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Niederlassungsfreiheit


Begriff und Bedeutung der Niederlassungsfreiheit

Die Niederlassungsfreiheit ist ein zentrales Grundrecht im europäischen Binnenmarkt und bezeichnet das Recht von natürlichen und juristischen Personen, sich in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU) oder des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) zum Zweck der Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit dauerhaft niederzulassen. Diese Freiheit ist ein maßgeblicher Bestandteil der Grundfreiheiten der EU und trägt maßgeblich zur wirtschaftlichen Integration und Mobilität innerhalb Europas bei.

Rechtsgrundlagen der Niederlassungsfreiheit

Europarechtliche Verankerung

Die Niederlassungsfreiheit ist ausdrücklich in den Artikeln 49 bis 55 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) geregelt. Sie gehört zu den vier Grundfreiheiten des Binnenmarkts neben dem freien Warenverkehr, dem freien Dienstleistungsverkehr und dem freien Kapitalverkehr. Auch im Rahmen des EWR-Abkommens, das für Island, Liechtenstein und Norwegen gilt, ist die Niederlassungsfreiheit gewährleistet.

Artikel 49 AEUV

Artikel 49 AEUV garantiert die Niederlassungsfreiheit für Staatsangehörige eines Mitgliedstaates in einem anderen Mitgliedstaat, einschließlich des Rechts, selbständig beruflich tätig zu sein und Unternehmen zu gründen oder zu leiten.

Artikel 54 AEUV

Artikel 54 AEUV erstreckt die Niederlassungsfreiheit auf Gesellschaften, Unternehmen und juristische Personen, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gegründet wurden und dort ihren Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung haben.

Umsetzung im nationalen Recht

Die Umsetzung der Niederlassungsfreiheit erfolgt über das nationale Recht der Mitgliedstaaten, das an die Vorgaben und Schranken des Unionsrechts gebunden ist. Nationale Regelungen dürfen die Ausübung der Niederlassungsfreiheit weder direkt noch indirekt diskriminieren oder behindern.

Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit

Persönlicher Anwendungsbereich

Die Niederlassungsfreiheit gilt für:

  • Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie
  • Gesellschaften und juristische Personen im Sinne der Artikel 54 AEUV.

Personen, die eine abhängige Beschäftigung ausüben (Arbeitnehmer), fallen in den Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit, nicht der Niederlassungsfreiheit.

Sachlicher Anwendungsbereich

Die Niederlassungsfreiheit erstreckt sich auf:

  • Jede wirtschaftliche Tätigkeit, die selbständig und auf Dauer ausgeübt wird
  • Gründung und Leitung von Unternehmen
  • Errichtung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften
  • Nicht erfasst sind rein interne Sachverhalte, d.h. rein innerstaatliche Konstellationen ohne grenzüberschreitenden Bezug

Inhalt und Umfang der Niederlassungsfreiheit

Primäre Rechte

Die Niederlassungsfreiheit umfasst insbesondere:

  • Gründungsrecht: Das Recht, Unternehmen, Gesellschaften oder Niederlassungen in anderen Mitgliedstaaten zu gründen und zu betreiben.
  • Leitungsrecht: Das Recht, bestehende Unternehmen oder Niederlassungen in anderen Mitgliedstaaten zu übernehmen oder zu leiten.
  • Gleichbehandlungsrecht: Anspruch auf Inländerbehandlung, d.h., keine ungerechtfertigte Benachteiligung gegenüber Staatsangehörigen des Aufnahmestaates.

Sekundäre Rechte

Dazu zählen flankierende Rechte wie:

  • Freier Zugang zum Markt
  • Anerkennung von Berufsabschlüssen nach EU-Richtlinien
  • Recht auf Aufenthalt und Ausübung einer Tätigkeit

Schranken und Grenzen der Niederlassungsfreiheit

Zulässigkeit von Beschränkungen

Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit sind nur in Ausnahmefällen zulässig. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) sind Einschränkungen nur dann rechtmäßig, wenn sie:

  • im Allgemeininteresse liegen,
  • geeignet sind, das angestrebte Ziel zu erreichen,
  • notwendig und verhältnismäßig sind.

Zulässige Motive sind z.B. der Schutz der öffentlichen Ordnung, Sicherheit, Gesundheit sowie zwingende Gründe des Allgemeininteresses (z.B. Verbraucherschutz, Sozialstandards, Umweltschutz).

Diskriminierungsverbot und Beschränkungsfreiheit

Unzulässig sind insbesondere:

  • Direkte Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit,
  • Indirekte Diskriminierungen, die im Ergebnis zu einer Ungleichbehandlung führen,
  • Nichtdiskriminierende Beschränkungen, wenn sie die Ausübung der Niederlassungsfreiheit faktisch behindern und nicht gerechtfertigt sind.

Niederlassungsfreiheit und Gesellschaftsrecht

Gesellschaftsrechtliche Aspekte

Gesellschaften profitieren von der Niederlassungsfreiheit in ähnlicher Weise wie natürliche Personen. Dies betrifft insbesondere die Gründung von Tochtergesellschaften, Zweigniederlassungen und Agenturen in anderen Mitgliedstaaten.

Zudem besteht das Recht auf Sitzverlegung und Umwandlung von Gesellschaften unter Beachtung der jeweiligen nationalen und europäischen Vorgaben. Die Niederlassungsfreiheit steht damit auch im Zentrum der Debatte um die Mobilität von Unternehmen innerhalb des Binnenmarkts.

Relevante EuGH-Urteile

Bedeutende Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, z.B. Centros, Überseering und Inspire Art, haben die Tragweite und den Schutzumfang der Niederlassungsfreiheit im Bereich des Gesellschaftsrechts maßgeblich geprägt.

Zusammenhang zur Dienstleistungsfreiheit

Die Niederlassungsfreiheit ist von der Dienstleistungsfreiheit abzugrenzen. Während die Niederlassungsfreiheit auf eine dauerhafte wirtschaftliche Tätigkeit im Aufnahmestaat zielt, betrifft die Dienstleistungsfreiheit grenzüberschreitende Dienstleistungen ohne dauerhaften Aufenthalt im Ausland. Die Unterscheidung ist relevant für die Anwendbarkeit spezifischer Regelungen und den Rechtsschutz.

Rechtsschutz und Durchsetzung der Niederlassungsfreiheit

Rechtsschutzmechanismen

Betroffene können sich auf die Niederlassungsfreiheit unmittelbar berufen – sowohl gegenüber dem Mitgliedstaat als auch, unter bestimmten Voraussetzungen, gegenüber Privaten (sog. horizontale Wirkung). Bei Verletzungen besteht die Möglichkeit, vor nationalen Gerichten oder (nach Ausschöpfen des nationalen Rechtswegs) vor dem Europäischen Gerichtshof Rechtsschutz zu erlangen.

Verwaltungsverfahren und Eintragungen

Für bestimmte Tätigkeiten können Meldepflichten, Erlaubnisse oder Registrierungserfordernisse bestehen. Solche Verfahren dürfen jedoch die Ausübung der Niederlassungsfreiheit nicht ungerechtfertigt erschweren und unterliegen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Niederlassungsfreiheit in internationalen Abkommen

Über die Europäische Union hinaus findet die Niederlassungsfreiheit auch in anderen internationalen Abkommen Anwendung, darunter das EWR-Abkommen sowie in bilateralen Investitionsschutzabkommen, die entsprechende Rechte auf Marktzutritt und Gleichbehandlung gewähren.

Bedeutung der Niederlassungsfreiheit für den Binnenmarkt

Die Niederlassungsfreiheit ist ein Schlüsselinstrument für Wettbewerb, Innovation und wirtschaftliches Wachstum im Binnenmarkt. Sie ermöglicht die Optimierung unternehmerischer Entscheidungsprozesse, die Entwicklung grenzüberschreitender Geschäftsmodelle und trägt wesentlich zur Verwirklichung des europäischen Integrationsziels bei.


Fazit: Die Niederlassungsfreiheit ist ein umfassend geschütztes Grundrecht des Unionsrechts, das natürliche und juristische Personen in die Lage versetzt, ihre unternehmerische Tätigkeit im Binnenmarkt uneingeschränkt und gleichberechtigt auszuüben. Ihre Ausgestaltung berührt zahlreiche wirtschaftliche, sozial- und gesellschaftsrechtliche Bereiche und ist Gegenstand einer umfangreichen unionsrechtlichen und nationalen Rechtsprechung.

Häufig gestellte Fragen

Welche Personengruppen können sich auf die Niederlassungsfreiheit berufen?

Die Niederlassungsfreiheit ist ein zentrales Grundrecht innerhalb des europäischen Binnenmarktes und richtet sich in erster Linie an Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) sowie des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), das heißt auch Island, Liechtenstein und Norwegen. Sie umfasst vor allem natürliche Personen, also Einzelpersonen, die als Selbstständige oder Freiberufler in einem anderen Mitgliedstaat tätig werden wollen. Darüber hinaus können sich auch juristische Personen, wie etwa Gesellschaften, Firmen und andere Unternehmensformen, die nach dem Recht eines Mitgliedstaates gegründet wurden und dort ihren Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung haben, auf die Niederlassungsfreiheit berufen. Besonders zu beachten ist, dass auch Gesellschaften, die nur einen eingetragenen Sitz in einem Mitgliedstaat haben, sofern sie wirksam gegründet sind, diesen Schutz genießen. Drittstaatsangehörige sind grundsätzlich ausgenommen, es sei denn, sie können sich auf spezielle Abkommen zwischen der EU und ihren Herkunftsländern berufen oder sie haben zusätzlich die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats.

Welche Voraussetzungen müssen für die Inanspruchnahme der Niederlassungsfreiheit erfüllt sein?

Damit natürliche oder juristische Personen die Niederlassungsfreiheit beanspruchen können, müssen bestimmte Voraussetzungen vorliegen. Zum einen ist erforderlich, dass die Tätigkeit selbstständig ausgeübt wird, das heißt auf eigene Rechnung und Verantwortung sowie dauerhaft. Eine bloß kurzfristige Dienstleistung fällt nicht unter die Niederlassungsfreiheit, sondern unter die Dienstleistungsfreiheit. Ferner muss eine grenzüberschreitende Sachverhaltsgestaltung vorliegen, zum Beispiel beim Wunsch, sich als Freiberufler dauerhaft in einem anderen EU-Mitgliedstaat niederzulassen oder eine Zweigniederlassung zu eröffnen. Bei juristischen Personen ist zudem wesentlich, dass sie nach dem Gesellschaftsrecht eines Mitgliedstaats gegründet wurden und entweder ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung in einem EU- oder EWR-Staat haben.

Wie können Mitgliedstaaten die Niederlassungsfreiheit einschränken?

Obwohl die Niederlassungsfreiheit einen weitreichenden Schutz bietet, können sie Mitgliedstaaten unter bestimmten engen Voraussetzungen beschränken. Einschränkungen sind nur zulässig, wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind, wie zum Beispiel die Wahrung der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Gesundheit. Zudem müssen solche Maßnahmen verhältnismäßig, geeignet und erforderlich sein. Die Beschränkungen dürfen weder diskriminierend noch unverhältnismäßig angewandt werden. Besonders überprüft wird von Gerichten, ob das Ziel auch durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden kann. Klassische Beispiele sind besondere Zulassungsvoraussetzungen für reglementierte Berufe, jedoch unterliegen auch diese Anforderungen strenger europarechtlicher Kontrolle.

Welche Rolle spielt die Niederlassungsfreiheit bei der Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen?

Die Niederlassungsfreiheit spielt eine wesentliche Rolle für die Anerkennung beruflicher Qualifikationen von Personen, die in einem anderen Mitgliedstaat eine Tätigkeit ausüben möchten. Seitens der EU wurden zahlreiche Richtlinien entwickelt, die die gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen und Qualifikationen sicherstellen und Hindernisse möglichst abbauen sollen. Grundsätzlich darf die Ausübung eines Berufs in einem anderen Mitgliedstaat nicht dadurch erschwert werden, dass zum Beispiel nochmals Prüfungen abgelegt oder zusätzliche Qualifikationsnachweise erbracht werden müssen, sofern die Qualifikation dem gleichen Niveau entspricht. Unverhältnismäßige Anforderungen können als Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit gewertet und gegebenenfalls vor Europäischen Gerichten angefochten werden.

Welche Auswirkungen hat die Niederlassungsfreiheit auf die Gesellschaftsgründung im Ausland?

Die Niederlassungsfreiheit eröffnet insbesondere Gesellschaften die Möglichkeit, sich ohne ungerechtfertigte Beschränkungen in jedem anderen EU- oder EWR-Mitgliedstaat niederzulassen, dort Tochtergesellschaften, Agenturen oder Zweigniederlassungen zu gründen und ihre wirtschaftliche Tätigkeit aufzunehmen. Dies umfasst insbesondere auch das sogenannte Recht des Gesellschaftsformwandels über Grenzen hinweg („Cross-Border Conversion“), das heißt die Möglichkeit, den Sitz einer Gesellschaft innerhalb der EU zu verlegen, ohne dass es zu einer Auflösung und Neugründung kommt. Dabei profitieren Gesellschaften von der gegenseitigen Anerkennung ihrer Rechtsform und den gesellschaftsrechtlichen Grundlagen des Gründungsstaates. Restriktionen der Sitzverlegung oder gesteigerte Anforderungen an die Anerkennung der Rechtsform können unter Umständen als Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit eingestuft werden.

Wie werden Verstöße gegen die Niederlassungsfreiheit rechtlich verfolgt oder sanktioniert?

Verstöße gegen die Niederlassungsfreiheit können durch betroffene Personen, Gesellschaften oder auch durch die Europäische Kommission gerügt werden. Besteht der Verdacht, dass ein Mitgliedstaat seine Verpflichtungen aus dem EU-Recht verletzt, kann ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV eingeleitet werden. In solchen Verfahren prüft der Europäische Gerichtshof (EuGH), ob nationale Regelungen oder Maßnahmen gegen die primären oder sekundären Rechtsvorschriften der EU verstoßen. In Individualfällen besteht zudem die Möglichkeit, sich auf die Niederlassungsfreiheit vor nationalen Gerichten zu berufen, welche dann zur Auslegung und Anwendung europarechtlicher Vorgaben verpflichtet sind. Sanktionen können die Aufhebung oder Änderung nationaler Gesetzgebung, Schadensersatzansprüche oder andere geeignete Maßnahmen zur Wiederherstellung der Niederlassungsfreiheit umfassen.

Wie unterscheidet sich die Niederlassungsfreiheit von der Dienstleistungsfreiheit?

Die Niederlassungsfreiheit ist auf die dauerhafte Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausgerichtet, entweder durch Selbstständige oder durch Unternehmen, die im Ausland einen festen Sitz, eine Agentur oder eine Zweigniederlassung gründen. Im Gegensatz dazu bezieht sich die Dienstleistungsfreiheit auf die vorübergehende grenzüberschreitende Tätigkeit, ohne dass der Dienstleister einen festen und dauerhaften Sitz im Aufnahmestaat begründet. Die Abgrenzung ist insbesondere im Bereich der grenzüberschreitenden Erwerbstätigkeit bedeutend, da hiervon die für die jeweilige Tätigkeit einschlägigen Rechtsvorschriften abhängen. Beide Freiheiten zielen darauf ab, Hindernisse für den Grenzübertritt wirtschaftlicher Betätigung abzubauen, bedienen jedoch unterschiedliche Lebenssachverhalte.