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Sittenwidrige Rechtsgeschäfte


Begriff und Definition: Sittenwidrige Rechtsgeschäfte

Sittenwidrige Rechtsgeschäfte sind Rechtsgeschäfte, die gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstoßen und deshalb gemäß § 138 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) nichtig sind. Der Begriff der Sittenwidrigkeit stellt auf das objektive Werteverständnis ab, das sich aus den herrschenden moralischen, sozialen und ethischen Normen einer bestimmten Zeit ergibt. Ein sittenwidriges Rechtsgeschäft ist rechtlich ohne Wirkung; es kann keinerlei Anspruchsgrundlagen oder Verpflichtungen begründen.

Gesetzliche Grundlage

§ 138 BGB – Sittenwidrigkeit

Die zentrale gesetzliche Regelung für sittenwidrige Rechtsgeschäfte findet sich in § 138 BGB. Dieser lautet:

„Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig.“

Der zweite Absatz derselben Vorschrift erweitert das Verbot auf Wucher und beinhaltet eine eigene Regelung für wucherische Geschäfte.

Verhältnis zu anderen Regelungen

Neben § 138 BGB können auch andere Vorschriften zur Sittenwidrigkeit führen, etwa § 826 BGB (Sittenwidrige vorsätzliche Schädigung).

Merkmale der Sittenwidrigkeit

Maßstab der Sittenwidrigkeit

Für die Beurteilung, ob ein Rechtsgeschäft sittenwidrig ist, wird auf die „guten Sitten“ abgestellt. Diese sind ein ausfüllungsbedürftiger unbestimmter Rechtsbegriff, der von der Rechtsprechung anhand des sogenannten „Anstandsgefühls aller billig und gerecht Denkenden“ konkretisiert wird. Maßgeblich ist jeweils die gesellschaftliche Moralvorstellung zur Zeit des Geschäftsabschlusses. Die guten Sitten umfassen dabei ein sittliches Minimum an sozialer Gerechtigkeit und Rücksichtnahme in Rechtsbeziehungen.

Subjektiver und objektiver Tatbestand

Für die Annahme der Sittenwidrigkeit genügt regelmäßig die objektive Verletzung der guten Sitten; eine subjektive Kenntnis der Sittenwidrigkeit ist grundsätzlich nicht erforderlich. Allerdings kann die subjektive Gesinnung eine Rolle bei der Bewertung einzelner Fallkonstellationen spielen, etwa wenn ein strukturelles Ungleichgewicht gezielt ausgenutzt wird.

Fallgruppen der Sittenwidrigkeit

Wucher

Ein besonders häufiger Unterfall sittenwidriger Rechtsgeschäfte ist der Wucher, geregelt in § 138 Abs. 2 BGB. Wucher liegt vor, wenn zwischen Leistung und Gegenleistung ein auffälliges Missverhältnis besteht und die schwächere Partei eine Zwangslage, Unerfahrenheit, erheblichen Mangel an Urteilsvermögen oder eine erhebliche Willensschwäche ausgenutzt wird. Wucher ist stets sittenwidrig und führt zur Nichtigkeit des gesamten Rechtsgeschäfts.

Knebelungsverträge und Übermäßige Bindungen

Verträge, die eine Partei unangemessen lange oder in einer die persönliche und wirtschaftliche Freiheit beeinträchtigenden Weise binden („Knebelungsverträge“), werden häufig als sittenwidrig beurteilt. Hierzu zählen beispielsweise überlange Vertragslaufzeiten ohne ausreichende Gründe oder Ausstiegsmöglichkeiten.

Ausnutzung struktureller Unterlegenheit

Auch die Ausnutzung besonderer Schwächesituationen, zum Beispiel in Fällen von Abhängigkeitsverhältnissen, kann zur Sittenwidrigkeit führen. Beispiele hierfür sind auffällig nachteilige Vertragsbedingungen, die unter Druck oder unter Ausnutzung mangelnder Sachkenntnis abgeschlossen werden.

Andere Fallgruppen

Zu den anerkannten Fallgruppen sittenwidriger Geschäfte zählen unter anderem:

  • Schädigungsabsicht durch Verträge
  • Verstöße gegen gesetzliche Wertungen, wie etwa Diskriminierungsverbote
  • Geschäfte zur Ermöglichung krimineller Handlungen (z. B. Verträge über Killerdienste oder Bestechung)
  • Sittenwidrige Ehe- oder Erbverträge

Rechtsfolgen sittenwidriger Rechtsgeschäfte

Nichtigkeit des gesamten Rechtsgeschäfts

Ein sittenwidriges Rechtsgeschäft ist nach § 138 BGB insgesamt nichtig. Dies bedeutet, dass es von Anfang an (ex tunc) als unwirksam gilt und keinerlei Rechtswirkung entfaltet.

Rückabwicklung der erbrachten Leistungen

Wurden im Rahmen eines nichtigen Rechtsgeschäfts bereits Leistungen erbracht, ist nach den Grundsätzen des sogenannten „Bereicherungsrechts“ (§§ 812 ff. BGB) eine Rückabwicklung vorzunehmen, sofern nicht das sogenannte „Verbot der Rückforderung aus sittlich verwerflichem Verhalten“ (Condictio ob turpem vel iniustam causam, § 817 Satz 2 BGB) eingreift. Dies verhindert die Rückforderung, wenn auch der Leistende gegen die guten Sitten verstoßen hat.

Teilnichtigkeit

In bestimmten Fällen kann ein nur teilweiser Verstoß gegen die guten Sitten zu einer Teilnichtigkeit führen, sofern der nichtige Teil vom Rest des Geschäfts abtrennbar ist. Andernfalls ist das gesamte Rechtsgeschäft nichtig (Grundsatz der Gesamtnichtigkeit).

Abgrenzung: Sittenwidrigkeit und Gesetzesverstoß

Ein Rechtsgeschäft kann zugleich gegen ein gesetzliches Verbot (§ 134 BGB) und gegen die guten Sitten (§ 138 BGB) verstoßen. Während § 134 BGB die Nichtigkeit bei Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot vorsieht, wird bei § 138 BGB primär das Wertungselement der Sittenwidrigkeit geprüft. In der Praxis kann es zu Überschneidungen kommen; so ist etwa eine Vereinbarung zur Begehung einer Straftat meist zugleich sittenwidrig und gesetzeswidrig.

Sittenwidrige Rechtsgeschäfte im internationalen Vergleich

Das Verbot diskretionär sittenwidriger Geschäfte ist nicht auf das deutsche Recht beschränkt. Ähnliche Prinzipien finden sich in vielen Rechtsordnungen. Im europäischen Privatrecht ist „ordre public“ (öffentliche Ordnung) ein vergleichbarer Begriff. Auch im französischen und italienischen Zivilrecht existieren Normen, die die Nichtigkeit sittenwidriger Geschäfte vorsehen.

Bedeutung in der Rechtsprechung

Die Auslegung und Anwendung des § 138 BGB ist maßgeblich durch die Rechtsprechung geprägt. Insbesondere der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit einer Vielzahl von Entscheidungen das Verständnis von Sittenwidrigkeit im Sinne von § 138 BGB konkretisiert und fortentwickelt. Die Würdigung erfolgt stets anhand aller relevanten Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Interessenlage der Parteien, Art und Inhalt des Geschäfts sowie der begleitenden Motive.

Zusammenfassung und praktische Relevanz

Sittenwidrige Rechtsgeschäfte sind im deutschen Recht nach § 138 BGB nichtig. Sie dienen dem Schutz der Rechtsordnung vor Verträgen und Verpflichtungen, die gegen das gesellschaftlich anerkannte Wertegefüge verstoßen. Die Rechtsfolgen der Nichtigkeit wirken sich sowohl auf bereits erbrachte Leistungen aus als auch auf nachträgliche Ansprüche. Die fortwährende Anwendung und Ausgestaltung in Einzelfällen wird maßgeblich durch die aktuelle rechtliche und gesellschaftliche Entwicklung beeinflusst.

Sittenwidrigkeit stellt damit eine dynamische Schranke privater Vertragsfreiheit dar und ist von zentraler Bedeutung für die Wertung und Kontrolle privatrechtlicher Absprachen im deutschen Zivilrecht.

Häufig gestellte Fragen

Wann liegt ein sittenwidriges Rechtsgeschäft vor?

Ein sittenwidriges Rechtsgeschäft liegt vor, wenn es gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt, also gegen das „gute Sitten“ (§ 138 Abs. 1 BGB) verstößt. Die genaue Bestimmung der Sittenwidrigkeit erfolgt durch eine umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls. Maßgebliche Kriterien sind unter anderem der Inhalt des Geschäfts, Zweck, Beweggrund sowie die Begleitumstände beim Abschluss. Besonders häufig wird die Sittenwidrigkeit bei sogenannten Knebelungsverträgen, wucherischen Darlehen oder sittenwidrigen Eheverträgen angenommen. Entscheidend ist stets die Gesamtbetrachtung, bei der geprüft wird, ob das Geschäft nach „Treu und Glauben“ und dem herrschenden Werteempfinden in der Gesellschaft nicht mehr hinnehmbar ist. Es genügt nicht, dass lediglich eine Vertragspartei benachteiligt wird – vielmehr muss das Rechtsgeschäft in seiner Gesamtheit gegen das Anstandsgefühl verstoßen.

Welche Rechtsfolgen hat die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts?

Wird ein Rechtsgeschäft als sittenwidrig eingestuft, ist es gemäß § 138 BGB von Anfang an (ex tunc) nichtig. Dies hat zur Folge, dass das Geschäft keinerlei rechtliche Wirkungen entfaltet und so behandelt wird, als wäre es nie abgeschlossen worden. Bereits erbrachte Leistungen sind nach den Regeln über die ungerechtfertigte Bereicherung (§§ 812 ff. BGB) zurückzugewähren. Eine Besonderheit gilt, wenn auch der Bereicherungsanspruch sittenwidrige Zwecke verfolgt hat (§ 817 Satz 2 BGB), sodass unter Umständen kein Anspruch auf Rückforderung besteht. Die Nichtigkeit erfasst das gesamte Rechtsgeschäft, es sei denn, Teile des Geschäfts sind abtrennbar und ohne die sittenwidrigen Elemente aufrechterhaltbar (§ 139 BGB).

In welchen Bereichen kommen sittenwidrige Rechtsgeschäfte besonders häufig vor?

Sittenwidrige Rechtsgeschäfte treten besonders häufig in Vertragsbereichen auf, bei denen eine Partei die Unerfahrenheit, Notlage oder Schwäche der anderen Partei in grob anstößiger Weise ausnutzt. Häufige Beispiele finden sich im Bereich des Wuchers (§ 138 Abs. 2 BGB), insbesondere bei Kreditverträgen mit überhöhtem Zinssatz, in Knebelungs- oder Monopolverträgen, sittenwidrigen AGB-Bestimmungen, übermäßiger Vertragsbindung (z.B. lebenslange Mietverhältnisse ohne Kündigungsmöglichkeit) und bei Verträgen, die gegen strafrechtliche Verbote oder die öffentliche Ordnung verstoßen. Auch im Familien- und Erbrecht begegnen Gerichte regelmäßig Ehe- oder Erbverträgen mit sittenwidrigem Inhalt, vor allem, wenn eine Partei unangemessen benachteiligt wird.

Welche Rolle spielt die subjektive Einstellung der Vertragsparteien?

Für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit ist grundsätzlich eine objektive Betrachtung maßgeblich, das heißt, es kommt weniger auf die subjektiven Vorstellungen oder Absichten der Parteien an, sondern darauf, wie das Geschäft nach der herrschenden Moral- und Wertvorstellung bewertet wird. Eine Ausnahme gilt beispielsweise beim Wucher nach § 138 Abs. 2 BGB, bei dem neben einem auffälligen Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung auch eine subjektive Ausbeutungsabsicht erforderlich ist. Insgesamt bleibt aber das objektive Element, nämlich der Verstoß gegen das Anstandsgefühl der Gesellschaft, im Vordergrund.

Können auch gesetzlich erlaubte Verträge sittenwidrig sein?

Ja, auch gesetzlich prinzipiell zulässige Verträge können im Einzelfall sittenwidrig sein, wenn die nähere Ausgestaltung oder die Art und Weise ihres Zustandekommens gegen die guten Sitten verstößt. Das Gesetz gibt in § 134 BGB für gesetzeswidrige Verträge einen eigenständigen Nichtigkeitsgrund; § 138 BGB ergänzt diesen um die Bewertung nach allgemeinen Moral- und Anstandsregeln. So kann ein Arbeits- oder Mietvertrag, der formell dem Gesetz entspricht, dennoch infolge extremer Übervorteilung oder Knebelung als sittenwidrig und damit nichtig eingestuft werden. Es handelt sich dann um einen eigenständigen Nichtigkeitsgrund außerhalb eines unmittelbaren Gesetzesverstoßes.

Wie erfolgt die gerichtliche Kontrolle der Sittenwidrigkeit?

Gerichte prüfen die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts im Rahmen ihrer Amtsermittlungspflicht, sobald konkrete Anhaltspunkte für einen Sittenverstoß vorliegen. Die Gerichte wenden dabei eine umfassende Würdigung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls an, einschließlich gesellschaftlicher Wertvorstellungen, wirtschaftlicher Verhältnisse und etwaiger persönlicher Abhängigkeiten. Die Rechtsprechung entwickelt dabei anhand von Leitentscheidungen Kriterien, was als sittlich verwerflich anzusehen ist. Maßgeblich ist stets die zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses herrschende Wert- und Moralvorstellung. Besondere Aufmerksamkeit genießen Bereiche, in denen schutzbedürftige Parteien beteiligt sind, etwa Verbraucher im Verhältnis zu Unternehmern oder arbeitsrechtlich schwächere Vertragspartner.