Begriff und Bedeutung der Vergabe- und Vertragsordnungen
Vergabe- und Vertragsordnungen bezeichnen in Deutschland Regelwerke, die sowohl die Vergabe öffentlicher Aufträge als auch die Durchführung und Abwicklung von Bauleistungen, Lieferungen und Dienstleistungen regeln. Diese Ordnungen dienen der Vereinheitlichung, Transparenz und Rechtssicherheit im öffentlichen Auftragswesen sowie der Sicherstellung eines fairen, diskriminierungsfreien Wettbewerbs. Die Vergabe- und Vertragsordnungen sind im Wesentlichen als Verwaltungsanweisungen ausgestaltet, entfalten jedoch erhebliche rechtliche Bindungswirkung, insbesondere im Zusammenhang mit dem Haushaltsrecht und der Vergabepraxis der öffentlichen Hand.
Historische Entwicklung der Vergabe- und Vertragsordnungen
Die ursprüngliche Fassung der Vergabe- und Vertragsordnungen wurde bereits im 19. Jahrhundert eingeführt, um die staatlichen Bauaufträge nach klaren Regeln zu verteilen. Bis heute haben sich die Regelwerke strukturell und inhaltlich fortentwickelt, insbesondere durch die europarechtlichen Vorgaben und die zunehmende Bedeutung von Transparenz und Wirtschaftlichkeit im Vergabewesen.
Systematik und Aufbau
Unterteilung der Vergabe- und Vertragsordnungen
Die Vergabe- und Vertragsordnungen bestehen aus verschiedenen Einzelregelwerken, je nach Leistungsbereich:
- Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB)
- Vergabe- und Vertragsordnung für Leistungen (VOL)
- Vergabe- und Vertragsordnung für freiberufliche Leistungen (VOF; außer Kraft getreten, ersetzt durch die Verordnung über die Vergabe öffentlicher Aufträge – VgV)
VOB – Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen
Die VOB gliedert sich in drei Teile:
- VOB/A: Allgemeine Bestimmungen für die Vergabe von Bauleistungen
- VOB/B: Allgemeine Vertragsbedingungen für die Ausführung von Bauleistungen
- VOB/C: Allgemeine Technische Vertragsbedingungen für Bauleistungen
VOL – Vergabe- und Vertragsordnung für Leistungen
Die VOL regelte die Vergabe und Vertragsgestaltung für Leistungen (Lieferungen und Dienstleistungen). Die VOL/A wurde weitgehend durch die Vergabeverordnung (VgV) ersetzt. Sie gliederte sich ebenfalls in einen Vergabe- und einen Vertragsregelungsteil.
VOF – Vergabe- und Vertragsordnung für freiberufliche Leistungen
Die VOF war speziell für Dienstleistungen von Ingenieuren und Architekten konzipiert und ist seit der EU-Vergaberechtsreform nicht mehr anwendbar. Ihre Inhalte sind in der aktuellen VgV und im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) aufgegangen.
Rechtsgrundlagen und Anwendungsbereich
Gesetzliche Verortung
Die Geltung der Vergabe- und Vertragsordnungen ergibt sich vor allem aus:
- Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)
- Vergabeverordnung (VgV)
- Vergabeverordnung für die Bereiche Verteidigung und Sicherheit (VSVgV)
- Haushaltsordnungen des Bundes und der Länder
Öffentliche Auftraggeber sind grundsätzlich verpflichtet, bei der Ausschreibung und Vergabe von Aufträgen diese Ordnungen zu beachten. Ausnahmen bestehen in besonderen Fällen, etwa im Verteidigungsbereich.
Bindungswirkung der Vergabe- und Vertragsordnungen
Die Anwendung der Vergabe- und Vertragsordnungen ist für öffentliche Auftraggeber aufgrund des Haushaltsrechts verbindlich. Gegenüber den Bietern wirkt dies als mittelbare Bindung: Sie haben einen Anspruch darauf, dass der Auftraggeber die einschlägigen Vergabegrundsätze anwendet und einzuhalten hat.
Inhaltliche Schwerpunkte der Vergabe- und Vertragsordnungen
Vergabe und Wettbewerb
Die Ordnungen regeln detailliert das gesamte Verfahren von der Vorbereitung des Vergabeverfahrens über die Bekanntmachung, Angebotsabgabe, Angebotswertung bis zur Zuschlagserteilung. Sie dienen dem Schutz der Grundsätze von Wettbewerb, Transparenz, Gleichbehandlung, Nichtdiskriminierung und Wirtschaftlichkeit.
Vertragsbedingungen
Die VOB/B beispielsweise beinhaltet detaillierte Regelungen zur Vertragsausführung, zu Rechten und Pflichten der Parteien, zu Fristen, Mängelansprüchen, Abnahme und Abrechnung. Die VOL/B (sofern anwendbar) enthält ähnliche Vorschriften für Lieferungen und Dienstleistungen.
Technische Mindeststandards
Insbesondere die VOB/C enthält umfangreiche Regelungen zu technischen Mindestanforderungen, die in den jeweiligen Einzelgewerken der Baubranche einzuhalten sind. Diese dienen dazu, einheitliche und überprüfbare Qualitätsstandards zu gewährleisten.
Europarechtlicher Bezug
Umsetzung europarechtlicher Vorgaben
Die deutschen Vergabe- und Vertragsordnungen setzen Vorgaben der EU-Vergaberichtlinien um. Öffentliche Ausschreibungen, die bestimmte Schwellenwerte übersteigen, richten sich zwingend nach den europarechtlichen Vorschriften und werden durch das deutsche Vergaberecht flankiert. Das betrifft unter anderem Regelungen zur europaweiten Bekanntmachung, Nachprüfungsverfahren und Rechtsschutzmöglichkeiten.
Einfluss auf nationales Recht
Die fortschreitende Europäisierung des Vergaberechts hat zur Folge, dass nationale Regelungen regelmäßig anzupassen sind, um den EU-Richtlinien zu entsprechen. Die zentralen Prinzipien – Transparenz, Gleichbehandlung, Nichtdiskriminierung und Verhältnismäßigkeit – bilden die Grundpfeiler beider Rechtsordnungen.
Nachprüfungs- und Rechtsschutzmöglichkeiten
Vergaberechtlicher Rechtsschutz
Bieter, die sich durch eine fehlerhafte Anwendung der Vergabe- und Vertragsordnungen in ihren Rechten verletzt sehen, können im Oberschwellenbereich Nachprüfungsstellen anrufen. Hierbei ist ein abgestuftes Rechtsschutzsystem vorgesehen, das zunächst die Nachprüfungsinstanzen (Vergabekammern) und im Weiteren die Beschwerdeinstanzen (Oberlandesgerichte) einschließt.
Rechtsfolgen bei Verstößen
Verstöße gegen die Vergabe- und Vertragsordnungen können schwere rechtliche Folgen haben, wie die Aufhebung der Ausschreibung oder den Anspruch auf Schadensersatz. Im Einzelfall ist auch ein Ausschluss vom weiteren Verfahren möglich.
Bedeutung und praktische Relevanz
Die Vergabe- und Vertragsordnungen sind essenzielles Instrumentarium zur Sicherstellung eines rechtmäßigen, fairen und transparenten Vergabeverfahrens im öffentlichen Auftragswesen. Sie haben Auswirkungen auf sämtliche Beteiligte – von den öffentlichen Auftraggebern über die Wirtschaftsbeteiligten bis hin zu den Kontrollinstanzen – und prägen die Praxis der öffentlichen Beschaffung nachhaltig. Sie stellen ein Kernelement zur Vermeidung von Korruption, zu effizientem Mitteleinsatz und zur Einhaltung wettbewerbsrechtlicher Prinzipien dar.
Literaturhinweise und weiterführende Informationen
- Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (Hrsg.): Vergabehandbuch für die Durchführung von Bauaufgaben des Bundes
- Bundesanzeiger Verlag: VOB Gesamtausgabe
- Beck’scher Vergaberechtskommentar
Diese Darstellung bietet einen vollständigen Überblick über die Vergabe- und Vertragsordnungen, ihre Rechtsgrundlagen, Funktionen und Bedeutung im deutschen Vergaberecht.
Häufig gestellte Fragen
Wie ist das Verhältnis zwischen den Vergabe- und Vertragsordnungen (VOB, VOL, VgV) und dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) rechtlich ausgestaltet?
Die Vergabe- und Vertragsordnungen, wie die Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB), für Leistungen (VOL) und die Vergabeverordnung (VgV), sind im rechtlichen Kontext als untergesetzliche Regelwerke einzuordnen, die auf Basis des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) erlassen wurden. Das GWB fungiert als Rahmengesetz, das die grundlegenden Prinzipien des Wettbewerbs und der Vergabe öffentlicher Aufträge normiert. Insbesondere im vierten Teil (§§ 97 ff.) regelt das GWB das Vergaberecht, legt zentrale Grundsätze wie Transparenz, Gleichbehandlung, Nichtdiskriminierung und Wettbewerb fest und bestimmt, dass der Bund und die Länder zur näheren Ausgestaltung dieser Prinzipien Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften erlassen. Die Vergabeordnungen wie VOB/A, VOL/A und die VgV konkretisieren diese gesetzlichen Anforderungen im Detail, indem sie beispielsweise Verfahrensarten, Fristen, Dokumentationspflichten, Auswahlkriterien und Anforderungen an die Eignung der Bieter näher ausgestalten. Im Streitfall ist zunächst auf das GWB als vorrangige Rechtsquelle zurückzugreifen; die Vergabeordnungen haben demgemäß eine abgeleitete, konkretisierende Funktion. Ein Verstoß gegen die Vergabeordnungen stellt somit in der Regel auch einen Verstoß gegen das höherrangige Recht, insbesondere die vergaberechtlichen Kernnormen des GWB, dar, was wiederum die Anrufung der Vergabekammern ermöglichen kann.
Welche rechtlichen Verpflichtungen ergeben sich für öffentliche Auftraggeber aus den Vergabe- und Vertragsordnungen?
Öffentliche Auftraggeber sind nach deutschem Recht verpflichtet, ab bestimmten Schwellenwerten bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen die einschlägigen Vergabeordnungen anzuwenden. Die Verpflichtung ergibt sich aus dem GWB sowie den darauf beruhenden Rechtsverordnungen wie VgV und SektVO (Sektorenverordnung). Oberhalb der EU-Schwellenwerte sind die Regelungen zwingendes Recht und verpflichten den Auftraggeber zur Durchführung eines förmlichen Vergabeverfahrens (offenes, nichtoffenes Verfahren oder Verhandlungsverfahren). Die Einhaltung der Vergabeordnungen ist dabei nicht lediglich eine interne Verwaltungsvorschrift, sondern hat den Charakter von verbindlichem objektivem Recht, dessen Missachtung zu Nachprüfungsverfahren vor den Vergabekammern führt. Unterhalb der EU-Schwellenwerte gelten die jeweils einschlägigen Abschnitte der Vergabeordnungen (z. B. Abschnitt 1 der VOB/A oder VOL/A) als Haushaltsrecht und sind durch haushaltsrechtliche Vorgaben (z. B. § 55 BHO/LHO, Haushaltsordnungen) verbindlich vorgeschrieben. Die Nichteinhaltung kann hier zu haushaltsrechtlichen Konsequenzen und Beanstandungen durch Rechnungshöfe führen.
Welche Rechtsfolgen hat ein Verstoß gegen die Vergabe- und Vertragsordnungen für Bieter und Auftraggeber?
Ein Verstoß gegen die Vergabeordnungen kann gravierende rechtliche Folgen für alle Beteiligten nach sich ziehen. Für den öffentlichen Auftraggeber besteht das Hauptrisiko darin, dass betroffene Bieter einen Nachprüfungsantrag gemäß § 160 GWB bei der Vergabekammer stellen können. Diese kontrolliert sodann das Vergabeverfahren auf formelle und materielle Rechtsverstöße gegen das GWB, die VgV und die einschlägigen Vergabeordnungen. Stellt die Vergabekammer einen Verstoß fest, so kann sie das gesamte Verfahren für nichtig erklären bzw. den Auftraggeber zur Rückabwicklung oder zur erneuten Durchführung der Vergabe verpflichten. In besonders gravierenden Fällen, etwa bei vorsätzlichen, wiederholten oder diskriminierenden Vergabeverstößen, kann dies außerdem zu Schadensersatzansprüchen nach § 181 GWB führen. Für Bieter kann ein Ausschluss vom Verfahren drohen, etwa bei Verstößen gegen Integritätspflichten, Nachweis- oder Offenlegungspflichten im Rahmen der Angebotsabgabe. Überdies können Verstöße auch Ordnungswidrigkeiten- oder strafrechtlich relevant sein, z. B. bei Bestechung oder unlauteren Absprachen.
Inwieweit sind Vergabe- und Vertragsordnungen mit europarechtlichen Vorgaben und Richtlinien zu harmonisieren?
Die Vergabe- und Vertragsordnungen des deutschen Rechts stehen in einem engen Zusammenhang mit dem europäischen Vergaberecht. Das deutsche Vergaberecht, insbesondere die Regelungen in GWB, VgV sowie VOB/A (EU), spiegeln die europäischen Richtlinien (2014/24/EU, 2014/25/EU, 2014/23/EU) wider, die eine Harmonisierung der Vergabeöffnungsregeln innerhalb der EU bezwecken. Die Umsetzung europarechtlicher Vorgaben erfolgt dabei grundsätzlich im Wege der Transformation in nationales Recht, wobei die EU-Richtlinien Mindestanforderungen setzen, die im nationalen Recht nicht unterschritten werden dürfen. Die Vergabe- und Vertragsordnungen dienen der detaillierten Umsetzung dieser unionsrechtlichen Vorgaben und dürfen deren Spielräume nutzen, sie aber nicht unterlaufen. Das sogenannte Anwendungsvorrangprinzip des EU-Rechts gilt: Kommt es zu einem Konflikt zwischen deutschem Vergaberecht und europäischem Recht, geht letzteres vor; deutsche Normen sind im Lichte des EU-Rechts auszulegen oder, bei Unvereinbarkeit, unangewendet zu lassen.
Gelten die Vergabe- und Vertragsordnungen auch für private Auftraggeber?
Vergabe- und Vertragsordnungen gelten grundsätzlich nicht für private Auftraggeber, sondern adressieren ausschließlich öffentliche Auftraggeber im Sinne des § 99 GWB, das heißt Bund, Länder, Kommunen, juristische Personen des öffentlichen Rechts sowie Sektorenauftraggeber und besondere öffentliche Unternehmen. Private Unternehmen sind nicht durch die zwingenden Regelungen der VOB/A, VOL/A oder VgV gebunden, es sei denn, sie handeln bei der Vergabe im Auftrag oder für Rechnung der öffentlichen Hand (sog. mandatierte Vergabestelle oder Treuhänderbeziehung). In Ausnahmefällen können allerdings auch private Auftraggeber verpflichtend gebunden sein, etwa wenn sie für öffentliche Auftraggeber wesentliche Aufgaben im Allgemeininteresse wahrnehmen und maßgeblich von diesen finanziert oder kontrolliert werden (vgl. „öffentliche Auftraggeber“ im erweiterten Sinne). Für alle anderen gilt: Die Anwendung der Vergabeordnungen ist freiwillig oder kann auf individualvertraglicher Basis vereinbart werden (z. B. Übernahme der VOB/B als Vertragsgrundlage im Bauvertrag).
Wie wird die Einhaltung der Vergabe- und Vertragsordnungen durch Dritte kontrolliert und welche Rechtsmittel stehen zur Verfügung?
Die Kontrolle der Einhaltung der Vergabe- und Vertragsordnungen erfolgt durch unterschiedliche Stellen je nach Auftragswert und Rechtsverstoß. Oberhalb der Schwellenwerte ist die Nachprüfung von Vergabeverstößen Aufgabe der Vergabekammern auf Antrag eines beschwerten Bieters gemäß §§ 155 ff. GWB, deren Entscheidungen wiederum einer sofortigen Beschwerde an die Oberlandesgerichte unterliegen (§ 171 GWB). Unterhalb der Schwellenwerte erfolgt eine Kontrolle primär durch interne Revision, Rechnungshöfe und – in Form des „Interessenwahrungsantrags“ – durch Widerspruchsverfahren. Auch das EU-Vergabenachprüfungsrecht (Remedies-Richtlinie) ist maßgeblich für die Verfahrenssicherung. Weitere wichtige Prüfungsinstanzen sind Landesrechnungshöfe, die gesonderte Prüfungsbefugnisse ausüben und die Einhaltung der Haushalts- und Vergabevorschriften sicherstellen. Auch die Aufsicht durch Fachaufsichts- oder Kommunalaufsichtsbehörden nach Landesrecht kann relevante Verstöße ahnden. Rechtsmittel stehen dabei sowohl dem Bieter (durch Nachprüfungsverfahren) als auch dem Auftraggeber (z. B. Beschwerde gegen Entscheidungen der Vergabekammer) offen.