Begriff und Grundlagen der sittenwidrigen Schädigung
Die sittenwidrige Schädigung ist ein zentrales Rechtsinstitut des deutschen Zivilrechts und bildet einen wichtigen Bestandteil des außervertraglichen Schadensersatzrechts. Sie ist insbesondere in § 826 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) geregelt und zählt zu den deliktischen Haftungstatbeständen. Diese Vorschrift stellt eine Allgemeinklausel dar, auf deren Grundlage Schadensersatzansprüche wegen besonders verwerflicher, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstoßender Handlungen, geltend gemacht werden können.
Gesetzliche Regelung
§ 826 BGB – Wortlaut
Der § 826 BGB lautet:
„Wer in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem anderen vorsätzlich Schaden zufügt, ist dem anderen zum Ersatz des Schadens verpflichtet.“
Historische Entwicklung
Die Norm wurde mit dem BGB im Jahr 1900 eingeführt und basiert auf rechtsgeschichtlichen Entwicklungen, die auf das Deliktsrecht des 19. Jahrhunderts zurückgehen. Sie dient als Auffangtatbestand für rechtswidrige und besonders verwerfliche Schädigungen, die nicht durch spezifische gesetzliche Regelungen erfasst werden.
Tatbestandsvoraussetzungen
Um einen Schadensersatzanspruch gemäß § 826 BGB zu begründen, müssen bestimmte Voraussetzungen kumulativ vorliegen.
1. Sittenwidrigkeit der Handlung
Definition der Sittenwidrigkeit
Eine Handlung ist sittenwidrig, wenn sie nach Inhalt oder Gesamtcharakter gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Die Beurteilung der Sittenwidrigkeit erfolgt dabei nicht nach subjektiven Wertmaßstäben, sondern nach einem objektiv-generellen Maßstab unter Berücksichtigung von Ethik, Moral und gesellschaftlicher Wertordnung zum Zeitpunkt der Handlung.
Beispiele für Sittenwidrigkeit
- Systematische Täuschung oder Arglist
- Ausnutzen einer Zwangslage, Unerfahrenheit oder eines starken Abhängigkeitsverhältnisses
- Erhebliche Verstöße gegen gesetzliche oder vertragliche Treuepflichten
- Kreditbetrug, sittenwidrige Schädigungen im Wirtschaftsleben (z.B. Schädigung von Konkurrenzunternehmen durch unfairen Wettbewerb)
2. Vorsatz
Die sittenwidrige Schädigung erfordert grundsätzlich Vorsatz hinsichtlich der sittenwidrigen Handlung und der Schadenszufügung. Es genügt bedingter Vorsatz, das heißt, der Schädiger muss die Möglichkeit und die Folgen seines Handelns zumindest billigend in Kauf nehmen.
3. Kausalität und Schaden
Es muss ein adäquater Kausalzusammenhang zwischen der sittenwidrigen Handlung und dem eingetretenen Schaden bestehen. Ersatzfähig sind alle durch die sittenwidrige Handlung verursachten materiellen und immateriellen Schäden.
4. Rechtswidrigkeit
Die Tatbestandsmäßigkeit nach § 826 BGB indiziert zugleich die Rechtswidrigkeit der Handlung. Rechtfertigungsgründe sind im Rahmen dieser Norm äußerst selten und praktisch kaum anerkannt.
Rechtsfolgen
Schadensersatzanspruch
Der Hauptanspruch nach § 826 BGB ist darauf gerichtet, den Geschädigten so zu stellen, wie er ohne das sittenwidrige Verhalten stehen würde (Naturalrestitution). Der Anspruch umfasst Ersatz des entstandenen Vermögensschadens sowie unter bestimmten Voraussetzungen auch Ersatz von immateriellen Schäden (z. B. bei schwerwiegenden Persönlichkeitsrechtsverletzungen).
Verjährung
Die Verjährungsfrist für Ansprüche aus § 826 BGB richtet sich nach § 195 BGB und beträgt grundsätzlich drei Jahre. Sie beginnt mit dem Schluss des Jahres, in dem der Geschädigte von dem Schaden und der Person des Schädigers Kenntnis erlangt oder hätte erlangen müssen.
Gesamtschuldnerische Haftung
Haben mehrere Personen gemeinschaftlich sittenwidrig geschädigt, haften sie gemäß § 840 BGB als Gesamtschuldner.
Abgrenzung zu anderen Haftungstatbeständen
Unterschied zu § 823 BGB
Im Gegensatz zu § 823 BGB, der einen Verstoß gegen ein Schutzgesetz oder die Verletzung absoluter Rechte voraussetzt, knüpft § 826 BGB an den Verstoß gegen die guten Sitten und Vorsatz an. Er hat einen weiteren Anwendungsbereich und kann insbesondere dann greifen, wenn andere Tatbestände nicht zur Anwendung kommen.
Verhältnis zur Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB
Während § 826 BGB die sittenwidrige Schädigung im Deliktsrecht regelt, betrifft § 138 BGB die Nichtigkeit sittenwidriger Rechtsgeschäfte. Beide Vorschriften zielen zwar auf den Schutz vor verwerflichem Verhalten, sind jedoch systematisch und in ihren Rechtsfolgen klar zu trennen.
Anwendungsbereiche in der Praxis
Zivilrechtliche Praxis
Sittenwidrige Schädigungstatbestände sind besonders häufig in Fällen von
- Vermögensmanipulation,
- Kreditschädigungen,
- schikanösen Maßnahmen von Unternehmen gegen Wettbewerber,
- gezielten Falschinformationen im Geschäftsverkehr,
- Persönlichkeitsrechtsverletzungen,
- Betrugsähnlichen Fallkonstellationen ohne Erfüllung des Straftatbestandes.
Rechtsprechung
Die Rechtsprechung zum § 826 BGB ist umfangreich. Grundsatzentscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH) prägen die Anwendung der Norm insbesondere hinsichtlich der Anforderungen an die Sittenwidrigkeit und das Maß des Vorsatzes.
Besonderheit: Sittenwidrige Finanzierungsgeschäfte
In der Rechtsprechung sind Fälle anerkannt, in denen sogenannte „Schrottimmobilien“ unter Täuschung und Ausnutzen von Unerfahrenheit sittenwidrig verkauft wurden. Auch fehlerhafte Anlageberatung kann unter gewissen Umständen eine Haftung gemäß § 826 BGB begründen.
Internationale und europarechtliche Bezüge
Ein direktes Pendant zu § 826 BGB besteht im ausländischen Recht in der Regel nicht. Allerdings existieren vergleichbare Generalklauseln in anderen Rechtsordnungen, etwa in Form der „tort of deceit“ im Common Law.
Literaturhinweise und weiterführende Links
- Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, Kommentar, § 826 BGB
- Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, § 41 Rn. 1 ff.
- MüKoBGB/Wagner, § 826 BGB
- BGH, Urteil vom 19. Juli 1954, VI ZR 222/53
- BGH, Urteil vom 29. März 2011, XI ZR 33/10
Zusammenfassung
Die sittenwidrige Schädigung gemäß § 826 BGB stellt einen wichtigen Ausgleichstatbestand im deutschen Schadensersatzrecht dar. Sie schützt vor besonders verwerflichen Schädigungshandlungen, für die kein speziellerer Haftungstatbestand einschlägig ist. Wesentliche Voraussetzungen sind Sittenwidrigkeit, Vorsatz, Schaden und Kausalität. Die Norm ist im zivilrechtlichen Alltag – insbesondere im Wirtschaftsleben – von erheblicher Bedeutung und wird von der Rechtsprechung kontinuierlich weiterentwickelt.
Häufig gestellte Fragen
Wann liegt eine sittenwidrige Schädigung im Sinne des § 826 BGB vor?
Eine sittenwidrige Schädigung gemäß § 826 BGB liegt vor, wenn jemand einem anderen vorsätzlich in einer gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstoßenden Weise Schaden zufügt. Erforderlich ist ein Verhalten, das objektiv als sittenwidrig qualifiziert werden kann, also verwerflich oder besonders unlauter ist. Maßgeblich sind die herrschenden moralischen Anschauungen zur Zeit der Handlung. Als sittenwidrig gelten unter anderem besonders schwere Fälle von Vertragstreuebruch, krasse Missachtung gesetzlicher Vorschriften, Ausnutzen einer Zwangslage, gezielte Schädigungsabsicht oder auch das Herbeiführen eines Schadens außerhalb bestehender Rechtsverhältnisse, sofern diese Handlung nach ihrem Gesamtcharakter in einem so starken Maße gegen Anstand und gute Sitten verstößt, dass sie die Missbilligung der Rechtsgemeinschaft verdient. Neben dem objektiven Unwerturteil ist weiterhin Vorsatz erforderlich, d.h. der Schädiger muss zumindest billigend in Kauf genommen haben, dass sein Verhalten zu einem Schaden führt und gegen die guten Sitten verstößt.
Welche Rolle spielt der Vorsatz bei der sittenwidrigen Schädigung?
Der Vorsatz ist bei § 826 BGB zwingende Voraussetzung und umfasst sowohl die Kenntnis als auch das Wollen der sittenwidrigen Schädigung. Es genügt bedingter Vorsatz (dolus eventualis), das heißt, der Handelnde muss es zumindest für möglich halten und billigend in Kauf nehmen, dass seine Handlung einen Schaden herbeiführt und im konkreten Fall gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Ein bloß fahrlässiges Verhalten genügt hingegen nicht. Der Vorsatz muss sich auch gerade auf die die Sittenwidrigkeit begründenden Umstände beziehen; der Täter muss also die für die Sittenwidrigkeit maßgeblichen Tatsachen kennen und sich dieser bewusst bedienen oder sie in Kauf nehmen.
Welche typischen Fallgruppen gibt es bei der sittenwidrigen Schädigung?
In der Rechtsprechung und Literatur haben sich mehrere typische Fallgruppen für eine sittenwidrige Schädigung herausgebildet. Dazu zählen unter anderem das vorsätzliche Herbeiführen einer Insolvenz zum Schaden der Gläubiger, die Eingehungsbetrugsnahen Fälle, das systematische Ausnutzen geschäftlicher Unerfahrenheit oder einer wirtschaftlichen Zwangslage, arglistige Täuschungen, krasse Verstöße im Zusammenhang mit der Vermögensbetreuungspflicht sowie das Eingreifen in fremde Vertragsverhältnisse durch unangemessene Mittel (z.B. „Boykottfälle“). Auch im Bereich des Wettbewerbsrechts und bei der schikanösen Geltendmachung von Ansprüchen kann eine solche Haftung in Betracht kommen.
Wann ist die Rechtsfolge einer sittenwidrigen Schädigung gemäß § 826 BGB?
Wird eine sittenwidrige Schädigung festgestellt, hat der Geschädigte gegen den Schädiger einen Anspruch auf Ersatz des entstandenen Schadens gemäß § 826 BGB. Dieser Schadensersatzanspruch richtet sich auf Naturalrestitution, das heißt, der Zustand ist so herzustellen, wie er ohne das sittenwidrige Verhalten bestehen würde (§ 249 BGB). Ist dies nicht möglich, ist Wertersatz zu leisten (§ 251 BGB). Der Schadensersatzanspruch umfasst sowohl Vermögensschäden als auch – in engen Ausnahmefällen – immaterielle Schäden (z.B. bei schwerwiegenden Persönlichkeitsrechtsverletzungen), soweit die allgemeinen Voraussetzungen der §§ 249 ff. BGB erfüllt sind.
Wer kann für eine sittenwidrige Schädigung haften?
Für eine sittenwidrige Schädigung haften grundsätzlich alle Personen, die eigenverantwortlich und vorsätzlich in sittenwidriger Weise einen Schaden verursacht haben. Das können sowohl natürliche als auch juristische Personen sein. Besonders relevant ist hier die sogenannte Mittäterschaft oder Teilnahme (Anstiftung und Beihilfe), da auch Beteiligte, die nicht selbst „den Schaden ausführen“, gleichwohl haften, wenn sie vorsätzlich zum sittenwidrigen Verhalten beitragen. In bestimmten Fällen kann auch eine Haftung von Vertretern für Organ- oder Funktionsträger bestehender juristischer Personen, etwa bei Aktiengesellschaften oder GmbHs, in Frage kommen (§ 31 BGB). Maßgeblich bleibt stets das Vorliegen von Vorsatz und Sittenwidrigkeit der Handlung.
Wie erfolgt die Abgrenzung zur bloßen unerlaubten Handlung, insbesondere zu § 823 BGB?
Der Tatbestand der sittenwidrigen Schädigung nach § 826 BGB unterscheidet sich vom allgemeinen Deliktstatbestand des § 823 BGB dadurch, dass keine Verletzung absolut geschützter Rechtsgüter wie Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit oder Eigentum vorausgesetzt wird. Zentrales Abgrenzungskriterium ist das zusätzliche Element der Sittenwidrigkeit und des Schädigungsvorsatzes. Während bei § 823 Abs. 1 BGB auch Fahrlässigkeit genügt und allein die Rechtsgutverletzung genügt, erfordert § 826 BGB die bewusste und gezielte Schädigung unter besonders verwerflichen Umständen. § 826 BGB ist als Auffangtatbestand gedacht, wenn keine spezialgesetzlichen Anspruchsgrundlagen greifen, der Schädiger jedoch mit besonders anstößiger Motivation gehandelt hat.
Welche Anspruchsvoraussetzungen sind im Einzelnen nachzuweisen?
Um einen Anspruch aus § 826 BGB erfolgreich geltend zu machen, muss der Geschädigte folgende Voraussetzungen beweisen: Erstens das Vorliegen eines Schadens, zweitens ein sittenwidriges Verhalten des Schädigers (objektives Element), drittens Vorsatz des Schädigers bezüglich aller anspruchsbegründenden Umstände und viertens Kausalität zwischen der sittenwidrigen Handlung und dem eingetretenen Schaden. Die Anforderungen an den Nachweis insbesondere des Vorsatzes und der Sittenwidrigkeit sind hoch und liegen in der Darlegungs- und Beweislast des Anspruchstellers. Die Gerichte prüfen hierbei stets auch, ob im konkreten Fall nicht lediglich eine zivilrechtlich nicht zu beanstandende Handlung, sondern tatsächlich ein besonders verwerfliches Verhalten vorliegt.