, auch ohne Verletzung solcher Rechtsgüter.

Gewährleistung und Leistungsstörung

Gewährleistungsrechte setzen einen wirksamen Vertrag voraus und betreffen Mängel der Leistung. Verschulden beim Vertragsschluss greift demgegenüber bereits vor Vertragsschluss oder bei Unwirksamkeit des Vertrags und dient dem Ausgleich von Vertrauensschäden. Beide Anspruchsgruppen können nebeneinander in Betracht kommen, richten sich aber auf unterschiedliche Interessen.

Vorvertragliche Abreden und Absichtserklärungen

Instrumente wie Absichtserklärungen oder Verhandlungsprotokolle können Pflichten konkretisieren. Sie ersetzen jedoch nicht die allgemeinen Sorgfalts-, Aufklärungs- und Schutzpflichten der Anbahnungsphase. Der genaue Inhalt solcher Dokumente kann Einfluss auf das berechtigte Vertrauen und damit die Haftungsfrage haben.

Beteiligte und Zurechnung

Unternehmen, Organisation und Auswahl

Unternehmen müssen ihre Verhandlungsorganisation so gestalten, dass Informationen korrekt fließen, Zuständigkeiten klar sind und Zusagen verlässlich sind. Mängel in der Organisation können als eigenes Fehlverhalten zugerechnet werden.

Vertreter und Verhandlungshelfer

Das Verhalten beauftragter Personen wird der verhandelnden Partei zugerechnet. Dies betrifft wahrheitswidrige Angaben, Fehlberatungen, das Verschweigen wesentlicher Tatsachen oder unklare Aussagen zur Abschluss- oder Vertretungsmacht.

Drittschutz

In besonderen Konstellationen kann das vorvertragliche Vertrauensverhältnis auch Dritte erfassen, wenn diese erkennbar in die Verhandlungen einbezogen sind und typischerweise den Gefahren der Anbahnungsphase ausgesetzt werden. Ob ein solcher Schutz im Einzelfall besteht, hängt von Nähe, Erkennbarkeit und Schutzbedürftigkeit ab.

Rechtsfolgen und Umfang des Ersatzes

Vertrauensschaden (negatives Interesse)

Ersetzt wird in erster Linie der Schaden, der dadurch entstanden ist, dass auf ordnungsgemäße Verhandlungen vertraut wurde. Dazu zählen etwa Vorbereitungskosten, Aufwendungen für Prüfungen, Planungen, Reise- und Beratungskosten sowie Nachteile aus aufgegebenen Alternativen. Ziel ist, so zu stellen, als wären die Verhandlungen nicht aufgenommen worden.

Umfang, Vorteilsausgleich, Mitverschulden, Beweis

Der Schaden wird nach den Umständen des Einzelfalls ermittelt. Vorteile, die im Zusammenhang mit der schädigenden Handlung stehen, werden angerechnet. Hat die geschädigte Seite zum Schaden beigetragen, kann dies den Ersatz mindern. Für die Haftung ist darzulegen, welche Pflichten bestanden, wie sie verletzt wurden und welcher Schaden hierauf beruht.

Weitere Ansprüche und Konkurrenz

Neben dem Ersatz des Vertrauensschadens können weitere Ansprüche aus anderen Rechtsgrundlagen in Betracht kommen, etwa auf Herausgabe erlangter Vorteile. Ein Anspruch auf Abschluss des Vertrags wird dadurch nicht begründet.

Verfahren und Durchsetzung

Darlegung und Beweise

In der Auseinandersetzung stehen häufig die Fragen im Mittelpunkt, welche Informationen erkennbar wesentlich waren, welche Zusicherungen gemacht wurden, wie weit Verhandlungen fortgeschritten waren und welche Dispositionen im Vertrauen hierauf erfolgt sind. Schriftwechsel, Protokolle, Entwürfe und interne Freigaben können bedeutsam sein.

Verjährung und Fristen

Ansprüche unterliegen allgemeinen Verjährungsregeln. Maßgeblich ist in der Regel der Zeitpunkt, zu dem der Schaden und die Person des Ersatzpflichtigen bekannt sind oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätten erkannt werden können. Hemmung und Neubeginn der Verjährung richten sich nach den allgemeinen Grundsätzen.

Internationale Bezüge

Bei grenzüberschreitenden Verhandlungen können Kollisionsrecht und Gerichtsstandfragen den anwendbaren Rechtsrahmen bestimmen. Vertragliche Rechtswahlklauseln und Gerichtsstandsvereinbarungen können die rechtliche Einordnung der Anbahnungsphase mitprägen.

Häufig gestellte Fragen (FAQ)

Was bedeutet Verschulden beim Vertragsschluss?

Es bezeichnet die Haftung für Pflichtverletzungen in der Phase der Vertragsanbahnung. Bereits vor Vertragsschluss bestehen besondere Rücksichtnahme-, Schutz- und Aufklärungspflichten. Werden sie schuldhaft verletzt und entsteht hierdurch ein Schaden, kann Ersatz verlangt werden.

Wann entsteht eine Haftung aus Verschulden beim Vertragsschluss?

Die Haftung entsteht, wenn durch die Aufnahme konkreter Verhandlungen ein Vertrauensverhältnis begründet wurde, eine hieraus resultierende Pflicht verletzt wurde, die Verletzung mindestens fahrlässig war und der dadurch verursachte Schaden im Vertrauensbereich liegt.

Welche Schäden können ersetzt verlangt werden?

Typischerweise der Vertrauensschaden: Aufwendungen und Nachteile, die im Vertrauen auf ordnungsgemäße Verhandlungen entstanden sind, etwa Prüfungs-, Reise-, Planungs- oder Beratungskosten sowie Verluste aus aufgegebenen Alternativen. Der Ersatz zielt darauf ab, so zu stellen, als wären die Verhandlungen nicht begonnen worden.

Haftet man auch, wenn der Vertrag später unwirksam ist oder nicht zustande kommt?

Ja, die Haftung soll gerade Schäden aus der Anbahnungsphase ausgleichen, unabhängig davon, ob ein Vertrag geschlossen oder wirksam geworden ist. Unwirksamkeit oder Scheitern des Abschlusses schließen die Haftung nicht aus.

Wer haftet bei Verhandlungen über Mitarbeitende oder Vertreter?

Das Verhalten von Mitarbeitenden, Beauftragten oder sonstigen Verhandlungshelfern wird der verhandelnden Partei zugerechnet. Falschauskünfte, unklare Vollmachten oder organisatorische Defizite können daher zu einer Haftung der vertretenen Seite führen.

Worin liegt der Unterschied zur außervertraglichen Haftung und zur Gewährleistung?

Außervertragliche Haftung schützt primär absolute Rechtsgüter. Gewährleistung betrifft Mängel bei bereits geschlossenen Verträgen. Verschulden beim Vertragsschluss schützt das Vertrauen in ordnungsgemäße Verhandlungen und greift schon vor oder unabhängig vom Vertragsschluss.

Wie lange können Ansprüche wegen Verschuldens beim Vertragsschluss geltend gemacht werden?

Es gelten allgemeine Verjährungsgrundsätze. Die Frist beginnt regelmäßig, wenn Schaden und Ersatzpflichtiger bekannt sind oder ohne grobe Fahrlässigkeit erkannt werden konnten. Hemmungs- und Neubeginnstatbestände richten sich ebenfalls nach allgemeinen Regeln.