Überholende Kausalität: Begriff, Bedeutung und Einordnung
Überholende Kausalität beschreibt eine besondere Konstellation von Ursache und Wirkung: Eine erste Handlung oder Unterlassung hätte einen bestimmten Erfolg (zum Beispiel einen Schaden oder eine Verletzung) herbeigeführt, wird jedoch durch eine spätere, unabhängige Ursache „überholt“. Der spätere Beitrag bewirkt den Erfolg früher, sodass der Erfolg tatsächlich auf die spätere Ursache zurückgeht, während die frühere Ursache den konkreten Erfolg rechtlich nicht begründet.
Kernidee in einfachen Worten
Es gibt zwei voneinander unabhängige Ursachen. Ursache A setzt zuerst an und würde den Erfolg zu einem späteren Zeitpunkt bewirken. Bevor es dazu kommt, tritt Ursache B hinzu und bewirkt denselben Erfolg bereits vorher. Der Erfolg ist damit tatsächlich auf B zurückzuführen; A hat den konkreten Erfolg nicht verursacht, obwohl A später ebenfalls zum Erfolg geführt hätte.
Typische Konstellation
Die Konstellation tritt vor allem dort auf, wo mehrere Personen unabhängig voneinander denselben schädlichen Erfolg anstreben oder wo mehrere Risiken zeitlich versetzt wirken. Charakteristisch ist, dass die zweite Ursache den Erfolg zeitlich vorzieht und damit die erste Ursache für den eingetretenen Erfolg verdrängt.
Abgrenzung zu verwandten Begriffen
Abzugrenzen ist die überholende Kausalität von:
- Abgebrochener Kausalität: Eine spätere Ursache verhindert, dass die erste Ursache überhaupt noch zum Erfolg führen kann, und lenkt den Geschehensablauf vollständig um.
- Kumulativer Kausalität: Mehrere Ursachen sind nur zusammen ausreichend, um den Erfolg herbeizuführen.
- Alternativer Kausalität: Mehrere unabhängige Ursachen hätten den Erfolg jeweils für sich herbeigeführt; unklar ist, welche ihn tatsächlich bewirkt hat.
Beispiele und Fallgruppen
Unabhängige Tötungshandlungen
Person A verabreicht Gift, das den Tod des Opfers nach Stunden herbeiführen würde. Kurz darauf schießt Person B auf das Opfer, das dadurch sofort verstirbt. Der Tod ist auf die spätere Ursache (Schuss) zurückzuführen; die vorherige Ursache (Gift) hat den eingetretenen Tod nicht verursacht.
Fahrlässige Vorbelastung und späterer Eingriff
Eine Pflichtverletzung setzt ein Risiko, das sich in absehbarer Zeit realisieren würde. Bevor dies geschieht, verwirklicht eine unabhängige spätere Handlung den Schaden früher. Der eingetretene Schaden ist der späteren Handlung zuzuordnen.
Wirtschaftliche Abläufe
Ein Lieferverzug hätte einen Produktionsstillstand in der kommenden Woche ausgelöst. Zuvor zerstört jedoch ein unabhängiges Ereignis die Produktionsanlage, wodurch der Stillstand sofort eintritt. Der konkrete Stillstand geht auf das spätere Ereignis zurück.
Rechtliche Einordnung und Dogmatik
Bedingungstheorie (conditio-sine-qua-non)
Nach der Betrachtung, ob eine Handlung für den Erfolg unverzichtbar war, entfällt die Ursächlichkeit der früheren Ursache: Denkt man die frühere Ursache hinweg, wäre der Erfolg durch die spätere Ursache dennoch eingetreten. Die spätere Ursache ist damit allein ursächlich für den tatsächlich eingetretenen Erfolg.
Objektive Zurechnung und Risikoabgrenzung
Selbst wenn eine Ursache naturwissenschaftlich mit dem Geschehen verbunden ist, wird rechtlich weiter geprüft, ob sich im Erfolg gerade das durch diese Ursache geschaffene Risiko realisiert hat. Bei überholender Kausalität realisiert sich im Erfolg das Risiko der späteren Ursache; das Risiko der früheren Ursache tritt im konkreten Erfolg zurück.
Abgrenzung zu alternativen und kumulativen Verläufen
Bei überholender Kausalität ist sicher, dass die spätere Ursache den Erfolg real herbeiführte. Im alternativen Verlauf bleibt unklar, welche Ursache wirksam war. Beim kumulativen Verlauf tragen mehrere Beiträge gemeinsam den Erfolg. Diese Unterschiede sind entscheidend für Ursächlichkeit und Zurechnung.
Rechtsfolgen in unterschiedlichen Bereichen
Strafrechtliche Bewertung
Erfolgsdelikte
Die frühere Ursache begründet regelmäßig keine Verantwortlichkeit für den eingetretenen Erfolg, weil sie für diesen konkret nicht kausal ist. Verantwortlich für den Erfolg ist die spätere Ursache, die den Erfolg tatsächlich realisiert hat.
Versuch
Die frühere Ursache kann eine Versuchshandlung darstellen, wenn sie auf die Herbeiführung des Erfolges zielte und nur durch die spätere Ursache „überholt“ wurde. Der Versuch wird von der späteren Verursachung des Erfolges nicht aufgehoben.
Mehrere Beteiligte
Handeln mehrere unabhängig voneinander, ist für jeden getrennt zu prüfen, ob sein Beitrag den eingetretenen Erfolg verursacht und ihm zugerechnet werden kann. Bei überholender Kausalität entfällt die Erfolgsverantwortung des Ersten, die des Zweiten besteht.
Zivilrechtliche Haftung
Haftung für den konkreten Schaden
Für den durch die spätere Ursache eingetretenen Erfolg haftet grundsätzlich die spätere Ursache. Die frühere Ursache haftet für den eingetretenen Erfolg nicht, da dieser ohne sie in gleicher Weise eingetreten wäre.
Abgrenzung von Vor- und Folgeschäden
Bereits entstandene Nachteile, die unabhängig vom späteren Ereignis eingetreten sind (etwa zuvor verursachte Beeinträchtigungen), können gesondert zu betrachten sein. Mit dem „Überholen“ setzt eine Zäsur ein: Ab diesem Zeitpunkt wird der weitere Verlauf dem späteren Ereignis zugerechnet.
Öffentliches Recht und Gefahrenabwehr
Bei mehreren Störern oder Verursachern kann die Zuweisung von Verantwortung davon abhängen, wer den konkreten Erfolg realisiert hat. Die spätere Ursache, die den Erfolg tatsächlich herbeiführt, rückt in den Fokus; die frühere Ursache wird für den konkreten Erfolg regelmäßig nicht herangezogen.
Beweisfragen und praktische Handhabung
Feststellung des „Überholens“
Erforderlich ist die sichere Feststellung, dass die spätere Ursache den Erfolg tatsächlich früher herbeigeführt hat und dass die frühere Ursache den konkreten Erfolg nicht verursacht hat. Dies beruht auf einer Analyse des zeitlichen und kausalen Verlaufs.
Hypothetische Verläufe und Darlegung
Der hypothetische Verlauf (was ohne die frühere Ursache geschehen wäre) ist aus rechtlicher Sicht nur begrenzt relevant: Maßgeblich ist der tatsächliche Erfolg und seine Ursache. Der Hinweis, der Erfolg wäre auch durch die frühere Ursache eingetreten, genügt nicht, um ihr den konkreten Erfolg zuzurechnen.
Zeitliche Zäsur
Mit dem Eingreifen der späteren Ursache entsteht eine Zäsur. Ab diesem Zeitpunkt bestimmt die spätere Ursache den weiteren Verlauf. Diese Zäsur hilft, Verantwortung und Schadensabschnitte zu trennen.
Abgrenzung zu ähnlichen Konzepten
Abgebrochene Kausalität
Hier verhindert eine spätere Ursache, dass die erste Ursache überhaupt zur Wirkung gelangen kann, und lenkt den Ablauf auf einen anderen Erfolg um. Bei überholender Kausalität bleibt der Enderfolg derselbe, nur seine Herbeiführung wird vorgezogen.
Kumulative Kausalität
Mehrere Beiträge sind jeweils für sich genommen nicht ausreichend, erst zusammen bewirken sie den Erfolg. Bei überholender Kausalität reicht die spätere Ursache allein aus und bringt den Erfolg früher herbei.
Alternative Kausalität
Mehrere Ursachen hätten den Erfolg jeweils herbeiführen können; unklar ist, welche tatsächlich wirksam war. Bei überholender Kausalität steht fest, dass die spätere Ursache den Erfolg realisiert hat.
Häufig gestellte Fragen zur überholenden Kausalität
Was bedeutet überholende Kausalität in einfachen Worten?
Eine erste Ursache hätte den Erfolg später herbeigeführt, wird aber von einer zweiten, unabhängigen Ursache überholt, die den Erfolg früher bewirkt. Für den eingetretenen Erfolg ist deshalb die zweite Ursache verantwortlich.
Worin unterscheidet sich überholende von abgebrochener Kausalität?
Bei überholender Kausalität tritt derselbe Erfolg früher ein; bei abgebrochener Kausalität wird der ursprünglich angelegte Verlauf verhindert und durch einen anderen ersetzt. Nur beim Überholen bleibt der Erfolg gleich, ändert sich aber zeitlich.
Welche Folgen hat überholende Kausalität im Strafrecht?
Die frühere Ursache ist für den eingetretenen Erfolg nicht verantwortlich, da dieser auf die spätere Ursache zurückgeht. Möglich bleibt eine Verantwortlichkeit wegen Versuchs, wenn die frühere Ursache auf den Erfolg gerichtet war.
Wie wirkt sich überholende Kausalität im Zivilrecht aus?
Für den konkreten Schaden haftet in der Regel die spätere Ursache, die ihn tatsächlich herbeigeführt hat. Die frühere Ursache haftet für diesen Erfolg nicht; bereits vorher eingetretene Nachteile können gesondert zu betrachten sein.
Spielt die zeitliche Reihenfolge eine entscheidende Rolle?
Ja. Überholend ist die Kausalität nur, wenn die spätere Ursache den Erfolg tatsächlich früher bewirkt und damit die frühere Ursache für den konkreten Erfolg verdrängt.
Wer muss den überholenden Verlauf darlegen und beweisen?
Es ist darzutun, dass die spätere Ursache den Erfolg tatsächlich herbeigeführt hat und die frühere Ursache hierfür nicht ursächlich war. Maßgeblich ist eine nachvollziehbare Darstellung des Ablaufs.
Was gilt, wenn beide Ursachen gleichzeitig gewirkt hätten?
Wirken Ursachen gleichzeitig und ist jede für sich ausreichend, liegt keine überholende Kausalität vor, sondern eine andere Konstellation. Die Einordnung hängt dann davon ab, ob eine alternative oder kumulative Ursachenkonstellation gegeben ist.