Begriffsdefinition und Grundlagen der Sittenwidrigkeit
Sittenwidrigkeit ist ein zentraler rechtlicher Begriff, insbesondere im Zivilrecht Deutschlands. Er beschreibt den Widerspruch einer Handlung, eines Rechtsgeschäfts oder eines Verhaltens gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden. Der Begriff hat erheblichen Einfluss auf die Wirksamkeit von Verträgen und sonstigen Willenserklärungen und ist in verschiedenen Rechtsbereichen von Bedeutung.
Historische Entwicklung und Verankerung
Der Gedanke der Sittenwidrigkeit wurde im Zuge der Kodifizierung des deutschen Zivilrechts Ende des 19. Jahrhunderts normiert. Die heute maßgebliche Vorschrift findet sich in § 138 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), nach der ein Rechtsgeschäft nichtig ist, wenn es gegen die guten Sitten verstößt. Bereits die Motive zur Schaffung des BGB sahen in den guten Sitten einen Schutzmechanismus zur Begrenzung privater Dispositionsfreiheit.
Gesetzliche Regelung der Sittenwidrigkeit
Die Sittenwidrigkeit ist insbesondere in zwei Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs geregelt:
§ 138 BGB – Sittenwidriges Rechtsgeschäft
Nach § 138 Absatz 1 BGB ist ein Rechtsgeschäft nichtig, das gegen die guten Sitten verstößt. Absatz 2 erklärt darüber hinaus insbesondere ein sog. wucherisches Rechtsgeschäft für nichtig, das eine objektiv auffällige Gegenleistung bei gleichzeitiger subjektiver Ausbeutung der Lage des Vertragspartners beinhaltet.
Weitere Normen mit Sittenbezug
Auch außerhalb des BGB finden sich vereinzelt Regelungen, die sich an den guten Sitten oder einem vergleichbaren Wertemaßstab orientieren, etwa im Strafrecht (§ 174c StGB – Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger gegen Entgelt).
Auslegung der „Guten Sitten“
Die Auslegung der guten Sitten richtet sich nach dem jeweils geltenden gesellschaftlichen Wertempfinden. Maßstab ist das Empfinden aller „billig und gerecht Denkenden“ zur Zeit der Vornahme des Rechtsgeschäfts.
Konkretisierung durch Rechtsprechung
Da „gute Sitten“ ein unbestimmter Rechtsbegriff ist, kommt der Rechtsprechung und Literatur wesentliche Bedeutung bei der Auslegung zu. Die Rechtsprechung hat beispielsweise sittenwidrige Verträge in folgenden Fallgruppen angenommen:
- Übermäßige Bindung (Knebelungsverträge)
- Verträge, die gegen die sexuelle Selbstbestimmung verstoßen (z.B. Zwang zur Prostitution)
- Ehe- oder Unterhaltsvereinbarungen, die den Sozialschutz unterlaufen sollen
- Verträge, die auf Betrug oder Täuschung angelegt sind
Die Einschätzung hängt stets vom Einzelfall, der Interessenlage der Parteien, der Schutzbedürftigkeit, dem Grad des Übergewichts sowie den weiteren Umständen ab.
Wandel der Sitten
Die Sitten unterliegen einem gesellschaftlichen Wandel. Was zu einer bestimmten Zeit als sittenwidrig gilt, kann im gesellschaftlichen Wertewandel eine andere Bewertung erfahren. Die Gerichte berücksichtigen dies durch eine dynamische Interpretation des Begriffs.
Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Sittenwidrigkeit
Voraussetzungen
Ein Rechtsgeschäft ist sittenwidrig, wenn es nach seinem Gesamtcharakter mit den grundlegenden Wertungen der Rechts- und Sittenordnung unvereinbar ist. Voraussetzungen im Einzelnen:
- Objektiver Verstoß gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden
- Subjektives Unrechtsbewusstsein ist nicht erforderlich
Bei Wuchergeschäften nach § 138 Abs. 2 BGB sind zudem subjektive Elemente, wie die Ausbeutung der Lage einer Vertragspartei, erforderlich.
Rechtsfolgen
Wird ein Rechtsgeschäft als sittenwidrig eingestuft, führt dies nach § 138 BGB zur Nichtigkeit. Das Geschäft wird behandelt, als wäre es nicht abgeschlossen worden; es entfaltet keinerlei Rechtswirkungen.
Rückabwicklung und Bereicherungsrecht
Bereits erfolgte Leistungen sind gegebenenfalls nach den Vorschriften der ungerechtfertigten Bereicherung (§§ 812 ff. BGB) rückabzuwickeln. Im Einzelfall kann jedoch auch der Bereicherungsanspruch gemäß § 817 Satz 2 BGB ausgeschlossen sein, wenn beide Parteien wissentlich gegen die guten Sitten verstoßen haben.
Sittenwidrigkeit im Vertragsrecht
Typische Fallgruppen
Die Rechtsprechung hat folgende typische kelompok verfeinert:
- Wucher: Extremes Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung sowie Ausnutzung der Vertragspartei
- Überlange Bindungsfristen, z. B. in Arbeitnehmer- oder Franchiseverträgen
- Unzulässige Ehevermittlungsverträge
- Unlauterer Wettbewerbsverstoß, der Vertragsklauseln sittenwidrig machen kann
Abgrenzung zu anderen Nichtigkeitsgründen
Die Sittenwidrigkeit ist neben Gesetzesverstößen (§ 134 BGB) ein eigenständiger Nichtigkeitsgrund. Nicht jedes gegen das Gesetz verstoßende Geschäft ist auch sittenwidrig.
Bedeutung in weiteren Rechtsgebieten
Arbeitsrecht
Auch im Arbeitsrecht kann ein Arbeitsvertrag oder eine einzelne Vertragsklausel sittenwidrig sein, insbesondere bei sittenwidrigen Lohnvereinbarungen oder Knebelungsverträgen.
Gesellschaftsrecht
Gesellschaftsverträge können sittenwidrig sein, beispielsweise wenn sie Anlagenbetrug oder Steuerhinterziehung bezwecken oder die Mitwirkungsrechte einzelner Gesellschafter auf inakzeptable Weise beschneiden.
Erbrecht
Auch im Erbrecht können sittenwidrige Vereinbarungen, beispielsweise im Zusammenhang mit Erbverzichtsverträgen, zur Nichtigkeit führen.
Abgrenzung zu vergleichbaren Rechtsbegriffen
Die „guten Sitten“ sind von anderen Rechtsbegriffen wie dem „ordre public“ zu unterscheiden, welcher im internationalen Privatrecht als Korrektiv dient. Während der Begriff der Sittenwidrigkeit innerstaatliche Sachverhalte betrifft, dient der ordre public zur Abwehr ausländischen Rechts, das der heimischen Rechtsordnung widerspricht.
Zusammenfassung
Die Sittenwidrigkeit ist ein maßgeblicher Unwirksamkeitsgrund im deutschen Zivilrecht. Sie schützt das Rechts- und Wertsystem vor Rechtsgeschäften, die als untragbar für das Gemeinschaftsgefühl und die Werteordnung bewertet werden. Die Auslegung erfolgt dynamisch durch Rechtsprechung und Literatur und orientiert sich am jeweiligen gesellschaftlichen Werteverständnis. Die Rechtsfolge ist regelmäßig die Nichtigkeit des gesamten Rechtsgeschäfts.
Dieser Artikel bietet eine umfassende Darstellung des Begriffs Sittenwidrigkeit, deren rechtlicher Bedeutung, den maßgeblichen Voraussetzungen sowie der daraus folgenden Rechtsfolgen im deutschen Rechtssystem.
Häufig gestellte Fragen
In welchen Fällen spielt der Begriff der Sittenwidrigkeit im deutschen Recht eine Rolle?
Der Begriff der Sittenwidrigkeit kommt im deutschen Recht in verschiedenen Zusammenhängen zur Anwendung, insbesondere bei der Beurteilung von Verträgen und Rechtsgeschäften. Am häufigsten wird § 138 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) herangezogen, der die Nichtigkeit von sittenwidrigen Rechtsgeschäften vorsieht. Hier prüfen Gerichte insbesondere bei ungewöhnlichen Vertragsinhalten, auffälligen Missverhältnissen von Leistung und Gegenleistung (Wucher), bei Knebelungsverträgen im Arbeits- und Mietrecht sowie bei bestimmten Bürgschaften, ob die Grenze zur Sittenwidrigkeit überschritten ist. Außerhalb des Vertragsrechts kann Sittenwidrigkeit auch im Deliktsrecht relevant sein, etwa bei sittenwidriger Schädigung gemäß § 826 BGB. Zudem spielt sie eine Rolle im Gesellschaftsrecht, etwa bei AGB-Klauseln, die den Vertragspartner unangemessen benachteiligen, sowie im Familienrecht, beispielsweise bei besonders nachteiligen Eheverträgen.
Wie wird Sittenwidrigkeit vor Gericht festgestellt?
Gerichte nehmen bei der Feststellung von Sittenwidrigkeit stets eine umfassende Würdigung des Einzelfalls unter Berücksichtigung von Moral, Anstand und den herrschenden Wertvorstellungen der Gesellschaft vor. Sie prüfen, ob das Rechtsgeschäft, sein Inhalt, Zweck oder die Art und Weise seines Zustandekommens gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dabei fließen sowohl objektive Umstände wie Vertragsinhalt und wirtschaftliche Verhältnisse als auch subjektive Komponenten, wie die Ausnutzung der Lage eines Vertragspartners oder besondere Verwerflichkeit des Handelns, ein. Die Sittenwidrigkeit unterliegt damit einem ständigen Wandel, da sie sich an den aktuellen gesellschaftlichen Wertvorstellungen orientiert. Die Gerichte stützen sich häufig auf Präzedenzfälle und können auch die Wertungen anderer Rechtsgebiete zur Beurteilung heranziehen.
Welche Folgen hat die Feststellung der Sittenwidrigkeit eines Vertrags?
Wird ein Vertrag von einem Gericht als sittenwidrig eingestuft, ist er gemäß § 138 Abs. 1 BGB von Anfang an nichtig, das heißt, er entfaltet keine rechtliche Wirkung. Das hat zur Folge, dass keine vertraglichen Ansprüche wie etwa auf Erfüllung, Schadensersatz oder Zahlung entstehen. Bereits erbrachte Leistungen können unter Umständen nach Bereicherungsrecht (§§ 812 ff. BGB) zurückgefordert werden, sofern kein gesetzliches Rückforderungsverbot (z.B. bei beiderseitig sittenwidrigen Leistungen) entgegensteht. In bestimmten Konstellationen, insbesondere wenn eine Partei besonders schutzwürdig erscheint, kann trotz Sittenwidrigkeit ein Anspruch auf Rückgabe oder Schadensersatz entstehen, etwa bei vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung.
Welche Arten von Rechtsgeschäften sind typischerweise sittenwidrig?
Typische sittenwidrige Rechtsgeschäfte sind solche, die ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung aufweisen (Wucher), Verträge, die die wirtschaftliche oder persönliche Freiheit einer Partei unangemessen beschränken (Knebelungsverträge), oder solche, die auf eine Gesetzesumgehung abzielen. Auch Verträge über sittenwidrige Handlungen, etwa Zahlungen für Straftaten oder Verstoß gegen die guten Sitten (z.B. „Schweigegeldverträge“ zum Schutz krimineller Aktivitäten), gehören dazu. In jüngerer Zeit werden zudem Kreditverträge mit sittenwidrig hohen Zinssätzen, bestimmte Verbraucherdarlehen und Verträge, die auf eine unangemessene Belastung eines sozial schwachen Vertragspartners abzielen, regelmäßig von den Gerichten als sittenwidrig angesehen.
Wie unterscheidet sich die Sittenwidrigkeit von der bloßen Unwirksamkeit wegen Gesetzesverstoßes?
Ein Rechtsgeschäft kann sowohl wegen Verstoßes gegen ein Gesetz (§ 134 BGB) als auch wegen Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) nichtig sein. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass § 134 BGB auf die Verletzung eines konkreten gesetzlichen Verbots abstellt (z.B. Abschluss eines Darlehensvertrags ohne behördliche Erlaubnis), während § 138 BGB eine umfassendere Wertung vornimmt und darüber hinausgeht, indem auch Handlungen, die nicht explizit gesetzlich verboten sind, aber gegen grundlegende Wertvorstellungen der Gesellschaft verstoßen, erfasst werden. Sittenwidrigkeit kann also auch dann vorliegen, wenn kein konkretes Gesetz verletzt wird, das betreffende Geschäft aber nach Treu und Glauben oder dem Anstand als vollkommen untragbar erscheint.
Welche Rolle spielt das subjektive Element bei der Sittenwidrigkeit?
Neben der objektiven Bewertung eines Rechtsgeschäfts anhand der herrschenden Sitten ist auch das subjektive Element von Bedeutung. Für die Feststellung der Sittenwidrigkeit im Sinne von § 138 BGB muss zwar grundsätzlich kein vorsätzliches oder bewusster Verstoß gegen die guten Sitten vorliegen, allerdings kann die Motivation und das Verhalten der Vertragsparteien eine Rolle spielen. Besonders relevant wird das subjektive Element beim Wuchertatbestand nach § 138 Abs. 2 BGB, wo Ausnutzung einer Zwangslage, Unerfahrenheit, erheblicher Willensschwäche oder geistiger Beeinträchtigung erforderlich ist. Auch im Deliktsrecht (§ 826 BGB) ist das sittenwidrige Verhalten mit Schädigungsabsicht (Vorsatz) Voraussetzung für eine Haftung.
Gibt es typische Beispiele für die Anwendung von Sittenwidrigkeit in der Rechtsprechung?
Die Rechtsprechung hat über die Jahrzehnte hinweg zahlreiche Fallkonstellationen als sittenwidrig eingestuft. Häufig zitiert werden etwa Bürgschaften von finanziell unerfahrenen Familienangehörigen für hohe Kredite ohne angemessene Sicherheiten, Kreditverträge mit ruinösen Zinssätzen, menschenunwürdige Eheverträge, sittenwidrige Arbeitsbedingungen wie exzessive Überstundenregelungen ohne angemessene Vergütung oder Knebelungsvereinbarungen im Handelsvertreterrecht. Auch im Mietrecht werden Vertragsklauseln, die den Mieter in seiner Handlungsfreiheit unzumutbar einschränken, regelmäßig wegen Sittenwidrigkeit für nichtig erklärt. Die Gerichte entwickeln durch ihre Urteile stets weitere Fallgruppen und passen bestehende Wertungen an gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen an.