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Vergesellschaftung


Begriff und Bedeutung der Vergesellschaftung

Die Vergesellschaftung ist ein zentraler Begriff des deutschen Verfassungs- und Wirtschaftsrechts und bezeichnet die Überführung von Privateigentum an Produktionsmitteln in Gemeineigentum oder in andere Formen gesellschaftlicher Eigentumsordnung. Die Vergesellschaftung dient insbesondere der Kontrolle gesamtwirtschaftlich bedeutsamer Ressourcen durch die Allgemeinheit und ist im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland rechtlich verankert. Sie stellt eine mögliche Ausprägung von Enteignung dar, unterscheidet sich jedoch durch ihren kollektiven Zweck und die besondere Trägerschaft des Eigentums.


Rechtliche Grundlagen der Vergesellschaftung

Verfassungsrechtliche Verankerung

Die rechtliche Grundlage der Vergesellschaftung findet sich in Artikel 15 des Grundgesetzes (GG). Dieser lautet:

„Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“

Diese Norm hebt sich von anderen Eigentumsbeschränkungen ab und erlaubt es dem Gesetzgeber, bestimmte zentrale Produktionsmittel oder Ressourcen zum Wohl der Gesellschaft in staatliches oder gesellschaftliches Eigentum zu überführen.

Unterschied zur Enteignung nach Artikel 14 GG

Während Artikel 14 Absatz 3 GG die Enteignung „zum Wohle der Allgemeinheit“ regelt und auf konkrete Einzelfälle abzielt, erfasst Artikel 15 GG die Vergesellschaftung als umfassende, abstrakt-generelle Überführung ganzer Wirtschaftsbereiche oder Wirtschaftsgüter in Gemeineigentum. Entscheidend ist der Unterschied im Adressatenkreis und der Zielrichtung: Die Enteignung betrifft einzelne Rechtsträger und dient typischerweise der Realisierung konkreter Projekte, wohingegen die Vergesellschaftung auf die Allgemeinheit als neue Eigentümerin abzielt und strukturelle Änderungen ermöglicht.


Voraussetzungen einer Vergesellschaftung

Gesetzgeberische Ermächtigung

Voraussetzung für eine wirksame Vergesellschaftung ist ein förmliches Gesetz. Dieses Gesetz muss die betroffenen Güter (bspw. Grund und Boden, Energieversorger, Mineralölkonzerne) sowie die Art und Weise der Überführung klar bestimmen. Das Gesetz hat außerdem Vorschriften über die Entschädigung enthalten.

Gegenstände der Vergesellschaftung

Artikel 15 GG listet als mögliche Objekte einer Vergesellschaftung auf:

  • Grund und Boden,
  • Naturschätze,
  • Produktionsmittel.

Diese Aufzählung ist nicht abschließend, sondern gibt einen Rahmen für die Reichweite der Maßnahme. Nach herrschender Meinung fallen dazu auch Unternehmen bestimmter Branchen, sofern ein gesteigertes Allgemeininteresse an deren Kontrolle und Verfügbarkeit besteht.

Gemeineigentum und Gemeinwirtschaft

Mit „Gemeineigentum“ ist in der Regel das Eigentum einer juristischen Person öffentlichen Rechts gemeint, insbesondere des Bundes, der Länder oder Kommunen. Alternativ sind auch andere Formen der Gemeinwirtschaft zulässig, etwa im Sinne genossenschaftlicher oder öffentlich-rechtlicher Unternehmensformen.


Verfahren und Durchführung

Ablauf der Vergesellschaftung

  1. Gesetzeserlass: Ein förmliches Gesetz muss den Anwendungsbereich sowie das Verfahren der Vergesellschaftung regeln.
  2. Übertragung des Eigentums: Nach Inkrafttreten des Gesetzes findet die Übertragung des Eigentums oder der Verfügungsgewalt auf die im Gesetz bestimmten Träger statt.
  3. Bestimmung der Entschädigung: Die Entschädigung ist zwingend zu regeln. Sie muss, wie bei der Enteignung, unter Berücksichtigung der Interessen der Allgemeinheit und des Eigentümers erfolgen.

Entschädigungsregelung

Die Vergesellschaftung setzt stets eine Regelung der Entschädigung voraus. Die nähere Ausgestaltung dieser Entschädigung erfolgt durch das Vergesellschaftungsgesetz und unterliegt vielfach gerichtlicher Überprüfung. Maßgeblich ist ein angemessener Interessenausgleich zwischen Allgemeinwohl und Eigentumsgarantie.


Vergesellschaftung im Kontext von Gesellschaftsformen und Eigentum

Rechtsfolgen

Die Vergesellschaftung führt zu einem Übergang des Eigentums oder Nutzungsrechts von privaten Eigentümern auf eine gesellschaftliche Trägerschaft. Dies betrifft insbesondere das Insolvenzrecht, Haftungsrecht und das Recht der öffentlichen Unternehmen.

Trägerschaften

Übernommen wird das Eigentum typischerweise durch:

  • Körperschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts,
  • Zweckverbände,
  • Genossenschaften,
  • Gemeinwirtschaftliche Unternehmen anderer Rechtsform.

Dabei bleibt der Gesetzgeber flexibel, sofern die öffentliche Kontrolle und Partizipation gewährleistet ist.


Anwendungsbeispiele und Praxisbezug

Historische Praxis in Deutschland

In der deutschen Geschichte wurde von Artikel 15 GG bislang kein Gebrauch gemacht. Vergesellschaftungen erfolgten in der Vergangenheit vor allem durch speziellere Gesetze, beispielsweise im Zuge der Verstaatlichung der Eisenbahnen, der Energieversorgung oder im Bereich der Kohleindustrie auf Landesebene.

Aktuelle Diskussionen

Jüngere Debatten, wie etwa die Forderung nach Vergesellschaftung großer Immobilienunternehmen im Zuge angespannten Wohnungsmarktes (z.B. Berliner Volksentscheid 2021), beleben die Diskussion um die Anwendung von Artikel 15 GG und verfassungsrechtlichen Anforderungen.


Abgrenzung zu ähnlichen Rechtsinstituten

Enteignung

Im Unterschied zur Vergesellschaftung ist die Enteignung nach Artikel 14 GG ein punktuelles, auf Einzelfälle begrenztes Instrument und betrifft meist Infrastrukturprojekte oder gemeinwirtschaftliche Vorhaben.

Verstaatlichung

Die Verstaatlichung umfasst einen weiteren Begriff und steht oft für jede Eigentumsübertragung auf den Staat, unabhängig von Artikel 15 GG. Die Vergesellschaftung setzt demgegenüber die dauerhafte gesellschaftliche Kontrolle oder Nutzung für eine kollektive Trägerschaft voraus.


Vergesellschaftung und Europarecht

Die Möglichkeit der Vergesellschaftung ist mit dem europäischen Recht grundsätzlich vereinbar, unterliegt jedoch den Schranken der Kapitalverkehrsfreiheit, Niederlassungsfreiheit und des Wettbewerbsrechts. Staatliche Monopolbildungen, Kartellbildungen oder staatlich kontrollierte Wirtschaftsstrukturen unterliegen der Kontrolle durch europäische Organe.


Fazit

Die Vergesellschaftung ist ein in Artikel 15 GG geregeltes rechtliches Institut zur Überführung von Privateigentum in gesellschaftliche Eigentumsformen. Sie dient der Sicherung gesamtgesellschaftlicher Interessen an wichtigen Produktionsmitteln und Ressourcen. Die Voraussetzung eines formellen Gesetzes, die Entschädigungspflicht sowie die Festlegung der Trägerschaft und Form des Gemeineigentums bilden die wesentlichen Rechtsgrundlagen. Praktische Anwendungen blieben bisher die Ausnahme, gewinnen jedoch im Kontext gesellschaftlicher Transformationsprozesse und aktueller politischer Diskussionen zunehmend an Bedeutung.


Siehe auch:
Enteignung, Verstaatlichung, Gemeineigentum, Öffentliche Unternehmen, Grundrechte im Grundgesetz

Literatur und weiterführende Quellen:

  • Artikel 14, 15 Grundgesetz (GG)
  • Schmidt-Aßmann, Vergesellschaftung nach Art. 15 GG, JuS 2021, 921
  • Papier, Enteignung und Vergesellschaftung in Deutschland, NJW 2020, 2445
  • Kämmerer, Gemeinwirtschaft und Grundgesetz, 2022

Häufig gestellte Fragen

Welche rechtlichen Rahmenbedingungen sind bei der Vergesellschaftung in Deutschland zu beachten?

Die rechtlichen Rahmenbedingungen der Vergesellschaftung in Deutschland sind vorrangig durch das Grundgesetz (insbesondere Art. 14 Abs. 3 GG) geregelt. Die Bundesrepublik sieht die Möglichkeit vor, dass Eigentum „zum Wohle der Allgemeinheit“ enteignet werden kann, soweit das Gesetz dies ausdrücklich bestimmt und eine Entschädigung vorsieht, die deren Höhe im Wege eines rechtsstaatlichen Verfahrens festgesetzt wird. Ergänzend kommen spezifische Fachgesetze ins Spiel, zum Beispiel das Baugesetzbuch (BauGB) für städtebauliche Enteignungen oder das Berggesetz für Bodenschätze. Dabei müssen immer der Zweck, die sachliche Rechtfertigung, das öffentliche Interesse, die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs sowie die Gewährleistung einer angemessenen Entschädigung beachtet werden. Da die Vergesellschaftung einen schweren Eingriff in das Eigentumsgrundrecht darstellt, ist der Gesetzgeber verpflichtet, die Gründe, das Verfahren und den Rechtsschutz besonders sorgfältig auszugestalten. Überdies sind die Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren besonders hoch: Der Gesetzgeber selbst – und nicht die Exekutive – muss im Gesetz abschließend die Voraussetzungen, das Verfahren und die Kompensation ausgestalten.

Wer ist nach deutschem Recht zur Vergesellschaftung berechtigt?

Nach deutschem Recht kann grundsätzlich nur der Staat, also Körperschaften des öffentlichen Rechts wie Bund, Länder oder Kommunen, die Vergesellschaftung von Eigentum durchführen. Die Berechtigung resultiert dabei ausschließlich aus gesetzlichen Grundlagen und ist an ein besonderes öffentliches Interesse gebunden. Privatpersonen oder Unternehmen können keine Vergesellschaftungen anordnen oder durchführen. Der Staat wiederum kann das Verfahren durch spezielle Behörden (wie Enteignungsbehörden oder Landesbehörden) abwickeln, er bleibt aber stets an die gesetzlichen Vorschriften, die verfassungsrechtlichen Schranken sowie an die gerichtliche Überprüfbarkeit gebunden.

Wie ist das Verfahren zur Vergesellschaftung rechtlich ausgestaltet?

Das Verfahren zur Vergesellschaftung ist gesetzlich geregelt und setzt typischerweise ein förmliches Verwaltungsverfahren voraus. Zunächst muss ein Gesetz oder eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage bestehen, die die Erforderlichkeit, den Zweck und das Verfahren zur Vergesellschaftung festlegt. Danach wird im Regelfall ein Verwaltungsakt durch die zuständige Behörde erlassen, der die Vergesellschaftung im Einzelfall anordnet. Betroffene Eigentümer werden angehört, können Stellungnahmen abgeben und in vielen Fällen Widerspruch oder Klage erheben. Die gerichtliche Kontrolle ist dabei sowohl in tatsächlicher als auch rechtlicher Hinsicht umfassend. Die Behörde muss insbesondere nachweisen, dass alle gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen, das Verfahren ordnungsgemäß durchgeführt wurde und die Entschädigung angemessen ist. Zudem haben betroffene Eigentümer das Recht, die Höhe und Art der Entschädigung gerichtlich überprüfen zu lassen.

In welchen Fällen ist eine Vergesellschaftung überhaupt rechtlich zulässig?

Die rechtliche Zulässigkeit einer Vergesellschaftung setzt stets ein „öffentliches Interesse“ und eine gesetzliche Grundlage voraus. Häufige Beispiele sind Infrastrukturvorhaben (z. B. Straßenbau, Schienennetze), der Ausbau erneuerbarer Energien, städtebauliche Entwicklungsmaßnahmen oder der Wohnungsbau. Ferner kann eine Vergesellschaftung auch im Rahmen der sozialen Daseinsvorsorge in Betracht kommen. Das öffentliche Interesse muss dabei so gewichtig sein, dass es gegenüber den Interessen des Eigentümers überwiegt. Die Maßnahme muss ultima ratio („letztes Mittel“) sein, also darf es keine milderen, gleich geeigneten Alternativen geben. Im Einzelfall ist eine umfassende Abwägung und Begründung erforderlich – willkürliche oder unverhältnismäßige Eingriffe sind ausgeschlossen.

Wie erfolgt die Entschädigung bei der Vergesellschaftung rechtlich korrekt?

Die Entschädigungspflicht ist ein zentrales Element des rechtlichen Rahmens der Vergesellschaftung. Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG schreibt vor, dass die Entschädigung die „Wahrung eines gerechten Ausgleichs“ zwischen dem Allgemeinwohl und den Interessen des Eigentümers sicherstellen muss. Im Regelfall ist die Entschädigung am Verkehrswert der betroffenen Sache zu bemessen; weitergehende persönliche oder wirtschaftliche Einbußen können in manchen Fällen berücksichtigt werden. Das konkrete Verfahren zur Wertermittlung ist gesetzlich oder durch Verordnung geregelt, mindert aber nicht das Recht des Betroffenen, ein Sachverständigengutachten einzuholen oder die Entschädigungshöhe gerichtlich überprüfen zu lassen. Die Entschädigung muss grundsätzlich vor oder spätestens mit der Eigentumsübertragung geleistet werden, abweichende Regelungen bedürfen besonderer Rechtfertigung.

Welche Rechtsmittel stehen gegen eine Vergesellschaftung zur Verfügung?

Gegen eine Vergesellschaftung können die betroffenen Eigentümer verschiedene Rechtsmittel ergreifen. So ist regelmäßig der (verwaltungs-)gerichtliche Rechtsschutz gegeben, insbesondere in Form der Anfechtungsklage gegen den hoheitlichen Vergesellschaftungsakt. Auch im laufenden Verwaltungsverfahren besteht die Möglichkeit zum Widerspruch, Beschwerde oder zur Beantragung auf einstweiligen Rechtsschutz, um die aufschiebende Wirkung zu erreichen. Ferner können im gerichtlichen Verfahren sämtliche Aspekte der Maßnahme – von der gesetzlichen Grundlage über die Einhaltung der formellen Voraussetzungen bis zur Höhe der Entschädigung – umfassend überprüft werden. Das Verfahren endet nicht selten erst nach Ausschöpfung aller Instanzen, insbesondere dann, wenn komplexe verfassungsrechtliche Fragen betroffen sind.

Welche Unterschiede bestehen zwischen Vergesellschaftung und Enteignung im rechtlichen Sinne?

Vergesellschaftung und Enteignung sind beides Instrumente, mit denen der Staat Eigentum zwangsweise entziehen kann, unterscheiden sich aber wesentlich in ihrem Zweck und ihrer Ausgestaltung. Während die Enteignung dazu dient, Eigentum für einen spezifischen öffentlichen Zweck oder ein Einzelvorhaben (z. B. Bau einer Straße) zu entziehen, bezieht sich die Vergesellschaftung auf die Überführung ganzer Wirtschaftszweige, Unternehmen oder Vermögensmassen in Gemeineigentum oder die Kontrolle staatlicher, genossenschaftlicher oder gemeinwirtschaftlicher Trägerschaften – im Regelfall auf Dauer und zur Allgemeinwohlförderung. Rechtlich unterliegt die Vergesellschaftung regelmäßig noch höheren Anforderungen an Gesetzgebung, Begründung und Verfahren, insbesondere was die gesellschaftliche Legitimation und Abwägung betrifft. Art. 15 GG bietet den verfassungsrechtlichen Rahmen für die Vergesellschaftung und bestimmt, dass die „Vergütung“ (im Unterschied zur „Entschädigung“ bei Art. 14 GG) durch Gesetz und unter Berücksichtigung des Gemeinwohls zu regeln ist.

Welche Bedeutung haben Grundgesetz und Verfassungsrecht im Zusammenhang mit der Vergesellschaftung?

Das Grundgesetz ist die maßgebliche rechtliche Leitlinie für alle Vergesellschaftungsvorhaben. Besonders relevant sind Art. 14 und Art. 15 GG: Art. 14 GG schützt das Eigentum umfassend, erlaubt aber unter strengen Voraussetzungen Enteignungen zum Gemeinwohl. Art. 15 GG eröffnet ausdrücklich die Möglichkeit, Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel „zum Zwecke der Vergesellschaftung“ in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft zu überführen – allerdings immer nur „durch ein Gesetz“. Dies bedeutet, dass der Gesetzgeber explizit tätig werden muss und eine bloß exekutive Maßnahme nicht zulässig ist. Die Ausgestaltung der Vergesellschaftung muss dabei sowohl den Anforderungen der Verfassung an das Gesetzgebungsverfahren als auch an Rechtsschutz, Verfahrenstransparenz und individuellen Ausgleich genügen. Jede Maßnahme der Vergesellschaftung unterliegt zudem der gerichtlichen Kontrolle durch die Verwaltungs- und Verfassungsgerichte.