Begriff und rechtliche Einordnung des Unterlassens
Unterlassen bezeichnet im Rechtswesen das Ausbleiben einer Handlung, obwohl in der jeweiligen Situation eine Vornahme dieser Handlung möglich und – je nach Rechtsgebiet – geboten gewesen wäre. Im Gegensatz zum aktiven Tun umfasst das Unterlassen damit Formen der Passivität, die rechtlich, insbesondere im Strafrecht, Zivilrecht und öffentlichen Recht, bedeutsam werden können. Das Unterlassen kann sowohl im Zusammenhang mit einer Pflichtverletzung als auch im Hinblick auf Haftung und Sanktionen zu rechtlichen Konsequenzen führen.
Unterlassen im Strafrecht
Überblick
Im Strafrecht kommt dem Unterlassen vor allem im Kontext von sogenannten Unterlassungsdelikten erhebliche Bedeutung zu. Der Gesetzgeber unterscheidet dabei zwischen echtem und unechtem Unterlassungsdelikt.
Echtes Unterlassungsdelikt
Ein echtes Unterlassungsdelikt ist durch ein strafbares Nicht-Handeln definiert, das explizit vom Gesetz unter Strafe gestellt wird. Beispiele hierfür finden sich in mehreren Bestimmungen, wie im deutschen Strafgesetzbuch (StGB) etwa § 323c StGB (unterlassene Hilfeleistung). Hier wird bereits das Ausbleiben einer gebotenen Handlung sanktioniert, ohne dass eine besondere Garantenstellung erforderlich ist.
Tatbestandsmerkmale
- Konkrete Gefahr oder Notlage: Der Tatbestand setzt das Vorliegen einer besonderen Situation voraus, in der Hilfe geboten ist.
- Möglichkeit des Handelns: Der Täter muss in der Lage gewesen sein, die erforderliche Handlung vorzunehmen.
- Keine andere zumutbare Hilfeleistung: Die Handlung darf dem Täter nicht unzumutbar sein.
Unechtes Unterlassungsdelikt
Unechte Unterlassungsdelikte sind solche, bei denen das Unterlassen eine Strafbarkeit nur begründet, wenn eine besondere rechtliche Pflicht zum Tätigwerden, die sogenannte Garantenstellung, besteht. Typische Beispiele sind fahrlässige Tötung durch Unterlassen (§ 13 StGB in Verbindung mit §§ 212, 222 StGB) oder Körperverletzung durch Unterlassen (§ 13 StGB i.V.m. § 223 StGB).
Garantenstellung
Eine Garantenstellung ergibt sich regelmäßig aus:
- Gesetzlicher Vorschrift (z.B. Eltern für ihre Kinder)
- Vertraglicher Übernahme von Aufgaben (z.B. Pflegepersonal)
- Ingerenz (durch pflichtwidriges Vorverhalten geschaffene Gefahr)
- Institutionelle Verantwortung (Übernahme bestimmter Funktionen, z.B. Aufsichtspflichten)
Abgrenzung zum aktiven Tun
Bei unechten Unterlassungsdelikten wird das Unterlassen der aktiven Verursachung gleichgestellt. Maßgebliches Kriterium ist, dass das verantwortliche Verhalten hypothetisch den Erfolg hätte abwenden können (Kausalität).
Unterlassen im Zivilrecht
Allgemeine Grundsätze
Im Zivilrecht kommt dem Unterlassen insbesondere im Zusammenhang mit der Verletzung vertraglicher oder gesetzlicher Schutzpflichten Bedeutung zu. Hierbei können aus einem Unterlassen Schadensersatz- oder Unterlassungsansprüche resultieren, etwa bei der Verletzung von Verkehrssicherungspflichten oder bei Eigentumsstörungen.
Schadensersatzansprüche
Schadensersatzansprüche wegen eines Unterlassens setzen voraus, dass eine Pflicht zum Handeln bestand und ein daraus resultierender Schaden entstanden ist. Beispiele sind das Versäumen von Wartungsarbeiten durch Vermieter oder das Unterlassen der Warnung vor Gefahren.
Unterlassungsanspruch
Ein Unterlassungsanspruch kann sich aus verschiedenen Anspruchsgrundlagen ergeben, beispielsweise:
- Nachbarrechtliche Unterlassungsansprüche bei Störungen des Eigentums oder Besitzes (§ 1004 BGB)
- Unterlassungsansprüche aus dem Persönlichkeitsrecht (§§ 823, 1004 BGB analog)
- Im Wettbewerbsrecht zur Unterbindung unlauterer geschäftlicher Handlungen (§ 8 UWG)
Die Anspruchsgrundlage basiert meist darauf, abwehrfähige Beeinträchtigungen durch potentiell fortdauerndes oder wiederholtes Unterlassen zukünftig zu verhindern.
Unterlassen im öffentlichen Recht
Auch im öffentlichen Recht können Untätigkeit und Unterlassen von Bedeutung sein, dies gilt sowohl für Privatpersonen als auch für Behörden.
Amtshaftung und Verwaltungsrecht
Behördliches Unterlassen kann eine Amtspflichtverletzung darstellen, beispielsweise wenn eine gebotene Amtshandlung nicht vorgenommen wird. Dies kann zu Amtshaftungsansprüchen führen, etwa bei nicht rechtzeitiger Bearbeitung eines Antrags oder unterlassenem Einschreiten bei Gefahrenabwehr durch Ordnungsbehörden.
Öffentlich-rechtliche Handlungs- und Duldungspflichten
Im öffentlichen Recht können Unterlassungspflichten – beispielsweise im Bereich des Umweltrechts oder Baurechts – entstehen, etwa wenn rechtliche Verpflichtungen zur Verhinderung schädlicher Umwelteinwirkungen nicht eingehalten werden.
Dogmatische Einordnung und Abgrenzungen
Begriff des Unterlassens
Rechtsdogmatisch wird das Unterlassen als das Ausbleiben eines willensgesteuerten Tuns verstanden. Entscheidendes Abgrenzungskriterium in der Rechtspraxis ist, ob eine Handlungspflicht bestand und das Erfüllen dieser Pflicht möglich sowie zumutbar war.
Abgrenzung zum positiven Tun
Die Unterscheidung zwischen Unterlassen und Tun kann im Einzelfall schwierig sein, insbesondere wenn Unterlassen mit anderem Verhalten kombiniert wird (sog. pflichtwidriges Nichthandeln mit Nebenhandlungen). Maßgeblich ist, ob nach der Wertung des jeweiligen Sachverhalts das Nicht-Handeln als pflichtwidrig in Erscheinung tritt.
Kausalität und Zurechnung
Im Bereich des Unterlassens ist die Kausalität zwischen der unterlassenen Handlung und dem Erfolg häufig besonderen dogmatischen Anforderungen unterworfen. Es muss mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststehen, dass die gebotene Handlung den Eintritt eines Schadens verhindert hätte („Quasi-Kausalität“).
Bedeutung in der Rechtsprechung
Die Beurteilung von Unterlassungsfällen ist Gegenstand umfangreicher Rechtsprechung. Gerichte legen bei der Feststellung einer Pflicht zum Handeln, deren Zumutbarkeit und Möglichkeit sowie dem hypothetischen Kausalverlauf strenge Maßstäbe an. Insbesondere bei der Garantenstellung im Strafrecht und den Sorgfaltspflichten im Zivilrecht bestehen differenzierte Anforderungen.
Zusammenfassung
Unterlassen stellt ein zentrales Rechtsinstitut dar, das in unterschiedlichsten Rechtsbereichen wie Strafrecht, Zivilrecht und öffentlichem Recht auftaucht. Das Unterlassen gewinnt rechtliche Relevanz insbesondere dann, wenn aus bestehenden Pflichten heraus aktives Handeln erforderlich gewesen wäre und dieses unterlassen wurde. Strafbarkeit oder zivilrechtliche Haftung können dann im Raum stehen, wenn eine Handlungspflicht bestand, deren Verletzung zum Eintritt eines Schadens oder Rechtsgutsverletzung führte. Die rechtliche Beurteilung des Unterlassens hängt dabei wesentlich von der jeweiligen Pflichtlage, der Garantenstellung sowie den spezifischen Umständen des Einzelfalls ab.
Häufig gestellte Fragen
Wann ist ein Unterlassen im rechtlichen Sinne strafbar?
Ein Unterlassen ist im rechtlichen Sinne insbesondere dann strafbar, wenn eine sogenannte Garantenstellung vorliegt, das heißt, wenn eine rechtliche Pflicht zum Handeln besteht. Diese Pflicht kann sich aus Gesetz, Vertrag oder aufgrund vorangehenden gefährdenden Verhaltens ergeben. Das deutsche Strafrecht etwa bestraft Unterlassungsdelikte gemäß § 13 StGB nur dann, wenn der Täter rechtlich dafür einzustehen hat, dass der tatbestandliche Erfolg nicht eintritt. Konkret bedeutet dies, dass beispielsweise Eltern verpflichtet sind, ihre Kinder vor Gefahren zu schützen oder Verkehrsteilnehmer zur Hilfeleistung bei Unfällen verpflichtet sind, sofern ihnen die Hilfe möglich und zumutbar ist. Liegt eine solche Garantenstellung nicht vor, ist das bloße Unterlassen in der Regel nicht strafbar, selbst wenn dadurch ein Schaden entsteht.
Welche Formen der Garantenstellung gibt es bei Unterlassungsdelikten?
Die Garantenstellung wird traditionell in zwei Hauptgruppen unterschieden: Beschützergaranten und Überwachungsgaranten. Beschützergaranten sind Personen, denen die Aufgabe obliegt, bestimmte Rechtsgüter vor Gefahren von außen zu schützen (z. B. Eltern gegenüber ihren Kindern, Arzt gegenüber Patienten während der Behandlung). Überwachungsgaranten hingegen sind diejenigen, die bestimmte Gefahrenquellen überwachen und Schäden durch diese verhindern sollen (wie Fahrzeughalter, die dafür sorgen müssen, dass ihr Fahrzeug verkehrssicher ist). Die jeweilige Garantenstellung muss sich aus dem Gesetz, einem Vertrag, besonders engen Lebensbeziehungen oder einem freiwilligen Gefahrbegründungsverhalten ergeben. Die genaue rechtliche Herleitung erfolgt im Einzelfall anhand der Umstände und gesetzlicher Bestimmungen.
Wie wird der Kausalzusammenhang beim Unterlassen rechtlich bewertet?
Da beim Unterlassen eine Handlung nicht vorgenommen wurde, ist die Kausalitätsprüfung komplexer als bei einem aktiven Tun. Die Rechtsprechung verlangt hier eine sogenannte hypothetische Kausalität: Es wird gefragt, ob der tatbestandliche Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wäre, wenn der Verpflichtete die gebotene Handlung vorgenommen hätte. Ist ein schädlicher Erfolg trotz pflichtgemäßen Handelns nicht sicher zu verhindern gewesen, fehlt es am erforderlichen Kausalzusammenhang. Diese Überlegung spielt insbesondere bei Lebensrettungs- oder Hilfeleistungspflichten eine entscheidende Rolle.
Welche Sanktionen drohen bei einer strafbaren Unterlassung?
Die Sanktionen bei strafbarer Unterlassung orientieren sich grundsätzlich an den Strafandrohungen für das entsprechende aktive Delikt. Wer beispielsweise durch Unterlassen einen Menschen tötet (§ 212 StGB i.V.m. § 13 StGB), wird wie ein Täter durch aktives Tun bestraft. Bei fahrlässigen oder weniger gravierenden Unterlassungsdelikten (wie unterlassene Hilfeleistung nach § 323c StGB) drohen regelmäßig Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr oder Geldstrafen. Neben der strafrechtlichen Ahndung sind auch zivilrechtliche Konsequenzen möglich, insbesondere Schadensersatzforderungen gegenüber dem Unterlassenden, sofern durch das pflichtwidrige Verhalten Vermögensschäden oder sonstige Beeinträchtigungen entstehen.
Welche typischen Unterlassungsdelikte gibt es im deutschen Strafrecht?
Zu den häufigsten Unterlassungsdelikten gehören die unterlassene Hilfeleistung (§ 323c StGB), die unterlassene Rettung aus Gefahr (§ 221 StGB), das Unterlassen gebotener Aufsichtspflichten (insbesondere bei Eltern und Aufsichtspersonen) sowie fahrlässige Körperverletzung oder Tötung durch Unterlassen (§ 222, § 229 StGB i.V.m. § 13 StGB). In speziellen Regelungen können auch wirtschafts- und umweltrechtliche Pflichten unter strafbewehrte Unterlassungen fallen, etwa das Nichtverhindern umweltschädlicher Emissionen.
Welche Rolle spielt die Zumutbarkeit der Handlung beim Unterlassen?
Die Verpflichtung zum Handeln endet dort, wo das Erforderliche dem Verpflichteten nicht zugemutet werden kann. Die Zumutbarkeit wird nach objektiven und subjektiven Kriterien bewertet und berücksichtigt insbesondere mögliche erhebliche Eigengefährdungen oder unüberwindbare Hindernisse. Beispielsweise ist niemand verpflichtet, zur Rettung einer anderen Person sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen oder ernsthafte Gesundheitsschäden zu riskieren. Unzumutbarkeit kann auch bei fehlenden persönlichen Fähigkeiten oder Ressourcen vorliegen, sofern deren Erwerb nicht verlangt werden kann.
Wie unterscheidet sich das echte vom unechten Unterlassungsdelikt?
Echte Unterlassungsdelikte sind solche, bei denen das Unterlassen ausdrücklich und selbstständig im Gesetz als strafbar normiert ist; ein klassisches Beispiel ist die unterlassene Hilfeleistung nach § 323c StGB. Unechte Unterlassungsdelikte hingegen liegen vor, wenn das Gesetz einen Erfolg durch aktives Tun unter Strafe stellt und dieses Delikt gemäß § 13 StGB auch durch Unterlassen begangen werden kann, sofern der Täter eine Garantenstellung innehat (z. B. Tötung durch Unterlassen). Die Unterscheidung ist wichtig für das Verständnis der Strafbarkeit und der notwendigen subjektiven und objektiven Voraussetzungen.