Begriff und rechtliche Einordnung von unsittlichen Rechtsgeschäften
Unsittliche Rechtsgeschäfte sind Verträge oder sonstige rechtsgeschäftliche Handlungen, deren Inhalt gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden (die sogenannte „gute Sitten“) verstößt. In der deutschen Rechtsordnung ist die Unsittlichkeit ein gesetzlicher Nichtigkeitsgrund. Gemäß § 138 Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) sind Rechtsgeschäfte, die gegen die guten Sitten verstoßen, nichtig. Diese Norm soll verhindern, dass durch Rechtsgeschäfte fundamentale Wertvorstellungen der Gemeinschaft missachtet oder ausgehöhlt werden.
Historische Entwicklung und Gesetzeslage
Die Regelung der Nichtigkeit sittenwidriger Rechtsgeschäfte war schon im Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch (ADHGB) und im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) angelegt. Erst mit der Kodifikation des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) im Jahr 1900 wurde in § 138 BGB die explizite Norm zum Schutz der guten Sitten geschaffen. Der Begriff der „guten Sitten“ ist dabei nicht abschließend definiert, sondern wird von der Rechtsprechung und Literatur anhand der jeweils geltenden Sozial- und Moralvorstellungen interpretiert.
Definition und Anwendungsbereich
Ein unsittliches Rechtsgeschäft liegt vor, wenn dessen Zweck, Inhalt oder der zur Erreichung des Zwecks eingeschlagene Weg nach dem Empfinden aller rechtstreu und fair Denkenden als anstößig oder untragbar erscheint. Die Sittenwidrigkeit kann sich sowohl aus dem Inhalt, aus dem Beweggrund (Motiv), als auch aus der Gesamtumstände des Geschäfts ergeben.
Typische Anwendungsbereiche sind beispielsweise:
- Wucher (§ 138 Abs. 2 BGB)
- sittenwidrige Vereinbarungen über das Ehe- oder Zusammenleben (z.B. Heiratsvermittlungsverträge gegen Entgelt)
- Verträge mit sittenwidrigen Zwecksetzungen (z.B. Auftragsmorde, Bestechungsverträge)
- Verträge mit Missbrauch einer dominierenden Verhandlungsposition (insbesondere Schutz besonders schutzwürdiger Personen wie Verbraucher)
Gesetzliche Grundlage: § 138 BGB
Wortlaut von § 138 BGB
„(1) Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig.
(2) Nichtig ist insbesondere ein Rechtsgeschäft, durch das jemand unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen für eine Leistung Vermögensvorteile verspricht oder gewährt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der Leistung stehen (Wucher).“
Abgrenzung zu anderen Nichtigkeitsgründen
Unsittliche Rechtsgeschäfte sind von gegen ein gesetzliches Verbot (§ 134 BGB) verstoßenden Geschäften zu unterscheiden. Während bei § 134 BGB der Verstoß gegen das Gesetz im Vordergrund steht, betrifft § 138 BGB Verstöße gegen das Anstandsgefühl der Gemeinschaft, also die geschriebene und ungeschriebene Wertordnung.
Voraussetzungen der Sittenwidrigkeit
Sittenbegriff und Wertmaßstäbe
Die „guten Sitten“ im Sinne von § 138 BGB sind die dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden zu entnehmenden Wertvorstellungen. Sie richten sich nicht nach subjektiven Auffassungen, sondern nach der objektiven Werteordnung der Gesellschaft. Maßgeblich sind dabei Grundrechte, das Grundgesetz als Wertordnung, das allgemeine persönliche und wirtschaftliche Freiheit und Schutz der Schwächeren.
Maßstab ist dabei die zur Zeit der Vornahme des Rechtsgeschäfts bestehende Wertordnung. Die Beurteilung ist deshalb dynamisch und unterliegt gesellschaftlichem Wandel.
Subjektive und objektive Elemente
Ein unsittliches Rechtsgeschäft setzt in der Regel kein subjektives Fehlverhalten der Beteiligten voraus. Es genügt, wenn objektiv die Schwelle zur Sittenwidrigkeit überschritten wird. Ausnahmen gelten dort, wo gesetzlich auf das subjektive Element („Ausbeutung“ beim Wucher) abgestellt wird.
Gesamtwürdigung der Umstände
Bei der Beurteilung, ob ein Rechtsgeschäft sittenwidrig ist, erfolgt stets eine Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Umstände. Dazu zählen:
- Persönliche Verhältnisse der Parteien (Alter, wirtschaftliche oder soziale Lage)
- Zweck und Inhalt des Geschäfts
- Beweggründe der Vertragsparteien
- Art und Höhe der vereinbarten Leistungen
- Eventuelle Ausnutzung von Notlagen oder Schwächesituationen
Typische Fallgruppen unsittlicher Rechtsgeschäfte
Wucher und wucherähnliche Geschäfte
Wucherische Geschäfte sind in § 138 Abs. 2 BGB als Unterfall geregelt. Sie zeichnen sich durch das Ausnutzen einer Schwächesituation zum eigenen Vorteil und ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung aus. Beispiele sind Kredite zu extrem überhöhten Zinssätzen bei Bedürftigkeit des Schuldners.
Neben dem sogenannten Rechtswucher gibt es auch Inhaltswucher (d.h. auffälliges Missverhältnis der vereinbarten Leistungen) oder Umstandswucher (Ausnutzung besonderer Verhältnisse einer Partei).
Sittenwidrige Zwecksetzung
Rechtsgeschäfte, die der Durchführung eines verbotenen oder sittlich missbilligten Zwecks dienen (zum Beispiel Verträge zur Ermöglichung illegaler Handlungen, Schwarzarbeit, Verabredungen zu Straftaten), sind regelmäßig sittenwidrig und damit nichtig.
Sittenwidrige Eheverträge und familienrechtliche Vereinbarungen
Auch im Familienrecht können Vereinbarungen sittenwidrig sein, beispielsweise wenn Eheverträge einseitig und unverhältnismäßig zu Lasten einer Partei abgeschlossen werden oder der Kernbereich des Familienrechts nicht beachtet wird.
Übermäßige Bindungen und Knebelungsverträge
Vereinbarungen, die eine Partei in unzumutbarer Weise in ihrer Handlungsfreiheit beschränken oder faktisch ihrer wirtschaftlichen Selbstständigkeit berauben (beispielsweise durch extrem lange Laufzeiten oder umfassende Wettbewerbsverbote), können als sittenwidrig bewertet werden.
Rechtsfolgen eines unsittlichen Rechtsgeschäfts
Nichtigkeit
Ein gegen die guten Sitten verstoßendes Rechtsgeschäft ist gemäß § 138 Abs. 1 BGB nichtig. Die Nichtigkeit tritt ipso iure, also kraft Gesetzes, ein. Das Geschäft entfaltet keinerlei Rechtswirkungen.
Rückabwicklung und Kondiktion (§ 812 BGB)
Wurden im Rahmen eines nichtigen, unsittlichen Geschäfts Leistungen erbracht, stellt sich die Frage der Rückabwicklung. Grundsätzlich kann der Leistende das Geleistete nach den Regeln der ungerechtfertigten Bereicherung (§ 812 BGB) zurückfordern, sofern nicht besondere Ausschlussgründe (z.B. § 817 S. 2 BGB: kondiktionsrechtlicher Ausschluss bei Verstoß gegen Gesetz oder Sitte auf beiden Seiten) entgegenstehen.
Auswirkungen auf Nebenabreden und Teilnichtigkeit
Enthält ein Vertrag sittenwidrige Klauseln, wird geprüft, ob nur die sittenwidrige Einzelklausel (§ 139 BGB), oder das gesamte Rechtsgeschäft nichtig ist. Kann der übrige Teil des Vertrags ohne die sittenwidrige Klausel Bestand haben, bleibt dieser in der Regel wirksam.
Bedeutung in der Rechtsprechung
Prüfungsmaßstab der Gerichte
Gerichte prüfen die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts in jedem Einzelfall unter Abwägung aller relevanten Umstände. Besonders intensiv wird geprüft, wenn ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung besteht, eine Partei Schwächesituationen ausgenutzt hat oder der Zweck des Geschäfts gesellschaftlich missbilligt wird.
Beispiele aus der Rechtsprechung
Die Rechtsprechung hat eine Vielzahl von Konstellationen als unsittlich beurteilt, etwa:
- Überhöhte Bürgschaften von Ehepartnern ohne eigenes wirtschaftliches Interesse
- Ratenkaufverträge mit gravierenden Nachteilen für den Käufer
- Sittenwidrige AGB-Bestimmungen, die Verbraucher unangemessen benachteiligen
Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten
Unterschied zu § 134 BGB (gesetzliches Verbot)
Während § 138 BGB auf die sittlichen Wertvorstellungen abstellt, betrifft § 134 BGB Geschäfte, die gegen ein gesetzliches Verbot verstoßen. Überschneidungen sind möglich, jedoch ist bei § 134 ein expliziter Gesetzesverstoß erforderlich.
Unterschied zur Sittenwidrigkeit im Strafrecht
Auch im Strafrecht gibt es einen Sittenbegriff, etwa im Zusammenhang mit Straftatbeständen wie § 184 StGB (Verbreitung pornografischer Schriften). Der sittliche Maßstab in zivilrechtlichen und strafrechtlichen Zusammenhängen kann dabei unterschiedlich sein.
Zusammenfassung
Das unsittliche Rechtsgeschäft ist ein zentraler Terminus im deutschen Zivilrecht. Es schützt die fundamentalen Wertvorstellungen der Rechtsgemeinschaft und verhindert, dass durch Verträge oder andere Rechtsgeschäfte das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verletzt wird. Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 138 BGB sind solche Rechtsgeschäfte nichtig, was weitreichende Folgen für den Schutz von Privatpersonen, Verbrauchern und die wirtschaftliche Praxis hat.
Dieser Artikel bietet einen umfassenden und strukturierten Überblick zum Thema „unsittliche Rechtsgeschäfte“ und dient als fundierte Informationsquelle für die Einordnung und Bewertung solcher Rechtsgeschäfte in rechtlichen Zusammenhängen.
Häufig gestellte Fragen
Welche Rechtsfolgen ergeben sich aus der Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts gemäß § 138 BGB?
Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nach § 138 Absatz 1 BGB nichtig. Das bedeutet, dass das Geschäft von Anfang an als unwirksam gilt und keine rechtlichen Wirkungen entfalten kann. Die Nichtigkeit wirkt ex tunc, d.h. rückwirkend ab dem Zeitpunkt des Vertragsschlusses. Leistungen, die aufgrund eines sittenwidrigen Geschäfts erbracht wurden, können nach den Vorschriften über die ungerechtfertigte Bereicherung (§§ 812 ff. BGB) zurückgefordert werden, sofern kein Ausschlussgrund vorliegt, etwa nach § 817 Satz 2 BGB, wenn auch der Leistende sittenwidrig gehandelt oder gegen ein gesetzliches Verbot verstoßen hat. Außerdem kann ein solches Rechtsgeschäft nicht durch nachträgliche Genehmigung oder Bestätigung wirksam gemacht werden. In bestimmten Fällen können zusätzliche, insbesondere strafrechtliche Konsequenzen für die beteiligten Parteien entstehen.
Wann ist ein Rechtsgeschäft sittenwidrig im Sinne des § 138 BGB?
Ob ein Rechtsgeschäft sittenwidrig ist, beurteilt sich nach dem sogenannten Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden. Es muss eine Gesamtbetrachtung von Inhalt, Beweggrund und Zweck des Rechtsgeschäfts erfolgen. Kriterien können unter anderem die Ausnutzung einer Zwangslage, Unerfahrenheit, erhebliche Unterlegenheit, besonders grobes Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung (Wucher), Verletzung der Menschenwürde oder auch der Gesetzesumgehungscharakter eines Geschäfts sein. Entscheidend ist, dass das Geschäft nach seinem Gesamtcharakter gegen das allgemeine Wert- und Sittenempfinden verstößt, wie es sich vor allem aus dem Grundgesetz und den maßgeblichen Grundwerten der deutschen Gesellschaft ergibt.
Welche Bedeutung hat der Begriff „gute Sitten“ in Bezug auf Rechtsgeschäfte?
Die „guten Sitten“ sind ein unbestimmter Rechtsbegriff, der sich aus dem moralisch-ethischen Werturteil der Gesellschaft ableitet. Er bildet einen Maßstab für die soziale Ordnung und soll verhindern, dass Verträge oder andere Rechtsgeschäfte sittenwidrige Ziele verfolgen oder Methoden anwenden, die das Anstandsgefühl und das Gerechtigkeitsempfinden grob verletzen. Die Beurteilung dessen, was als sittenwidrig angesehen wird, orientiert sich an aktuellen gesellschaftlichen Wertvorstellungen und ist deshalb einem ständigen Wandel unterworfen. Gerichte berücksichtigen dabei nicht nur die geltende Rechtsprechung, sondern auch normative Tendenzen, die sich aus gesellschaftlichem Diskurs und Gesetzgebung ergeben.
Inwiefern unterscheidet sich die Sittenwidrigkeit von der Gesetzeswidrigkeit nach § 134 BGB?
Der Unterschied liegt darin, dass bei der Gesetzeswidrigkeit ein ausdrückliches gesetzliches Verbot verletzt wird, während die Sittenwidrigkeit eine Bewertung anhand moralisch-ethischer Grundsätze ist. Ein nach § 134 BGB nichtiges Geschäft setzt das Vorliegen eines Verbotsgesetzes voraus, das unmittelbar die Nichtigkeit anordnet. Demgegenüber erfasst § 138 BGB auch solche Geschäfte, die zwar nicht gegen ein spezifisches Gesetz, wohl aber gegen die Grundprinzipien von Recht und Moral verstoßen. Eine Überschneidung kann vorliegen, etwa wenn ein verbotswidriges Geschäft zugleich sittenwidrig ist, was häufig beim Wucher (§ 138 Abs. 2 BGB) oder Verträgen mit sozialethisch missbilligtem Inhalt der Fall ist.
Welche Rolle spielt das subjektive Element, insbesondere die Kenntnis der Sittenwidrigkeit, bei der Beurteilung unsittlicher Rechtsgeschäfte?
Grundsätzlich reicht für die Annahme der Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts das objektive Vorliegen eines Verstoßes gegen die guten Sitten aus. Die Parteien müssen in der Regel nicht wissen oder erkennen, dass ihr Geschäft sittenwidrig ist; die moralisch-ethische Bewertung erfolgt unabhängig vom subjektiven Bewusstsein der Beteiligten. In speziellen Konstellationen, etwa bei § 138 Abs. 2 BGB (Wucher), wird jedoch ein subjektives Moment gefordert, nämlich das bewusste Ausnutzen einer Schwächelage des Vertragspartners. In diesen Fällen muss zumindest eine Partei die für die Sittenwidrigkeit konstituierenden Umstände kennen oder sich diese zumindest grob fahrlässig nicht bewusst machen.
Kann die Nichtigkeit eines sittenwidrigen Rechtsgeschäfts auf Teile des Geschäfts beschränkt sein (Teilnichtigkeit)?
Ja, das ist möglich. Nach § 139 BGB bleibt ein Rechtsgeschäft teilweise wirksam, soweit es auch ohne den nichtigen Teil vorgenommen worden wäre. Voraussetzung ist, dass der verbleibende Teil des Rechtsgeschäfts einen eigenständigen und sinnvollen wirtschaftlichen Gehalt hat und davon auszugehen ist, dass die Parteien das Geschäft auch ohne den sittenwidrigen Teil abgeschlossen hätten. Im Zweifelsfall ist von einer Gesamtnichtigkeit des Geschäfts auszugehen, insbesondere wenn eine Trennung der sittenwidrigen und der erlaubten Teilleistung nicht sinnvoll möglich ist.
Wer trägt die Beweislast für die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts?
Im Zivilprozess trägt grundsätzlich die Partei, die sich auf die Nichtigkeit nach § 138 BGB beruft, die Beweislast für die Tatsachen, die den Verstoß gegen die guten Sitten begründen. Das betrifft insbesondere bei Vorliegen eines groben Missverhältnisses (z.B. im Rahmen eines Wuchergeschäfts), die Darlegung und den Nachweis der objektiven sowie gegebenenfalls subjektiven Voraussetzungen. Die Gerichte sind jedoch gehalten, das Vorliegen eines Sittenverstoßes von Amts wegen zu prüfen, wenn die Sachlage Hinweise darauf gibt. In der Praxis ist der Nachweis der Sittenwidrigkeit oft mit erheblichem Aufwand verbunden, da nicht allein auf objektive Fakten, sondern auch auf Wertungsfragen abzustellen ist.