Störung der Geschäftsgrundlage
Definition und rechtliche Einordnung
Die Störung der Geschäftsgrundlage ist ein zentrales Konzept im deutschen Zivilrecht und bezeichnet Umstände, bei denen sich die bei Abschluss eines Vertrags bestehenden Grundlagen nachträglich so wesentlich ändern, dass das Festhalten am ursprünglichen Vertrag für einen Vertragspartner unzumutbar wäre. Die gesetzliche Regelung findet sich in § 313 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Der Anwendungsbereich dieses Paragrafen erstreckt sich auf alle schuldrechtlichen Verträge und stellt ein Korrektiv zum Grundsatz „pacta sunt servanda“ (Verträge sind einzuhalten) dar.
Historische Entwicklung
Die Störung der Geschäftsgrundlage wurde ursprünglich durch die Rechtsprechung entwickelt, insbesondere im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Veränderungen nach dem Ersten Weltkrieg. Die sogenannte „Große Inflation“ und die wirtschaftlichen Umwälzungen führten dazu, dass Gerichte nach einer billigen Lösung für Verträge suchten, die durch unvorhergesehene Ereignisse sinnentleert wurden. Diese Rechtsfigur wurde zunächst als Richterrecht ausgestaltet und erhielt mit der Schuldrechtsreform durch § 313 BGB eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage.
Voraussetzungen der Störung der Geschäftsgrundlage
1. Vorliegen einer gemeinsamen Geschäftsgrundlage
Geschäftsgrundlage ist nach allgemeiner Meinung die bei Vertragsschluss bestehende, für beide Parteien erkennbare und nicht ausdrücklich zum Vertragsinhalt erhobene Vorstellung von bestimmten Umständen. Dabei wird zwischen der subjektiven (gemeinsame Annahmen beider Parteien) und der objektiven Geschäftsgrundlage (das, was typischerweise von Parteien angenommen werden darf) unterschieden.
2. Schwerwiegende Veränderung nach Vertragsschluss
Die Störung der Geschäftsgrundlage setzt voraus, dass sich eine wesentliche, für beide Parteien maßgebliche Geschäftsgrundlage nachträglich, also nach Vertragsschluss, schwerwiegend verändert hat oder von Anfang an sich als falsch herausstellt. Typische Fälle sind gravierende wirtschaftliche oder politische Veränderungen, unerwartete rechtliche Rahmenbedingungen oder Naturkatastrophen.
3. Risikoverteilung
Eine Vertragsanpassung kommt nur in Betracht, soweit das betroffene Risiko nicht einer Partei ausdrücklich oder stillschweigend zugewiesen ist. Haben die Parteien die einschlägigen Umstände vereinbart oder das Risiko einer Seite zugeordnet, ist § 313 BGB grundsätzlich nicht anwendbar.
4. Unzumutbarkeit des Festhaltens am Vertrag
Die Veränderung muss zu einer Unzumutbarkeit des Festhaltens am ursprünglichen Vertrag führen. Dies ist unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls zu prüfen, wobei die Interessen beider Parteien maßgeblich sind.
Rechtsfolgen der Störung der Geschäftsgrundlage
1. Vertragsanpassung
Die Hauptrechtsfolge gemäß § 313 BGB ist die Anpassung des Vertrages an die veränderten Umstände, wenn eine Fortführung des Vertrages unter den ursprünglichen Bedingungen für eine Partei unzumutbar ist. Die Anpassung kann sowohl Änderungen von Hauptleistungspflichten als auch Nebenpflichten betreffen.
2. Rücktritt oder Kündigung
Ist eine Anpassung des Vertrages nicht möglich oder einer Partei nicht zumutbar, kann der Vertrag aufgelöst werden, etwa durch Rücktritt oder außerordentliche Kündigung. Die spezifische Form der Beendigung richtet sich nach der Art des Vertrages und den vertraglichen bzw. gesetzlichen Regelungen.
Abgrenzung zu ähnlichen Rechtsinstituten
Wegfall der Geschäftsgrundlage und Unmöglichkeit
Die Störung der Geschäftsgrundlage ist von der Unmöglichkeit (§ 275 BGB) abzugrenzen. Während bei Unmöglichkeit die Erfüllung der Leistung objektiv ausgeschlossen ist, besteht bei der Störung der Geschäftsgrundlage weiterhin prinzipiell die Möglichkeit der Vertragserfüllung, jedoch unter unzumutbar veränderten Rahmenbedingungen.
Irrtum
Beim Irrtum (§ 119 BGB) geht es um Fehlvorstellungen über den bei Vertragsschluss bestehenden Sachverhalt. Eine Störung der Geschäftsgrundlage setzt demgegenüber eine spätere Veränderung oder eine nachträglich offenbar gewordene Fehlvorstellung voraus, die nicht auf einer Willenserklärung, sondern auf „äußeren Umständen“ beruht.
Höhere Gewalt (Force Majeure)
Der Begriff höhere Gewalt beschreibt unvorhergesehene, von außen kommende Ereignisse, die auch mit äußerster Sorgfalt nicht abwendbar sind. Während höhere Gewalt häufig im Vertragsrecht gesondert geregelt wird, kann sie eine Störung der Geschäftsgrundlage begründen, wenn dies nicht ausdrücklich im Vertrag abweichend geregelt wurde.
Praktische Anwendungsbereiche
Mietrecht
Im Mietrecht wird die Störung der Geschäftsgrundlage etwa diskutiert, wenn durch Nutzungsänderungen oder staatliche Maßnahmen (zum Beispiel Lockdowns während der COVID-19-Pandemie) die wirtschaftliche Grundlage für den Mietvertrag entfällt oder schwer beeinträchtigt wird.
Bau- und Werkvertragsrecht
Im Bauvertragsrecht und bei Werkverträgen kann die Störung der Geschäftsgrundlage bei unvorhersehbaren Kostensteigerungen oder gravierenden Bauverzögerungen nachträgliche Vertragsanpassungen erforderlich machen.
Handels- und Gesellschaftsrecht
Auch im Handels- und Gesellschaftsrecht kann die Störung der Geschäftsgrundlage zur Vertragsanpassung führen, etwa bei Unternehmensübernahmen, Fusionen oder in Joint-Venture-Situationen, wenn sich die zugrunde gelegten Erwartungen wesentlich verändern.
Rechtsprechung und Literatur
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) präzisiert regelmäßig die Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Störung der Geschäftsgrundlage. Insbesondere die Auswirkungen gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Veränderungen finden in Urteilen und Leitsätzen stetig Berücksichtigung.
Fazit
Die Störung der Geschäftsgrundlage ist ein essenzielles Instrument zur Wahrung der Vertragsgerechtigkeit im deutschen Zivilrecht. Sie stellt sicher, dass Verträge auch unter unerwartet veränderten Umständen im Gleichgewicht bleiben oder – soweit dies nicht möglich ist – aufgelöst werden können. Die Anwendung erfordert jedoch jeweils eine umfassende Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Vertrags und dessen Risikoverteilung.
Häufig gestellte Fragen
Unter welchen Voraussetzungen kann sich eine Partei auf die Störung der Geschäftsgrundlage berufen?
Die Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB setzt voraus, dass sich Umstände nach Vertragsschluss schwerwiegend geändert haben, welche zur Grundlage des Vertrags geworden sind. Weiterhin muss angenommen werden, dass die Parteien den Vertrag bei Kenntnis dieser Änderungen entweder überhaupt nicht oder nur mit anderem Inhalt geschlossen hätten. Zudem darf der betroffenen Partei das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zumutbar sein. Die Geschäftsgrundlage besteht dabei regelmäßig in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die für beide Parteien erkennbar wesentliche Bedeutung für das Vertragsverhältnis hatten. Typische Beispiele sind unerwartete gesetzliche Veränderungen, massive Wertveränderungen oder Wegfall behördlicher Genehmigungen. Eine einseitige Risikoverteilung durch Vertrag, z.B. durch Gewährleistungsausschlüsse, schließt eine Berufung auf die Störung der Geschäftsgrundlage häufig aus.
Welche Rechtsfolgen hat die Störung der Geschäftsgrundlage?
Bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen räumt § 313 BGB den Parteien primär einen Anspruch auf Anpassung des Vertrags an die veränderten Umstände ein. Ziel ist die Wiederherstellung des ursprünglich vereinbarten Vertragsgleichgewichts. Nur wenn eine Vertragsanpassung nicht möglich oder einer Partei nicht zumutbar ist, kann der Vertrag gemäß § 313 Abs. 3 BGB ganz oder teilweise aufgehoben werden. Dadurch kommt es zu einer Rückabwicklung der bereits ausgetauschten Leistungen, wobei Besonderheiten hinsichtlich Bereicherungsrecht und Vertragsanpassung zu beachten sind.
Wird die Änderung der Geschäftsgrundlage stets anerkannt?
Nein, die Rechtsprechung und Literatur prüfen sehr sorgfältig, ob eine Änderung der Geschäftsgrundlage überhaupt vorliegt. Zentrale Prüfungsmaßstäbe sind die Erkennbarkeit und die Relevanz der Geschäftsgrundlage für den Abschluss des konkreten Vertrags. Zudem wird verlangt, dass das Risiko für den Eintritt eines bestimmten Ereignisses nicht ausdrücklich oder konkludent einer Partei zugewiesen wurde. Typische Ausschlussgründe sind etwa die Einpreisung bestimmter Risiken in den Vertrag oder explizite Risikoklauseln. Die Anforderungen an die Annahme einer Störung der Geschäftsgrundlage sind in der Praxis vergleichsweise hoch, um die Rechtssicherheit des Vertragsverkehrs zu wahren.
Wie unterscheidet sich die Störung der Geschäftsgrundlage von der Unmöglichkeit?
Die Störung der Geschäftsgrundlage ist vom Institut der Unmöglichkeit zu unterscheiden. Während die Unmöglichkeit nach §§ 275 ff. BGB eintritt, wenn eine Leistung objektiv oder subjektiv nicht mehr erbracht werden kann, bleibt bei der Störung der Geschäftsgrundlage die Leistung an sich weiterhin möglich. Allerdings hat sich das Gleichgewicht von Leistung und Gegenleistung durch nachträgliche Umstände derart verschoben, dass das Festhalten am Vertrag für eine Partei unzumutbar wird. Daher kommt jede Berufung auf die Störung der Geschäftsgrundlage nur dann in Betracht, wenn ein Rückgriff auf die Regeln der Unmöglichkeit ausgeschlossen ist.
Hat die Störung der Geschäftsgrundlage Auswirkungen auf Dauerschuldverhältnisse?
Gerade bei langfristigen Schuldverhältnissen wie Miet-, Pacht- oder Dienstverträgen kann die Störung der Geschäftsgrundlage eine bedeutende Rolle spielen. Aufgrund der Zeitspanne besteht ein erhöhtes Risiko für gravierende nachträgliche Änderungen der Umstände. Hier kann typischerweise eine Vertragsanpassung verlangt werden, wenn zum Beispiel staatliche Eingriffe, wirtschaftliche Krisen oder unerwartete Verteuerungen auftreten, die nicht im Risikobereich einer Partei liegen. Jedoch werden auch hier die Hürden der Unzumutbarkeit und das Vorliegen einer wesentlichen Geschäftsgrundlagenstörung restriktiv gehandhabt.
Welche Mitwirkungspflichten treffen die Parteien bei einer Vertragsanpassung?
Sobald eine Partei die Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage verlangt, haben beide Vertragsparteien eine Interessenabwägung vorzunehmen und konstruktiv an einer angemessenen Anpassung gemäß Treu und Glauben (§ 242 BGB) mitzuwirken. Jede Partei ist verpflichtet, die veränderten Umstände offen zu legen, Lösungsvorschläge zu unterbreiten und Kompromisse zu ermöglichen. Kommt eine Einigung nicht zustande, kann im Streitfall das Gericht die Anpassung vornehmen oder, sofern eine Anpassung unmöglich ist, die Aufhebung des Vertrags aussprechen.
Welche Rolle spielt grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz bei der Störung der Geschäftsgrundlage?
Hat eine Partei vorsätzlich oder grob fahrlässig die Änderung der Umstände herbeigeführt oder gekannt, entfällt ihr Anspruch auf Anpassung oder Aufhebung des Vertrags nach § 313 BGB. Die Störung der Geschäftsgrundlage verlangt, dass die veränderten Verhältnisse unvorhersehbar und unbeeinflussbar für die betroffene Partei eingetreten sind. Eigenes schuldhaftes oder sogar bewusstes Handeln schließt das Berufungsrecht auf Störung der Geschäftsgrundlage regelmäßig aus, da andernfalls eine missbräuchliche Inanspruchnahme dieser Schutzvorschrift zu Lasten der anderen Partei drohen würde.