Legal Lexikon

Rom I


Rom I-Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 593/2008): Rechtsrahmen für vertragliche Schuldverhältnisse in der EU

Die Rom I-Verordnung, offiziell als Verordnung (EG) Nr. 593/2008 bezeichnet, stellt einen wesentlichen Bestandteil des europäischen Kollisionsrechts dar. Sie regelt die Bestimmung des anwendbaren Rechts auf vertragliche Schuldverhältnisse mit grenzüberschreitendem Bezug im Zivil- und Handelsrecht innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ausgenommen Dänemark). Seit ihrem Inkrafttreten am 17. Juni 2008 und ihrer Anwendung ab dem 17. Dezember 2009 ist sie zentral für die Vereinheitlichung und Vorhersehbarkeit in grenzüberschreitenden Rechtsverhältnissen.

Anwendungsbereich der Rom I-Verordnung

Sachlicher Anwendungsbereich

Die Rom I-Verordnung gilt für vertragliche Schuldverhältnisse im Zivil- und Handelsrecht, bei denen eine Verbindung zu mehr als einem Mitgliedstaat besteht. Sie erfasst sämtliche Verträge, soweit diese nach dem jeweiligen nationalen Recht nicht ausdrücklich ausgeschlossen sind. Ausgenommen sind unter anderem Schuldverhältnisse in Zusammenhang mit Status- und Rechtsfähigkeit natürlicher Personen, ehelichen Güterrechten, Unterhaltspflichten, Wertpapieren, Gesellschaftsrecht, Schiedsverfahren und bestimmten Versicherungsgeschäften.

Räumlicher Anwendungsbereich

Die Verordnung gilt in allen EU-Mitgliedstaaten mit Ausnahme Dänemarks. Sie ist unabhängig davon anwendbar, ob das anwendbare Recht das eines Mitgliedstaats oder eines Drittstaats ist (universelle Anwendung, „universality principle“).

Zeitlicher Anwendungsbereich

Sie ist auf Verträge anwendbar, die ab dem 17. Dezember 2009 geschlossen wurden.

Struktur und Systematik der Rom I-Verordnung

Allgemeine Kollisionsnormen (Art. 3-6 Rom I-VO)

Vertragsautonomie (Art. 3 Rom I-VO)

Das Grundprinzip der Rom I-Verordnung ist die freie Rechtswahl. Die Parteien eines Vertrages können grundsätzlich das auf ihren Vertrag anwendbare Recht frei wählen. Diese Wahl kann ausdrücklich oder konkludent erfolgen und bezieht sich auf den gesamten oder auf Teile des Vertrages.

Anwendbares Recht ohne Rechtswahl (Art. 4-6 Rom I-VO)

Sofern keine Rechtswahl getroffen wurde, enthält die Verordnung spezifische Anknüpfungspunkte für verschiedene Vertragstypen:

  • Dienstleistungs- und Kaufverträge: Anknüpfung an das Recht des Staates, in dem der Verkäufer oder der Dienstleister seine gewöhnliche Niederlassung hat.
  • Beförderungsverträge: Spezielle Bestimmungen, insbesondere bei Personenbeförderungen (Art. 5 Rom I-VO).
  • Verbraucherverträge: Besondere Schutzvorschriften zugunsten von Verbrauchern (Art. 6 Rom I-VO).

Es gilt stets das Recht, das mit dem Vertrag die engsten Verbindungen aufweist, sofern keine der ausdrücklich geregelten Fallgruppen einschlägig ist.

Besondere Regelungen und Schutzmechanismen

Verbraucherschutz (Art. 6 Rom I-VO)

Verbraucherverträge unterliegen besonderen Schutzvorschriften. Wählen die Vertragsparteien ein Recht, das Verbraucher weniger schützt als das am gewöhnlichen Aufenthaltsstaat des Verbrauchers geltende Recht, bleiben die zwingenden Verbraucherschutzbestimmungen des Aufenthaltsstaates anwendbar.

Versicherung und Arbeitsrecht (Art. 7 und 8 Rom I-VO)

Die Rom I-Verordnung enthält auch spezielle Regelungen für Versicherungskontrakte und individuelle Arbeitsverträge, bei denen insbesondere zwingende Vorschriften des Arbeitsortes sowie des gewöhnlichen Aufenthaltsortes des Arbeitnehmers geschützt werden.

Zwingendes Recht und Eingriffsnormen (Art. 9 Rom I-VO)

Die Verordnung räumt Staaten das Recht ein, eigene „Eingriffsnormen“ anzuwenden, wenn die Beachtung dieser Normen als unerlässlich für die Wahrung des öffentlichen Interesses (z. B. sozial-, wirtschafts- oder ordnungspolitische Belange) angesehen wird. Sowohl das Recht des angerufenen Gerichts als auch das eines anderen, eng verbundenen Staates kann auf diese Weise Wirkung entfalten.

Öffentliche Ordnung (ordre public, Art. 21 Rom I-VO)

Eine Anwendung des nach Rom I ermittelten ausländischen Rechts unterbleibt, wenn diese mit den Grundwerten der öffentlichen Ordnung („ordre public“) des Entscheidungsstaates offensichtlich unvereinbar wäre.

Verhältnis zu anderen Kollisionsnormen

Abgrenzung und Verhältnis zur Rom II-Verordnung

Während die Rom I-Verordnung das anwendbare Recht auf vertragliche Schuldverhältnisse bestimmt, regelt die Rom II-Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 864/2007) das anwendbare Recht auf außervertragliche Schuldverhältnisse (Deliktsrecht u. a.).

Verhältnis zur Brüssel I-Verordnung

Die Rom I-Verordnung ist unabhängig von der Brüssel I-Verordnung (EuGVVO), welche die internationale und örtliche Zuständigkeit der Gerichte regelt. Oftmals greifen jedoch beide Instrumente im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr komplementär ineinander.

Praktische Bedeutung und Zielsetzung

Die Rom I-Verordnung dient der Rechtsvereinheitlichung und -sicherheit im Binnenmarkt der EU. Sie schafft einheitliche Kollisionsregeln, reduziert Rechtsunsicherheit und fördert damit den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen. Die Verordnung verbessert die Rechtssicherheit für Vertragsparteien, insbesondere in Verbraucherverträgen, Arbeitsverhältnissen und im internationalen Geschäftsverkehr.

Kritische Würdigung und Weiterentwicklung

Die Rom I-Verordnung gilt als ein Meilenstein der europäischen Harmonisierung im internationalen Privatrecht. Dennoch wird sie fortwährend kritisch betrachtet, insbesondere hinsichtlich ihrer Ausnahmeregelungen, ihrer Anwendung auf komplexe Vertragsverkettungen und im Kontext neuer Entwicklungen wie Digitalisierung und internationaler Plattformmärkte.

Literatur und weiterführende Hinweise

  • Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I).
  • Bundesministerium der Justiz: Rom I – Kollisionsrechtliche Verordnung

Fazit:
Die Rom I-Verordnung ist das zentrale Instrument zur Bestimmung des anwendbaren Rechts auf vertragliche Schuldverhältnisse mit grenzüberschreitendem Bezug in der Europäischen Union. Sie steht für Transparenz, Rechtssicherheit und Verbraucherschutz im europäischen Binnenmarkt und bildet die Grundlage für die tägliche Praxis internationaler Vertragsgestaltung.

Häufig gestellte Fragen

Welche Bedeutung hat das Rom I-Verordnung für grenzüberschreitende Verträge in der EU?

Die Rom I-Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 593/2008) legt fest, welches nationale Recht bei vertraglichen Schuldverhältnissen mit grenzüberschreitendem Bezug innerhalb der Europäischen Union Anwendung findet. Sie sorgt für die Rechtssicherheit in internationalen Handels- und Verbraucherrechtsbeziehungen, indem sie einheitliche Kollisionsregeln für die Rechtswahl und die Fälle ohne Rechtswahl enthält. Die Verordnung ist unmittelbar in allen EU-Mitgliedstaaten (außer Dänemark) anwendbar und gilt für Verträge, die nach dem 17. Dezember 2009 geschlossen wurden. Durch die Rom I-Verordnung wird gewährleistet, dass Vertragsparteien vorhersehbar einschätzen können, welches Recht auf ihren Vertrag anzuwenden ist. Damit fördert sie den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr sowie den Schutz der schwächeren Partei, insbesondere von Verbrauchern und Arbeitnehmern.

Wie erfolgt die Rechtswahl durch die Parteien gemäß Rom I?

Die Parteien eines Vertrages können das auf ihren Vertrag anwendbare Recht gemäß Art. 3 Rom I grundsätzlich frei wählen. Diese Rechtswahl kann ausdrücklich oder sich mit hinreichender Sicherheit aus den Bestimmungen des Vertrages oder aus den Umständen des Falles ergeben. Die gewählte Rechtsordnung kann für den ganzen Vertrag oder nur für einen Teil davon bestimmt werden. Allerdings ist die Freiheit der Rechtswahl in bestimmten Konstellationen eingeschränkt, z. B. durch zwingende Vorschriften des Verbraucherschutzes oder im Arbeitsrecht. Wählen die Parteien kein Recht, bestimmen die Kollisionsregeln des Art. 4 Rom I die maßgebliche Rechtsordnung.

Welche Regelungen gibt es für Verbraucherverträge in der Rom I-Verordnung?

Für Verbraucherverträge enthalten die Art. 6 Rom I besondere Schutzvorschriften. Grundsätzlich können Verbraucher und Unternehmer zwar das für ihren Vertrag geltende Recht wählen, diese Rechtswahl darf jedoch nicht dazu führen, dass dem Verbraucher der Schutz entzogen wird, der ihm durch zwingende Vorschriften des Rechts seines Aufenthaltsstaates zusteht, sofern der Unternehmer geschäftliche Tätigkeiten auf diesen Staat ausrichtet. Maßgeblich ist das Recht des Staates, in dem der Verbraucher seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, vorausgesetzt, der Unternehmer übt seine Tätigkeit dort aus oder richtet sie auf diesen Staat aus. Damit soll sichergestellt werden, dass Verbraucher durch eine Wahl des „günstigeren“ Rechts nicht den Schutz verlieren, den ihnen das nationale Recht ihres Aufenthaltsstaates gewährt.

Wie wird das anwendbare Recht ohne Rechtswahl bestimmt?

Wenn die Parteien keine Rechtswahl getroffen haben, kommt Art. 4 Rom I zur Anwendung. Danach gilt grundsätzlich das Recht des Staates, in dem die Partei, welche die charakteristische Leistung zu erbringen hat, ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Je nach Vertragstyp sieht Art. 4 Abs. 1 auch spezifische Regelungen vor, beispielsweise bei Kauf-, Dienstleistungs-, Franchise- oder Vertriebsverträgen. Liegen mehrere typische Leistungen vor oder kann keine charakteristische Leistung bestimmt werden, wird das Vertragsrecht anhand einer engeren Verbindung nach den Umständen des Einzelfalls bestimmt (Art. 4 Abs. 3 und 4 Rom I). Dadurch wird eine größtmögliche Flexibilität und Gerechtigkeit bei der Konfliktlösung erreicht.

Welche Ausnahmen gelten bei zwingenden Vorschriften und Eingriffsnormen?

Ungeachtet einer getroffenen Rechtswahl oder den Regeln der Rom I-Verordnung kann es nationale zwingende Vorschriften oder sogenannte Eingriffsnormen geben, die unabhängig vom gewählten Recht Anwendung finden. Nach Art. 9 Rom I müssen solche Vorschriften, die insbesondere den Schutz öffentlichen Interesses bezwecken, zwingend beachtet werden. Dazu zählen beispielsweise bestimmte Vorschriften im Arbeitsrecht, Verbraucherschutzbestimmungen oder sonstige Regelungen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung eines Staates. Auch Drittstaaten können Eingriffsnormen besitzen, die unter besonderen Umständen Berücksichtigung finden. Die Gerichte jedes Mitgliedstaates können diese Normen anwenden, wenn ihre Einhaltung im Interesse des Staates als wesentlich erachtet wird.

Findet die Rom I-Verordnung auch auf außervertragliche Schuldverhältnisse Anwendung?

Die Rom I-Verordnung regelt ausschließlich vertragliche Schuldverhältnisse, also solche, die auf einer Vereinbarung zwischen den Parteien beruhen. Für außervertragliche Schuldverhältnisse, etwa Ansprüche aus Delikt, bereicherungsrechtlichen Ansprüchen oder culpa in contrahendo, gilt die Rom II-Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 864/2007). Eine klare Abgrenzung ist oft notwendig, da Mischformen möglich sind. Im Zweifelsfall ist sorgfältig zu prüfen, ob das Schuldverhältnis auf vertraglichen oder außervertraglichen Grundlagen beruht, um das richtige Kollisionsrecht anzuwenden.

Wie wirkt sich die Rom I-Verordnung auf Arbeitsverträge aus?

Für Arbeitsverträge enthält die Rom I-Verordnung spezielle Kollisionsregeln in Art. 8. Danach kann zwar grundsätzlich eine Rechtswahl getroffen werden, jedoch darf diese nicht dazu führen, dass der Arbeitnehmer den Schutz verliert, der ihm durch zwingende Bestimmungen des Rechts des Staates zusteht, in dem er gewöhnlich seine Arbeit verrichtet oder von dem aus er eingestellt wurde. Liegt kein gewöhnlicher Arbeitsort vor, ist maßgeblich das Recht des Staates, mit dem der Arbeitsvertrag die engste Verbindung aufweist. Diese Regelungen dienen der Wahrung des Arbeitnehmerschutzes und verhindern Nachteile durch eine gezielte Rechtswahl zulasten des Beschäftigten.