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Risikostrukturausgleich (zwischen Krankenkassen)


Risikostrukturausgleich (RSA) zwischen Krankenkassen

Der Risikostrukturausgleich (RSA) ist ein zentrales finanzrechtliches Ausgleichssystem im deutschen Gesundheitswesen, das dem Ziel dient, die unterschiedliche Risikostruktur der Mitglieder gesetzlicher Krankenkassen zu berücksichtigen und Wettbewerbsverzerrungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu vermeiden. Er stellt ein wesentliches Element zur Sicherstellung der solidarischen Finanzierung und gerechten Lastenverteilung unter den Krankenkassen dar.


Entwicklung und gesetzliche Grundlagen

Historischer Hintergrund

Der Risikostrukturausgleich wurde mit dem Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) 1993 eingeführt und ist am 1. Januar 1994 in Kraft getreten. Ziel war es, den seit 1996 bestehenden Wettbewerb unter Krankenkassen um Mitglieder zu ermöglichen, ohne dass sich die Kassen nur auf die Gewinnung „gesunder“ Versicherter konzentrieren (Risiko-Selektion). Die Weiterentwicklung zur Morbiditätsorientierung erfolgte mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) und ist zum 1. Januar 2009 mit dem morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) umgesetzt worden.

Rechtliche Verankerung

Die rechtliche Grundlage für den RSA findet sich in § 266 und insbesondere in §§ 268 bis 273 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Die nähere Ausgestaltung, insbesondere der Verfahren zur Berücksichtigung von Risikomerkmalen, ist durch Verordnungen geregelt, insbesondere die Risikostruktur-Ausgleichsverordnung (RSAV).


Funktionsweise des Risikostrukturausgleichs

Zielsetzung

Der Sinn und Zweck des RSA ist die Verhinderung von Risikoselektion sowie die Förderung fairer Wettbewerbsbedingungen. Die Mittelzuweisung orientiert sich folglich an sogenannten „Risikofaktoren“ der Versicherten, um die finanzielle Belastung aufgrund unterschiedlicher Mitgliederstrukturen (Alter, Geschlecht, Morbidität) auszugleichen.

Verfahren zur Mittelzuweisung

1. Zuweisungssystematik

Alle GKV-Versicherten entrichten einkommensabhängige Beiträge an ihre Krankenkasse. Seit 2009 führen die Krankenkassen diese Beiträge an den Gesundheitsfonds ab. Die Krankenkassen erhalten aus dem Fonds eine Zuweisung, die auf den individuellen Risikostrukturfaktoren ihrer Mitglieder basiert. Die Zuweisungen berücksichtigen:

  • Demografische Merkmale: Alter und Geschlecht der Versicherten
  • Leistungsbezogene Morbidität: Für ausgewählte Krankheiten wird anhand von Diagnose-Daten („80er Liste“, aktuell 80 schwerwiegende Krankheiten) ein Risikozuschlag berechnet
  • Leistungsrechtlicher Status: z.B. Erwerbsminderungsrentner
2. Morbiditätsorientierung

Mit Einführung des Morbi-RSA wurde die einfache Berücksichtigung altersspezifischer Strukturen erweitert. Nun werden auch Krankheitsbilder in differenzierter Weise herangezogen. Die Auswahl der berücksichtigten Krankheiten sowie das Berechnungsverfahren legen der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) und der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) fest.

3. Verteilung und Ausgleich

Über- oder Unterdeckungen in den einzelnen Krankenkassen durch eine „unvorteilhafte“ oder „vorteilhafte“ Versichertenstruktur werden kompensiert. Die Zuweisung spiegelt das Durchschnittsrisiko der GKV-Versicherten wider und soll eine wirtschaftliche Versorgung fördern.


Rechtliche Aspekte und Streitfragen

Verfassungsrechtliche Bewertung

Das System des Risikostrukturausgleichs steht in mehrfacher Hinsicht unter verfassungsrechtlicher Kontrolle. Insbesondere im Hinblick auf das Wettbewerbs-, Gleichbehandlungs- und Willkürverbot nach Art. 3 Abs. 1 GG prüfen Gerichte, ob die Ausgleichsmechanismen sachgerecht ausgestaltet sind. Das Bundesverfassungsgericht hat die wesentlichen Grundzüge des RSA grundgesetzkonform anerkannt, fordert aber eine fortlaufende Evaluierung.

Europarechtliche Dimension

Der Risikostrukturausgleich fällt primär in den Bereich der sozialen Sicherungssysteme und ist im Rahmen der Folgen des europäischen Wettbewerbsrechts als „Dienst von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ privilegiert (Art. 106 Abs. 2 AEUV). EU-rechtliche Verfahren prüfen insbesondere, ob der RSA als unzulässige Beihilfe nach Maßgabe des AEUV einzuordnen wäre – bislang wurde dies jedoch verneint.

Aufsicht und Kontrolle

Die Durchführung und Kontrolle des RSA obliegt dem Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS, vormals Bundesversicherungsamt). Das BAS prüft die Meldungen der Krankenkassen, die Korrektheit der Datenübermittlung und die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben. Beanstandungen und Mängel können zu Haushaltsnachforderungen und Sanktionen führen.

Datenschutz und Datenübermittlung

Zur Durchführung des Morbi-RSA ist die Übermittlung sensibler Sozialdaten (§§ 67 ff. SGB X) erforderlich. Rechtliche Basis für die Weitergabe und Verarbeitung bilden u.a. § 268 SGB V und die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Eine Verarbeitung dieser Daten ist nur für die Zwecke des RSA zulässig; unberechtigte Weitergabe und Nutzung ist strafbewehrt.


Kritik und Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs

Kritikpunkte und Reformbedarf

Immer wieder gibt es Kritik an der konkreten Ausgestaltung. Bemängelt werden unter anderem:

  • Eine begrenzte Krankheitsauswahl bei der Morbiditätsorientierung (nicht alle Krankheiten fließen ein)
  • Möglichkeiten zur Manipulation durch „Upcoding“ von Diagnosen
  • Unzureichende Berücksichtigung regionaler Strukturunterschiede und Zusatzbelastungen (z.B. in ländlichen Gebieten)

Reformen und Gesetzesvorhaben

Verschiedene gesundheitspolitische Reformen und Gesetzesinitiativen verfolgen das Ziel, die Zuweisungsmechanismen zu präzisieren. Dazu zählen die Einbeziehung weiterer Risikofaktoren, Anpassungen an demografische Trends sowie die Integration von Gesundheitsregionen. Das Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz (GKV-FKG, 2020) hat zahlreiche Änderungen u.a. zur Manipulationsabwehr und zu regionalen Faktoren eingeleitet.


Fazit und Bedeutung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung

Der Risikostrukturausgleich ist ein tragendes Element zur Sicherstellung der Solidarität im System der gesetzlichen Krankenkassen. Er gewährleistet, dass das Wettbewerbsprinzip mit der Grundidee solidarischer Absicherung in Einklang steht. Die rechtliche Ausgestaltung des RSA unterliegt einem stetigen Wandel, um aktuellen Herausforderungen und gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden. Trotz wiederkehrender Kritik bleibt der RSA unverzichtbar für die Sicherung eines chancengleichen Zugangs zu einer leistungsfähigen, solidarisch getragenen Gesundheitsversorgung.


Weiterführende Vorschriften:

  • Sozialgesetzbuch V (SGB V), insbesondere §§ 266-273
  • Risikostruktur-Ausgleichsverordnung (RSAV)
  • Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz (GKV-FKG)
  • Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO)

Siehe auch:

  • Gesetzliche Krankenversicherung (GKV)
  • Gesundheitsfonds
  • Morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA)
  • Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS)

Häufig gestellte Fragen

Welche rechtlichen Grundlagen regeln den Risikostrukturausgleich (RSA) in Deutschland?

Der Risikostrukturausgleich (RSA) zwischen den Krankenkassen ist primär im Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) geregelt, insbesondere in den §§ 266 bis 273 SGB V. Diese Vorschriften legen die Zielsetzung, Durchführung, Berechnung und die Aufsichtsfunktionen über den RSA fest. Zusätzlich enthält die Verordnung über die Durchführung des Risikostrukturausgleichs nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch (RSAV) detaillierte Vorgaben zur Umsetzung. Ferner sind Entscheidungen des Bundesamts für Soziale Sicherung (BAS) und Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) für die rechtliche Praxis von Bedeutung. Die EU-rechtlichen Vorgaben zur Gleichbehandlung und hinsichtlich des Wettbewerbsschutzes werden ebenfalls beachtet und im Rahmen des nationalen Rechts umgesetzt.

Wie erfolgt die rechtliche Kontrolle und Aufsicht über den Risikostrukturausgleich?

Die rechtliche Kontrolle und Aufsicht über den Risikostrukturausgleich liegt maßgeblich beim Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS). Das BAS ist gemäß § 87 SGB IV für die Rechtsaufsicht über die Krankenkassen und insbesondere für die Überprüfung der Einhaltung der RSA-Vorschriften zuständig. Diese Aufsicht umfasst sowohl die Kontrolle der korrekten Meldungen relevanter Versichertendaten durch die Kassen gemäß § 267 SGB V als auch die Prüfung der Berechnungen und Ausgleichszahlungen. Darüber hinaus können Beanstandungen und Anweisungen durch das BAS rechtlich verbindlich ausgesprochen werden. Im Streitfall steht der Rechtsweg zu den Sozialgerichten offen, wobei das Bundessozialgericht (BSG) als höchste Instanz in der Auslegung zentraler Normen maßgeblich ist.

Welche rechtlichen Anforderungen bestehen an die Datenübermittlung im Rahmen des RSA?

Die Datenübermittlung für den Risikostrukturausgleich ist streng reguliert. Nach § 267 SGB V sind die Krankenkassen verpflichtet, die für den RSA relevanten Daten ihrer Versicherten an den Gesundheitsfonds zu melden. Diese Übermittlung muss datenschutzkonform gemäß der Vorgaben der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und des Sozialdatenschutzes nach SGB X erfolgen. Die Daten müssen vollständig, richtig und fristgerecht übermittelt werden, um Manipulationen oder Verzerrungen des RSA auszuschließen. Verstöße gegen die Meldepflichten können durch das BAS sanktioniert werden. Zudem besteht für bestimmte besonders sensible Daten, etwa zu bestimmten Diagnosen, eine erhöhte Prüfpflicht hinsichtlich der Authentizität und Verschlüsselung.

Welche rechtlichen Möglichkeiten bestehen bei Streitigkeiten zwischen Krankenkassen im Zusammenhang mit dem RSA?

Streitigkeiten zwischen Krankenkassen, die den Risikostrukturausgleich betreffen, werden zunächst in einem Verwaltungsverfahren durch das BAS bearbeitet. Kommt es zu keiner einvernehmlichen Klärung, steht der sozialgerichtliche Rechtsweg gemäß § 51 SGG offen. Dies umfasst die Möglichkeit, vor dem Sozialgericht, dem Landessozialgericht und schließlich vor dem Bundessozialgericht Klage zu erheben. Die Verfahren unterliegen dabei den allgemeinen Grundsätzen des Sozialverwaltungsprozesses, insbesondere dem Untersuchungsgrundsatz. Gerichtliche Entscheidungen zu RSA-Streitigkeiten haben häufig auch Präzedenzwirkung für künftige Fälle und prägen die Auslegung der gesetzlichen Vorgaben maßgeblich.

Gibt es gesetzliche Sanktionen bei Verstößen gegen RSA-Vorschriften?

Ja, bei Verstößen gegen die Vorschriften des Risiko­strukturausgleichs sieht das Sozialgesetzbuch verschiedene Sanktionen vor. Bei fehlerhafter oder vorsätzlicher Falschmeldung relevanter Daten können nach § 273 SGB V Rückforderungen der zu Unrecht erhaltenen RSA-Mittel erfolgen. Ferner können geldwerte Sanktionen oder Zinsforderungen verhängt werden. Das BAS ist darüber hinaus berechtigt, Maßnahmen zur Sicherstellung der ordnungsgemäßen Durchführung und zur Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände zu erlassen. In schwerwiegenden Fällen ist es auch möglich, aufsichtsrechtliche Maßnahmen, wie etwa die Einsetzung eines Beauftragten, anzuordnen.

Welche Bedeutung hat die Rechtsprechung für die Auslegung des RSA?

Die Rechtsprechung, insbesondere die des Bundessozialgerichts (BSG), spielt eine zentrale Rolle bei der Auslegung und Konkretisierung der Vorschriften zum Risikostrukturausgleich. Grundlegende Urteile schaffen Klarheit bei der Interpretation unbestimmter Rechtsbegriffe wie „wirtschaftlich angemessene Versorgung“ oder „relevante Morbiditätsgruppen“. Die Gerichte entscheiden zudem über die Zulässigkeit von Datenmeldungen sowie über den Umfang und die Berechnungsparameter des RSA. Die Entscheidungen wirken sich unmittelbar auf die Verwaltungspraxis aus und können veranlassen, dass Rechtsverordnungen (etwa die RSAV) angepasst oder neu erlassen werden müssen, um den Anforderungen der Rechtsprechung zu genügen.

Wie werden Änderungen im Gesetz zum Risikostrukturausgleich umgesetzt?

Änderungen im Gesetz zum Risikostrukturausgleich, etwa infolge geänderter gesundheitspolitischer Rahmenbedingungen, erfolgen durch den Gesetzgeber im Rahmen von Änderungen des SGB V. Nach Inkrafttreten solcher gesetzlicher Änderungen obliegt es den nachfolgenden Behörden, insbesondere dem BAS sowie den einzelnen Krankenkassen, die neuen Vorgaben zeitnah umzusetzen. Begleitend werden häufig Rechtsverordnungen (insbesondere die RSAV) angepasst und entsprechende Verwaltungsvorschriften erlassen. In der Regel ist für die Umsetzung und Anwendung neuer Normen eine Übergangsfrist vorgesehen. Die Praxisumsetzung wird vom BAS überwacht und gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) nachgebessert oder präzisiert.