Definition und Grundlagen des Verschuldens bei Vertragsverhandlungen
Das Verschulden bei Vertragsverhandlungen (auch „culpa in contrahendo“, kurz: c.i.c.) bezeichnet einen haftungsbegründenden Tatbestand, der während der Anbahnung eines Vertrages entsteht, wenn ein Vertrag nicht zustande kommt oder sich als nichtig erweist und dadurch eine Partei einen Schaden erleidet, der auf das Verhalten der anderen Partei während der Vertragsverhandlungen zurückzuführen ist. Die Regelungen zum Verschulden bei Vertragsverhandlungen sind ein bedeutender Bestandteil des deutschen Zivilrechts und dient dem Schutz des Vertrauens in die Redlichkeit des Geschäftspartners bei der Aufnahme und Durchführung von Vertragsverhandlungen.
Historische Entwicklung
Ursprünglich war das Verschulden bei Vertragsverhandlungen in Deutschland nicht explizit im Gesetz geregelt. Die Rechtsfigur wurde durch Rechtsprechung entwickelt, vor allem geprägt vom deutschen Rechtswissenschaftler Rudolf von Jhering, der das Vertrauen und dessen Schutz während der Anbahnung von Verträgen betonte. Im Zuge der Schuldrechtsreform wurde die culpa in contrahendo schließlich im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) im Rahmen der Regelungen zu vertraglichen und vorvertraglichen Schuldverhältnissen verankert.
Gesetzliche Verankerung
Seit der Schuldrechtsreform 2002 ist das Verschulden bei Vertragsverhandlungen vor allem in § 311 Abs. 2 und 3 BGB sowie in § 241 Abs. 2 BGB gesetzlich normiert. Demnach entstehen bereits bei der Aufnahme von Vertragsverhandlungen Pflichten, sogenannte vorvertragliche Schuldverhältnisse, die die Beteiligten vor Beeinträchtigungen von Rechtsgütern während der Anbahnung einer vertraglichen Beziehung schützen sollen.
Wesentliche Normen
- § 311 Abs. 2 BGB: Begründung eines Schuldverhältnisses durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen, die Anbahnung eines Vertrages oder ähnliches geschäftliches Miteinander.
- § 280 Abs. 1 BGB: Schadensersatz bei Pflichtverletzung.
- § 241 Abs. 2 BGB: Nebenpflichten zum Schutz von Rechtsgütern und Interessen.
Voraussetzungen des Verschuldens bei Vertragsverhandlungen
Damit eine Haftung für Verschulden bei Vertragsverhandlungen eintritt, müssen folgende Voraussetzungen vorliegen:
1. Bestehen eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses
Bereits mit Aufnahme von Vertragsverhandlungen entsteht zwischen den Parteien ein gesetzliches Schuldverhältnis, das sogenannte „vorvertragliche Schuldverhältnis“ (culpa in contrahendo). Hieraus resultieren Schutz-, Rücksichtnahme- und Informationspflichten.
2. Pflichtverletzung
Eine Pflichtverletzung kann beispielsweise in der Verletzung von Informations-, Sorgfalts- oder Geheimhaltungspflichten bestehen. Typische Pflichtverletzungen sind etwa das Zurückhalten wesentlicher Informationen, die Mitteilung falscher Tatsachen oder eine vorsätzliche Irreführung der anderen Partei.
3. Vertretenmüssen (Verschulden)
Die Haftung tritt ein, wenn die Pflichtverletzung vom Schädiger zu vertreten ist. Hierbei wird sowohl vorsätzliches Verhalten als auch Fahrlässigkeit erfasst, §§ 276 f. BGB.
4. Kausalität und Schaden
Zwischen der Pflichtverletzung und dem eingetretenen Schaden muss ein ursächlicher Zusammenhang bestehen. Der Geschädigte muss nachweisen, dass ihm gerade aufgrund der Pflichtverletzung ein Vermögensschaden entstanden ist.
Haftungsumfang und Rechtsfolgen
Das Verschulden bei Vertragsverhandlungen zieht Schadensersatzansprüche nach sich. Als Schadenspositionen kommen etwa die Ersatzfähigkeit nutzloser Aufwendungen (vergebliche Kosten der Vertragsverhandlungen), Schadensersatz wegen negativen Interesses (so genannter Vertrauensschaden) sowie Schutz vor Schäden an Rechtsgütern in Betracht.
Haftung für Erfüllungsgehilfen
Erfüllungsgehilfen, die von einer Partei bei den Verhandlungen eingesetzt werden, führen ebenfalls zur Zurechnung eines Fehlverhaltens. Die Haftung erstreckt sich also nicht nur auf das eigene Handeln, sondern nach § 278 BGB auch auf das Verhalten von Vertretern oder Hilfspersonen.
Abgrenzung zu anderen Haftungstatbeständen
Das Verschulden bei Vertragsverhandlungen ist vom Schadensersatz wegen Nichterfüllung (§ 280 BGB) abzugrenzen, der erst nach Vertragsschluss greift. Auch Ansprüche aus Delikt (§§ 823 ff. BGB) sind grundsätzlich eigenständig neben der c.i.c.-Haftung zu prüfen.
Typische Anwendungsfälle
Typische Fallkonstellationen, in denen Verschulden bei Vertragsverhandlungen bedeutsam wird, sind etwa:
- Unlautere Täuschung über wesentliche Vertragsinhalte oder Umstände während der Verhandlungen.
- Abbruch von Vertragsverhandlungen in einer Phase, in der der Geschäftspartner berechtigt auf den Vertragsschluss vertrauen durfte.
- Falsche oder unvollständige Angaben zu Vertragsgrundlagen.
- Verschweigen von Aufklärungs- oder Informationspflichten, etwa bei verdeckten Mängeln.
Besonderheiten im unternehmerischen Rechtsverkehr
Im unternehmerischen Geschäftsverkehr sind die Anforderungen an Informations- und Aufklärungspflichten regelmäßig höher. Vertragspartner treffen verstärkte Sorgfalts- und Rücksichtnahmepflichten. Gleichzeitig ist jedoch die Eigenverantwortung der Beteiligten stärker ausgeprägt und der Maßstab an die anwaltliche Prüfung etwaiger Risiken steigt.
Verjährung
Ansprüche wegen Verschuldens bei Vertragsverhandlungen unterliegen gemäß § 195 BGB grundsätzlich der regelmäßigen dreijährigen Verjährungsfrist. Der Beginn der Verjährung ist an die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis des Geschädigten vom Schaden und von der Person des Schädigers gebunden (§ 199 BGB).
Internationales Privatrecht
Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten richtet sich die Haftung für Verschulden bei Vertragsverhandlungen nach den Regelungen des internationalen Privatrechts, insbesondere nach der Rom II-Verordnung sowie den kollisionsrechtlichen Vorschriften des BGB.
Literatur und weiterführende Quellen
- Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), insbesondere §§ 241, 280, 311
- Heinrichs, Verschulden bei Vertragsverhandlungen, 7. Aufl., 2019
- Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, aktuelle Auflage, Kommentierung zu §§ 311, 241
- Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Band I, 4. Aufl., 1992
Zusammenfassung:
Das Verschulden bei Vertragsverhandlungen sichert das Vertrauen in die Integrität und Redlichkeit des Vertragspartners schon im Vorfeld eines Vertragsschlusses ab. Es schützt vor vermögensbezogenen und sonstigen Schäden, die durch pflichtwidriges Verhalten während der Anbahnung von Verträgen entstehen können, und ist ein wesentlicher Bestandteil der allgemeinen Verschuldenshaftung im deutschen Zivilrecht.
Häufig gestellte Fragen
Welche rechtlichen Pflichten bestehen während Vertragsverhandlungen hinsichtlich des Verschuldens?
Während Vertragsverhandlungen treffen die Parteien umfangreiche vorvertragliche Schutz- und Rücksichtnahmepflichten, welche sich insbesondere aus dem Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB und dem Rechtsinstitut des culpa in contrahendo (c.i.c.) ergeben. Diese Pflichten sind normativ nicht ausdrücklich geregelt, wurden jedoch durch die höchstrichterliche Rechtsprechung entwickelt und im Zuge der Schuldrechtsreform 2002 in § 311 Abs. 2, 3 BGB kodifiziert. Jede Partei muss das Vertrauen der anderen Seite auf das Zustandekommen und die Seriosität der Verhandlung respektieren. Es besteht insbesondere die Pflicht, den Vertragspartner nicht durch bewusst falsche Angaben oder durch Verschweigen wesentlicher Umstände zu schädigen. Auch ist es nicht erlaubt, den anderen unnötigen Risiken, wie z.B. dem Abschluss nutzloser Aufwendungen im Vorfeld, auszusetzen. Zudem gelten Verschwiegenheits-, Aufklärungs- und Informationspflichten. Die Intensität dieser Pflichten hängt vom Grad der Verhandlungsnähe und dem Wissensvorsprung ab, den eine Partei hat.
Wann haftet eine Partei wegen Verletzung von Pflichten bei Vertragsverhandlungen (culpa in contrahendo)?
Eine Haftung wegen Verletzung von Pflichten bei Vertragsverhandlungen, also aus c.i.c., setzt voraus, dass eine der Parteien gegen eine der oben erwähnten vorvertraglichen Pflichten schuldhaft verstoßen hat. Das Verschulden umfasst Vorsatz und Fahrlässigkeit. Voraussetzung ist weiterhin ein Schaden auf Seiten der anderen Partei, der kausal auf die Pflichtverletzung zurückzuführen ist. Klassische Fälle sind etwa das arglistige Verschweigen von Mängeln beim Verkauf oder irreführende Informationen zur Bonität einer Partei. Für eine Haftung ist nicht erforderlich, dass ein Vertrag zustande kommt; die Haftung setzt bereits mit der Aufnahme von Vertragsverhandlungen ein. Die Rechtsfolgen erstrecken sich in der Regel auf das sogenannte negative Interesse, also auf den Ersatz des Schadens, der dadurch entstanden ist, dass der geschädigte Teil auf einen Vertragsschluss vertraut oder unnötige Aufwendungen im Vertrauen auf den Vertragserfolg getätigt hat.
Welche Arten von Pflichtverletzungen sind im Rahmen des Verschuldens bei Vertragsverhandlungen relevant?
Im Kontext des Verschuldens bei Vertragsverhandlungen spielen insbesondere Aufklärungspflichtverletzungen, das Verschweigen von Tatsachen, irreführende oder unvollständige Angaben sowie die unberechtigte Vorenthaltung wesentlicher Informationen eine zentrale Rolle. Ebenso kann die Verletzung von Rücksichtnahmepflichten – etwa die Überrumpelung einer Vertragspartei oder die Herbeiführung einer Situation, in der der Vertragspartner besonders anfällig für Fehlentscheidungen wird – zu einer Haftung führen. Pflichten können sich auch aus gesetzlichen Vorgaben, Branchenstandards, Gewohnheiten und Üblichkeiten, sowie aus den konkreten Umständen des Einzelfalls ergeben.
Wie wird das Verschulden bei Vertragsverhandlungen nachgewiesen?
Der Nachweis des Verschuldens erfolgt grundsätzlich nach den allgemeinen zivilrechtlichen Beweisregeln. Der Geschädigte muss die Pflichtverletzung, den Schaden sowie die Kausalität zwischen Pflichtverletzung und Schaden beweisen. Den Nachweis eines Verschuldens (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) muss grundsätzlich ebenfalls der Geschädigte führen. Allerdings gibt es für bestimmte Konstellationen Erleichterungen; so wird etwa bei Verletzung expliziter vorvertraglicher Aufklärungs- und Informationspflichten das Verschulden regelmäßig vermutet, und der Schädiger muss sich exkulpieren, d.h. darlegen und beweisen, dass ihn kein Verschulden trifft.
Welche Rechtsfolgen ergeben sich aus einer Pflichtverletzung bei Vertragsverhandlungen?
Kommt es zu einer Haftung aufgrund einer Pflichtverletzung bei Vertragsverhandlungen, ist der Schädiger grundsätzlich zum Ersatz des sogenannten negativen Interesses verpflichtet. Das bedeutet, er muss den Geschädigten so stellen, wie dieser stünde, wenn er niemals mit dem Vertragspartner verhandelt hätte. Dazu gehören insbesondere Aufwendungen, die im Vertrauen auf den Vertragsschluss gemacht wurden (vorbereitende Kosten, entgangene Alternativgeschäfte, etc.), jedoch grundsätzlich nicht Ersatz des entgangenen Gewinns aus dem nicht zustande gekommenen Vertrag (positives Interesse). Unter besonderen Umständen kann die Haftung jedoch weiterreichen, insbesondere wenn der Schädiger vorsätzlich oder arglistig gehandelt hat.
Gibt es eine Verjährung für Ansprüche aus Verschulden bei Vertragsverhandlungen?
Ansprüche aus Verschulden bei Vertragsverhandlungen (c.i.c.) verjähren in der Regel nach den allgemeinen Vorschriften gemäß §§ 195, 199 BGB. Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre und beginnt mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den anspruchsbegründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen. Für Fälle der Arglist kann eine längere Verjährungsfrist nach § 199 Abs. 3a BGB von zehn Jahren greifen.
Können Verschuldenspflichten bei Vertragsverhandlungen wirksam ausgeschlossen werden?
Grundsätzlich können die Parteien die Haftung für Verschulden bei Vertragsverhandlungen durch vertragliche Vereinbarungen beschränken oder ausschließen, sofern sie nicht gegen zwingende gesetzliche Bestimmungen oder gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstoßen. Ein umfassender Ausschluss, insbesondere für Fälle vorsätzlicher oder arglistiger Pflichtverletzungen, ist rechtlich jedoch weitgehend unwirksam (§ 276 Abs. 3 BGB). Auch im unternehmerischen Rechtsverkehr sind derartige Haftungsausschlüsse häufig geprüft und regelmäßig eingeschränkt zulässig, um einen angemessenen Interessenausgleich und Rechtsschutz sicherzustellen.