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Unvollkommene Verbindlichkeit


Begriff und Bedeutung der Unvollkommenen Verbindlichkeit

Die unvollkommene Verbindlichkeit ist ein Begriff des Zivilrechts und bezeichnet ein Schuldverhältnis, das trotz tatsächlichem Bestehen keine oder eingeschränkte rechtliche Durchsetzbarkeit besitzt. Sie unterscheidet sich damit von vollkommenden Verbindlichkeiten, bei denen der Gläubiger die Leistung vom Schuldner rechtlich verlangen und einklagen kann. Unvollkommene Verbindlichkeiten erfüllen zwar grundsätzlich die allgemeinen Voraussetzungen eines Schuldverhältnisses, sind jedoch mit rechtlichen Einschränkungen verbunden, die sich insbesondere auf die Klagbarkeit bzw. die Gerichtsverwertbarkeit beziehen.

Wesen der Unvollkommenen Verbindlichkeit

Unvollkommene Verbindlichkeiten entstehen in Situationen, in denen entweder gesellschaftspolitische, rechtsethische oder persönliche Gründe eine Einschränkung der rechtlichen Durchsetzbarkeit nahelegen. Hierbei bleibt häufig der Rechtsgrund erhalten, jedoch ohne die Möglichkeit, die Erfüllung mittels Klageweg oder Vollstreckung zu erzwingen. Der Schuldner ist zwar zu einer Leistung verpflichtet, der Gläubiger kann diese jedoch rechtlich nicht oder nur eingeschränkt geltend machen. Wird die Leistung dennoch freiwillig erbracht, ist sie rechtmäßig und kann in der Regel nicht zurückgefordert werden.

Formen unvollkommener Verbindlichkeiten

Natürliche Verbindlichkeiten

Die bedeutendste Ausprägung ist die sogenannte natürliche Verbindlichkeit (lat. obligatio naturalis). Bei ihr besteht eine Verpflichtung des Schuldners zur Leistung, die jedoch nicht klagbar ist. Beispiele hierfür sind verjährte Forderungen (§ 214 BGB), Spiel- und Wettschulden (§ 762 Abs. 1 Satz 2 BGB) oder bestimmte moralische Verpflichtungen, bei denen das Rechtssystem eine Klagbarkeit grundsätzlich ausschließt.

Verjährte Forderungen

Nach Eintritt der Verjährung kann der Schuldner die Leistung verweigern (§ 214 Abs. 1 BGB), ist aber weiterhin zur Leistung verpflichtet, soweit er freiwillig leistet. In diesem Fall kann das Geleistete nicht mehr gemäß den Regeln der ungerechtfertigten Bereicherung zurückgefordert werden (§ 214 Abs. 2 BGB).

Spiel- und Wettschulden

Nach deutschem Recht sind Ansprüche aus Spiel oder Wette gemäß § 762 Abs. 1 BGB nicht einklagbar. Bereits erbrachte Leistungen dürfen nicht zurückgefordert werden, selbst wenn dem Anspruch keine rechtliche Durchsetzbarkeit zukommt.

Ehrenverbindlichkeit

Ehrenverbindlichkeiten sind Verpflichtungen, die auf gesellschaftlichen oder persönlichen Gründen basieren, jedoch keine rechtliche Bindungswirkung entfalten. Die Rechtsordnung sieht dennoch vor, dass eine auf einer Ehrenverpflichtung beruhende Leistung nicht rückforderbar ist, wenn sie bewusst erbracht wurde.

Rechtsfolgen der Unvollkommenen Verbindlichkeit

Die unverzichtbare Eigenschaft der unvollkommenen Verbindlichkeit ist, dass sie rechtlich nicht oder nur eingeschränkt durchsetzbar ist. Dies bringt folgende konkrete Rechtsfolgen mit sich:

  1. Ausschluss der Klagbarkeit: Der Gläubiger ist nicht berechtigt, die Erfüllung der Verbindlichkeit vor Gericht einzuklagen. Eine Klage auf Erfüllung bleibt erfolglos.
  2. Wahrung der Leistungspflicht: Die Pflicht des Schuldners zur Leistung bleibt tatsächlich bestehen.
  3. Keine Rückforderung bei Erfüllung: Wird die Leistung freiwillig bewirkt, ist eine Rückforderung nach den allgemeinen Regeln nicht möglich. Die Leistung ist nicht rechtsgrundlos erfolgt.
  4. Bindung an die freiwillig erbrachte Leistung: Die Leistung wird rechtswirksam erbracht und entfaltet alle Rechtswirkungen, die einer Erfüllung zugeordnet sind.

Unterscheidung zu anderen Verbindlichkeiten

Unvollkommene Verbindlichkeiten sind abzugrenzen von vollständig unwirksamen oder nichtigen Verpflichtungen. Bei Letzteren fehlt es bereits an einem wirksamen (Rechts-)Grund, sodass Erfüllungshandlungen als rechtsgrundlos beansprucht oder zurückgefordert werden können (etwa bei Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot gemäß § 134 BGB oder bei Sittenwidrigkeit gemäß § 138 BGB). Die unvollkommene Verbindlichkeit besteht hingegen grundsätzlich, ist jedoch mit Einschränkungen der rechtlichen Durchsetzbarkeit versehen.

Beispiele im deutschen Recht

  • Verjährte Forderungen: Nach Ablauf der Verjährungsfrist (§ 214 BGB)
  • Spiel- und Wettschulden: Nicht klagbar, aber auch nicht rückforderbar (§ 762 BGB)
  • Moralische und gesellschaftliche Verpflichtungen: Solche, die auf gesellschaftlichen Normen, aber nicht auf rechtlichen beruhen

Rechtsvergleich und internationale Bezüge

Auch in anderen Rechtssystemen existieren ähnliche Konzepte zur unvollkommenen Verbindlichkeit. Im römischen Recht wurde diese als „obligatio naturalis“ bezeichnet, was maßgeblich die modernen Ausprägungen in kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen beeinflusst hat. Im Common Law etwa wird der Begriff „natural obligation“ verwendet, mit einer ähnlichen Funktion.

Zusammenfassung und Bedeutung

Unvollkommene Verbindlichkeiten stellen einen Sonderfall des Schuldverhältnisses dar, bei dem die rechtsdogmatische Anerkennung der Verpflichtung nicht mit einer vollen Klagbarkeit einhergeht. Sie sichern gesellschaftliche oder ethische Interessen, ohne das Rechtssystem mit der Durchsetzung solcher Interessen zu belasten. Die praktische Bedeutung liegt in der Abgrenzung zu nichtigen Rechtsgeschäften und verjährten Forderungen sowie im Schutzzweck vor missbräuchlicher Inanspruchnahme rechtlicher Durchsetzungsmöglichkeiten.

Literatur und Quellen

  • Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)
  • Heinrich Dörner, „Die unvollkommene Verbindlichkeit im Bürgerlichen Recht“, JZ 1972, S. 349 ff.
  • Heinrich Lange/Heinrich Kuchinke: Lehrbuch des Schuldrechts. 12. Auflage, München 2008.
  • Soergel/Beuthien, BGB Kommentar, 14. Auflage, § 214 BGB
  • Staudinger, Kommentar zum BGB, § 214 BGB

Dieser Artikel vermittelt einen umfassenden Überblick zur unvollkommenen Verbindlichkeit und beleuchtet den Begriff in seinem gesamten rechtlichen Kontext.

Häufig gestellte Fragen

Was unterscheidet die unvollkommene Verbindlichkeit von der vollkommenen Verbindlichkeit im deutschen Recht?

Im deutschen Recht besteht der grundlegende Unterschied zwischen einer unvollkommenen und einer vollkommenen Verbindlichkeit vor allem in der rechtlichen Durchsetzbarkeit der Forderung. Eine vollkommene Verbindlichkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass der Gläubiger einen vollstreckbaren Anspruch gegenüber dem Schuldner geltend machen kann; also hat der Gläubiger das Recht, im Wege der Klage die Leistung einzufordern und ggf. im Erfolgsfall Zwangsvollstreckungsmaßnahmen zu betreiben. Die unvollkommene Verbindlichkeit hingegen ist durch einen rechtlichen Durchsetzungshemmnis geprägt: Zwar besteht ein Schuldverhältnis, aus dem grundsätzlich eine Verpflichtung zur Leistung hervorgeht, diese kann aber – aus bestimmten rechtlichen Gründen – vor Gericht vom Gläubiger nicht eingeklagt oder durchgesetzt werden. Das bedeutet, dass der Anspruch rechtlich existiert, jedoch keine Klagbarkeit besitzt. Typische Beispiele hierfür sind die sogenannte Naturalobligation, wie sie z.B. bei verjährten Forderungen, Spiel- und Wettschulden (§§ 762, 763 BGB) oder bei sittlichen Verpflichtungen vorliegt. Der Schuldner kann die Leistung freiwillig erbringen, ohne dass der Gläubiger dadurch verpflichtet wäre, diese zurückzugeben (§ 762 Abs. 2 BGB bei Spieleinsatz). Das rechtliche Hemmnis unterscheidet sich je nach Regelung: Entweder durch eine zivilrechtliche Regelung wie bei der Verjährung oder durch gesetzliche Vorschriften, die die Klagbarkeit ausdrücklich ausschließen.

Welche Bedeutung hat die unvollkommene Verbindlichkeit bei verjährten Forderungen?

Verjährte Forderungen stellen ein klassisches Anwendungsfeld der unvollkommenen Verbindlichkeit im deutschen Recht dar. Wenn eine Forderung verjährt ist, bleibt die rechtliche Verpflichtung grundsätzlich weiterhin bestehen, wird aber durch das Leistungsverweigerungsrecht des Schuldners (§ 214 BGB) in ihrer Durchsetzbarkeit beschränkt. Das bedeutet, dass der Schuldner nach Eintritt der Verjährung berechtigt ist, die Leistung dauerhaft zu verweigern, falls der Gläubiger Zahlung verlangt. Jedoch entfällt mit der Verjährung nicht die zur ursprünglichen Forderung gehörende Verbindlichkeit als solche. Leistet der Schuldner trotzdem – zum Beispiel, weil ihm die Verjährung nicht bekannt ist oder weil er aus moralischen Gründen zahlen möchte – so gilt diese Leistung gemäß § 214 Abs. 2 BGB als wirksam erbracht und kann wegen des Fehlens eines Rückforderungsanspruchs nicht zurückgefordert werden. Der Rechtfertigungsgrund für diese Behandlung ist, dass die Verjährung kein materieller Einwand gegen die Forderung selbst, sondern lediglich ein zeitbezogener, prozessualer Einwand ist. Die Forderung wird somit zu einer Naturalobligation und manifestiert das Prinzip der unvollkommenen Verbindlichkeit.

Wie wirkt sich das Vorliegen einer unvollkommenen Verbindlichkeit auf die Möglichkeit der Aufrechnung aus?

Die Möglichkeit der Aufrechnung nach §§ 387 ff. BGB ist bei unvollkommenen Verbindlichkeiten grundsätzlich ausgeschlossen. Da es sich bei der unvollkommenen Verbindlichkeit um eine Forderung handelt, die nicht mehr klagbar ist, fehlt es an einer sogenannten „durchsetzbaren“ oder erzwingbaren Forderung, was nach herrschender Meinung eine wesentliche Voraussetzung für die Aufrechenbarkeit darstellt. Insbesondere bei verjährten Forderungen regelt § 215 BGB ausdrücklich, dass mit einer verjährten Forderung nicht aufgerechnet werden kann, wenn der Schuldner sich auf die Verjährung beruft. Davon gibt es jedoch Ausnahmen, etwa wenn die Forderung im Zeitpunkt der Aufrechnungslage noch nicht verjährt war, und erst später der Verjährungseinwand erhoben wurde. Auch im Kontext anderer unvollkommener Verbindlichkeiten, wie etwa Spiel- und Wettschulden (§ 762 BGB), besteht keine Möglichkeit der Aufrechnung, da es an der notwendigen Klagbarkeit fehlt. Dies dient dem Schutz des Schuldners vor einer Umgehung der gesetzlichen Durchsetzungssperren durch die Konstruktion von Aufrechnungslagen.

Welche Rolle spielt die unvollkommene Verbindlichkeit im Insolvenzverfahren?

Im Rahmen des Insolvenzverfahrens ist die unvollkommene Verbindlichkeit aus einer Reihe von Gründen von Bedeutung. Nach der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens werden nur diejenigen Forderungen zur Insolvenztabelle zugelassen, die eine durchsetzbare und vollkommene Verbindlichkeit darstellen. Unvollkommene Verbindlichkeiten kommen daher grundsätzlich nicht zur Anmeldung in das Insolvenzverfahren in Betracht. Forderungen, die aufgrund von Verjährung, Spiel- oder Wettschulden oder anderen gesetzlich nicht einklagbaren Gründen unvollkommen geworden sind, berechtigen damit nicht zur Beteiligung am Insolvenzverfahren und zur Quotenteilnahme an der Insolvenzmasse. Dies gewährleistet die Gleichbehandlung aller Insolvenzgläubiger und schützt vor der nachträglichen Durchsetzung von Forderungen, die der Gesetzgeber von einer gerichtlichen Geltendmachung ausgenommen hat. Leistet der Insolvenzschuldner allerdings während des Insolvenzverfahrens freiwillig auf eine unvollkommene Verbindlichkeit, so bleibt dies nach allgemeinen Grundsätzen (etwa Treu und Glauben und § 214 Abs. 2 BGB analog) möglich, ohne dass dies Rückforderungsansprüche auslöst.

Welche Bedeutung hat die unvollkommene Verbindlichkeit bei der Schenkung und im Erbrecht?

Im Bereich der Schenkung und des Erbrechts kann die unvollkommene Verbindlichkeit insbesondere im Hinblick auf die Wirksamkeit von Zuwendungen und Vermögensübertragungen eine Rolle spielen. Erbringt eine Person eine Schenkung oder hinterlässt eine Zuwendung im Testament zugunsten des Gläubigers einer unvollkommenen Verbindlichkeit (z.B. zur Begleichung einer verjährten Forderung oder einer Spielschuld), so ist diese Verfügung grundsätzlich als rechtlich wirksam zu betrachten, da die unvollkommene Verbindlichkeit nicht schlechthin als nichtig gilt, sondern lediglich der Durchsetzbarkeit entzogen ist. Gerade im Erbrecht folgt daraus, dass Vermächtnisse oder Auflagen, die auf der Erfüllung unvollkommener Verbindlichkeiten beruhen, wirksam angeordnet werden können, sofern der Erblasser dies explizit wünscht. Im Bereich der Schenkung bleibt die Erfüllung einer unvollkommenen Verbindlichkeit zudem von Regelungen über sogenannte Kenntnisschenkungen oder zweckgebundene Zuwendungen unberührt, sofern der freiwillige Charakter der Leistung gewahrt bleibt.

Können unvollkommene Verbindlichkeiten zu einem gutgläubigen Erwerb führen?

Im deutschen Recht ist der gutgläubige Erwerb im Kontext unvollkommener Verbindlichkeiten insbesondere bei der Abtretung (Zession) relevant. Nach § 404 BGB kann der Schuldner dem neuen Gläubiger (Zessionar) alle Einwendungen entgegensetzen, die er dem alten Gläubiger (Zedent) entgegenhalten konnte. Ist der abgetretene Anspruch jedoch unvollkommen (z.B. weil er verjährt ist), so kann auch der neue Gläubiger die Forderung nicht gerichtlich durchsetzen. Ein gutgläubiger Erwerb einer vollkommenen Verbindlichkeit ist insofern ausgeschlossen, als dass auch der Erwerber der Forderung deren rechtliche Beschränkungen übernimmt. Die Unvollkommenheit der Verbindlichkeit „klebt“ somit der Forderung auch nach der Abtretung an, unabhängig davon, ob der Erwerber Kenntnis von der Unvollkommenheit hatte oder nicht. Dies gilt insbesondere, um den Schuldner zu schützen und die Durchsetzungsbeschränkung aufrechtzuerhalten. Eine Ausnahme könnte allenfalls im Zusammenhang mit abhanden gekommenen Inhaberpapieren oder Schecks bestehen, bei denen nach speziellen Regeln – etwa dem Scheckgesetz – unter engen Voraussetzungen ein gutgläubiger Erwerb in Betracht kommt; dies betrifft jedoch nicht die klassische unvollkommene Verbindlichkeit nach BGB.