Begriff und Grundidee
Die Störung der Geschäftsgrundlage beschreibt Situationen, in denen sich nach Abschluss eines Vertrags grundlegende Umstände schwerwiegend verändern oder sich wesentliche gemeinsame Vorstellungen der Vertragsparteien als unzutreffend herausstellen. Dadurch gerät das vertragliche Gleichgewicht aus den Fugen. Wenn das Festhalten am unveränderten Vertrag unzumutbar wäre, kann eine Anpassung oder in Ausnahmefällen eine Auflösung des Vertrags in Betracht kommen. Leitgedanke ist, Verträge vor außergewöhnlichen, nicht vorhersehbaren Entwicklungen zu schützen, ohne das allgemeine Risiko gewöhnlicher Marktschwankungen aufzuheben.
Rechtliche Einordnung und Zweck
Die Störung der Geschäftsgrundlage ist ein anerkanntes Instrument des Vertragsrechts. Sie dient der gerechten Risikoverteilung, wenn sich Umstände ändern, die beide Parteien bei Vertragsschluss als gegeben vorausgesetzt haben. Sie schließt vertragliche Lücken, indem sie in besonderen Ausnahmesituationen einen Ausgleich ermöglicht, wenn die Parteien das betreffende Risiko nicht geregelt haben und ein Festhalten am Vertrag den Grundsätzen von Treu und Glauben widerspräche.
Voraussetzungen
Schwerwiegende Veränderung nach Vertragsschluss
Es muss eine erhebliche Änderung von Umständen nach Vertragsschluss vorliegen oder sich eine gemeinsame Vorstellung als falsch herausstellen. Gewöhnliche Marktrisiken oder übliche Preisbewegungen genügen grundsätzlich nicht.
Hypothetischer Parteiwille
Hätten die Parteien den Vertrag in Kenntnis der tatsächlichen Entwicklung gar nicht oder nur mit anderem Inhalt geschlossen, spricht dies für eine Störung der Geschäftsgrundlage.
Unzumutbarkeit des Festhaltens
Das Beharren auf der ursprünglichen Regelung muss für die betroffene Partei unzumutbar sein. Es geht um eine gravierende Schieflage, nicht um bloße wirtschaftliche Unbequemlichkeit.
Keine Risikozuweisung
Das betroffene Risiko darf vertraglich oder nach der Risikoverteilung des Vertrags nicht bereits einer Partei zugewiesen sein. Wer ein Risiko übernommen hat, kann sich regelmäßig nicht auf die Störung der Geschäftsgrundlage stützen.
Kausalität und Tatsachengrundlage
Zwischen der Änderung der Umstände und der entstandenen Schieflage muss ein ursächlicher Zusammenhang bestehen. Die tatsächlichen Grundlagen sind substantiiert darzulegen.
Formen der Geschäftsgrundlage
„Kleine“ Geschäftsgrundlage
Bezieht sich auf konkrete, beiderseits vorausgesetzte Umstände eines bestimmten Geschäfts, etwa die Durchführung eines bestimmten Ereignisses, die Verfügbarkeit eines Ortes oder die Zulässigkeit einer beabsichtigten Nutzung.
„Große“ Geschäftsgrundlage
Umfasst übergreifende Rahmenbedingungen wie stabile wirtschaftliche, rechtliche oder gesellschaftliche Verhältnisse. Werden diese tiefgreifend erschüttert, kann dies die Geschäftsgrundlage zahlreicher Verträge betreffen.
Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten
Unmöglichkeit der Leistung
Ist die Leistung objektiv nicht mehr erbringbar (z. B. Untergang der Sache), greifen Regelungen zur Unmöglichkeit. Die Störung der Geschäftsgrundlage betrifft demgegenüber Fälle, in denen Leistung und Gegenleistung weiterhin möglich sind, aber ihr Gleichgewicht entfallen ist.
Anfechtung wegen Irrtums
Ein Irrtum bei Vertragsschluss kann zur Anfechtung führen, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen. Die Störung der Geschäftsgrundlage setzt später eintretende Veränderungen oder das nachträgliche Erkennen falscher gemeinsamer Grundlagen voraus.
Gewährleistungsrechte
Mängel einer Sache oder Leistung werden über Gewährleistungsrechte behandelt. Die Störung der Geschäftsgrundlage greift nicht, um Mängelrechte zu ersetzen.
Leistungsstörungen und Verzug
Verzögerungen, Nichterfüllung oder Pflichtverletzungen werden regelmäßig über Leistungsstörungsrecht gelöst. Die Störung der Geschäftsgrundlage ist kein Auffangtatbestand für vertragliche Pflichtverletzungen.
Rechtsfolgen
Vertragsanpassung
Regelmäßig steht die Anpassung des Vertrags im Vordergrund, um das gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen. Das kann etwa eine Änderung von Leistungsinhalten, Fristen oder Entgelten umfassen, soweit dies den beiderseitigen Interessen angemessen entspricht.
Auflösung als letztes Mittel
Ist eine Anpassung nicht möglich oder unzumutbar, kommt die Auflösung des Vertrags in Betracht. Dies ist die Ausnahme und setzt eine erhebliche, nicht ausgleichbare Störung voraus.
Teilanpassung und zeitliche Begrenzung
Anpassungen können sich auf einzelne Klauseln beschränken oder zeitlich befristet sein, wenn die Störung nur vorübergehend wirkt.
Wirkung für Vergangenheit und Zukunft
Die Folgen betreffen in der Regel die Zukunft. Rückwirkende Korrekturen sind eher die Ausnahme und bedürfen einer besonderen Begründung.
Typische Fallgruppen
- Behördliche Verbote oder Beschränkungen, die die vertraglich vorausgesetzte Nutzung vorübergehend oder dauerhaft unmöglich machen.
- Absage oder Ausfall grundlegender Ereignisse, die den Vertragszweck prägen.
- Außergewöhnliche, unvorhersehbare Kostenexplosionen, die weit über normale Marktschwankungen hinausgehen.
- Schwerwiegende Störungen internationaler Lieferketten oder Transportwege, die nicht dem üblichen Unternehmerrisiko zuzurechnen sind.
- Weitreichende Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen, die den Vertragszweck entwerten.
- Währungs- oder Finanzkrisen mit massiver, unvorhersehbarer Auswirkung auf den Vertragsvollzug.
Vertragsgestaltung und Risikoallokation
Höhere Gewalt („Force Majeure“) und Hardship-Klauseln
Verträge enthalten oft Regelungen zu außergewöhnlichen Ereignissen. Höhere-Gewalt-Klauseln betreffen typischerweise Unmöglichkeit oder vorübergehende Hinderungsgründe. Hardship-Klauseln regeln ausdrücklich, wie bei schwerwiegenden Störungen des Gleichgewichts zu verfahren ist.
Preisgleit- und Anpassungsmechanismen
In langfristigen Verträgen werden teils Mechanismen vereinbart, die außergewöhnliche Kostenentwicklungen abfedern. Solche Klauseln können die Voraussetzungen der Störung der Geschäftsgrundlage überlagern oder konkretisieren.
Informations- und Kooperationspflichten
Bei gravierenden Veränderungen wird häufig eine Pflicht zur Abstimmung und transparenten Information angenommen, um eine sachgerechte Anpassung zu ermöglichen.
Ablauf in der Praxis
Feststellung und Darlegung der Störung
Die betroffene Partei muss die veränderten Umstände und deren Auswirkungen auf das vertragliche Gleichgewicht konkret benennen.
Verhandlungen über Anpassung
Ziel ist eine angemessene Neujustierung, die die Interessen beider Seiten berücksichtigt. Dabei sind Transparenz und Plausibilität der dargelegten Auswirkungen wichtig.
Rolle gerichtlicher Anpassung
Kommt keine Einigung zustande, kann eine gerichtliche Klärung herbeigeführt werden. Im Mittelpunkt steht, ob die Voraussetzungen vorliegen und welche Anpassung sachgerecht ist.
Beweislast und Mitwirkung
Wer sich auf die Störung der Geschäftsgrundlage beruft, trägt grundsätzlich die Darlegungs- und Beweislast für die wesentlichen Tatsachen: Eintritt und Schwere der Veränderung, fehlende Risikozuweisung, Unzumutbarkeit des Festhaltens sowie die Eignung einer Anpassung zur Wiederherstellung des Gleichgewichts. Beide Parteien haben die Pflicht, an einer sachgerechten Lösung mitzuwirken.
Internationale Bezüge
Im internationalen Handelsverkehr wird das Thema häufig unter dem Stichwort „Hardship“ behandelt. Viele Regelwerke und Vertragsmuster sehen Mechanismen vor, die bei unvorhersehbaren, gravierenden Veränderungen Anpassungsverhandlungen oder temporäre Erleichterungen vorsehen. Die Abgrenzung zu „Force Majeure“ (höhere Gewalt) ist verbreitet: Während höhere Gewalt häufig die Leistungsfähigkeit betrifft, adressiert Hardship vor allem die ökonomische Zumutbarkeit.
Häufige Missverständnisse
- Sie ist kein allgemeiner Ausweg aus ungünstigen Verträgen; es geht um außergewöhnliche, unvorhersehbare Störungen.
- Reine Gewinnschmälerungen oder übliche Preissteigerungen reichen nicht aus.
- Wer ein bestimmtes Risiko übernommen hat, kann sich darauf nicht stützen.
- Eine globale Krise rechtfertigt nicht automatisch eine Anpassung jedes Vertrags; maßgeblich sind die konkreten Auswirkungen.
- Vorrang hat die Anpassung; eine Auflösung ist das letzte Mittel.
Häufig gestellte Fragen
Was bedeutet „Störung der Geschäftsgrundlage“ in einfachen Worten?
Es handelt sich um außergewöhnliche Veränderungen nach Vertragsschluss, die die gemeinsamen Grundlagen des Vertrags so stark erschüttern, dass das Festhalten an der ursprünglichen Vereinbarung unzumutbar wäre. In solchen Fällen kann eine Anpassung oder ausnahmsweise eine Auflösung des Vertrags in Betracht kommen.
Welche Voraussetzungen müssen vorliegen?
Erforderlich sind eine schwerwiegende Änderung der Umstände oder das Entfallen gemeinsamer Vorstellungen, der hypothetische Wille, den Vertrag sonst anders oder gar nicht geschlossen zu haben, die Unzumutbarkeit des unveränderten Festhaltens sowie das Fehlen einer vertraglichen oder systematischen Risikozuweisung an eine Partei.
Reicht eine starke Preissteigerung aus?
Nicht jede Preissteigerung genügt. Erforderlich ist eine außergewöhnliche, unvorhersehbare und gravierende Kostenentwicklung, die weit über gewöhnliche Marktschwankungen hinausgeht und das vertragliche Gleichgewicht ernsthaft beeinträchtigt. Zudem darf das Preisrisiko nicht bereits der betroffenen Partei zugeordnet sein.
Worin liegt der Unterschied zur Unmöglichkeit?
Bei Unmöglichkeit kann die geschuldete Leistung objektiv nicht mehr erbracht werden. Die Störung der Geschäftsgrundlage betrifft Fälle, in denen Leistung an sich möglich bleibt, die Aufrechterhaltung des ursprünglichen Vertrags aber wegen einer grundlegenden Schieflage unzumutbar wäre.
Welche Folgen hat die Störung für den Vertrag?
Vorrangig ist eine Vertragsanpassung, die die Interessen beider Seiten angemessen ausgleicht. Nur wenn eine sachgerechte Anpassung nicht möglich ist, kommt eine Auflösung in Betracht. Anpassungen können auch zeitlich befristet oder auf einzelne Regelungen beschränkt sein.
Spielt eine vertragliche Risikoregelung eine Rolle?
Ja. Ist das betroffene Risiko vertraglich einer Partei zugewiesen, scheidet die Störung der Geschäftsgrundlage in der Regel aus. Bestehen Anpassungsklauseln (etwa Hardship- oder Preisgleitregelungen), sind diese maßgeblich für die Beurteilung.
Gilt die Störung der Geschäftsgrundlage auch bei langfristigen Verträgen?
Gerade langfristige Verträge können betroffen sein, weil sich Rahmenbedingungen über die Zeit verändern. Ob eine Anpassung in Betracht kommt, hängt von der Intensität der Störung, der Vorhersehbarkeit und den vertraglichen Regelungen ab.
Wer trägt die Darlegungs- und Beweislast?
Die Partei, die sich auf die Störung der Geschäftsgrundlage beruft, muss die veränderten Umstände, deren außergewöhnlichen Charakter, die fehlende Risikozuweisung und die Unzumutbarkeit des unveränderten Festhaltens darlegen und beweisen.