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Lugano-Übereinkommen


Begriff und Zielsetzung des Lugano-Übereinkommens

Das Lugano-Übereinkommen (kurz: LugÜ oder Lugano II) ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der die gerichtliche Zuständigkeit sowie die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen zwischen bestimmten europäischen Staaten regelt. Es zielt darauf ab, den internationalen Rechtsverkehr zu fördern, Rechtssicherheit zu gewährleisten und Parallellösungen zum EU-internen Recht zu schaffen. Das Übereinkommen wurde am 30. Oktober 2007 in Lugano unterzeichnet und trat am 1. Januar 2010 in Kraft.

Historische Entwicklung und Anwendungsbereich

Vorgeschichte und Verhältnis zur Brüssel-I-Verordnung

Das Lugano-Übereinkommen ist das Nachfolgeinstrument des ersten Lugano-Übereinkommens von 1988. Es baut inhaltlich auf der Brüssel-I-Verordnung (EU-Verordnung Nr. 44/2001) auf, einem zentralen europäischen Rechtsakt im Bereich des internationalen Zivilverfahrensrechts. Das LugÜ dient insbesondere dazu, die Regelungen der Brüssel-I-Verordnung auf Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) und der EFTA auszuweiten, die nicht Mitglied der Europäischen Union sind.

Vertragspartner und Geltungsbereich

Das Übereinkommen wird von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Island, Norwegen und der Schweiz angewendet. Es regelt die gerichtliche Zuständigkeit sowie die Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen, sofern es sich um Zivil- und Handelssachen handelt. Nicht erfasst sind unter anderem Steuer- und Zollsachen, verwaltungsrechtliche Streitigkeiten und das Insolvenzrecht.

Regelungsinhalte des Lugano-Übereinkommens

Zuständigkeitsvorschriften

Das Lugano-Übereinkommen enthält umfangreiche Zuständigkeitsregeln, die festlegen, welches Gericht innerhalb des Anwendungsbereichs für grenzüberschreitende Rechtsstreitigkeiten zuständig ist.

Allgemeiner Gerichtsstand

Kernregelung ist der allgemeine Gerichtsstand am Wohnsitz des Beklagten (Art. 2 LugÜ). Daneben existieren besondere Gerichtsstände, beispielsweise für Vertrags- oder Deliktstreitigkeiten.

Besondere und ausschließliche Gerichtsstände

Bestimmte Sachverhalte unterliegen besonderen Zuständigkeitsregelungen. Hierzu zählt etwa das Klagerecht am Erfüllungsort bei Vertragsstreitigkeiten oder klägerfreundliche Regelungen bei unerlaubter Handlung. Ausschließliche Gerichtsstände bestehen unter anderem bei Streitigkeiten über dingliche Rechte an Immobilien.

Gerichtsstandsvereinbarungen

Den Parteien steht es frei, mittels Gerichtsstandsvereinbarung die Zuständigkeit eines bestimmten Gerichts zu bestimmen, sofern keine ausschließlichen Zuständigkeiten betroffen sind (Art. 23 LugÜ).

Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen

Grundsätzliche Anerkennungspflicht

Gerichtliche Entscheidungen eines Vertragsstaates werden in den anderen Vertragsstaaten grundsätzlich automatisch anerkannt (Art. 33 LugÜ).

Vollstreckbarkeit und Verfahren

Die vollstreckbare Erklärung einer Entscheidung erfordert ein vereinfachtes Verfahren, das die nationale Nachprüfung auf ein Mindestmaß beschränkt. Vollstreckungsanordnungen werden grundsätzlich ohne erneute sachliche Prüfung des Rechtsstreits erlassen.

Versagungsgründe

Die Anerkennung oder Vollstreckung kann nur in Ausnahmesituationen versagt werden, insbesondere bei ordre-public-Verstößen oder wenn dem Beklagten das rechtliche Gehör verletzt wurde.

Verhältnis zu anderen Rechtsinstrumenten und Besonderheiten

Verhältnis zur Brüssel-I-Verordnung

Das Lugano-Übereinkommen entspricht weitgehend der Brüssel-I-Verordnung (inzwischen Brüssel Ia-Verordnung, EU-Verordnung Nr. 1215/2012). Es bestehen jedoch Unterschiede hinsichtlich einzelner Zuständigkeitsregelungen sowie der Verfahren zur Anerkennung und Vollstreckung.

Verhältnis zu nationalen Rechten

Das Übereinkommen geht den nationalen Vorschriften der beteiligten Staaten im Anwendungsbereich vor und regelt die grenzüberschreitenden Fälle abschließend, soweit diese erfasst sind.

Vorrang anderer Übereinkommen

In bestimmten Bereichen kann das Lugano-Übereinkommen durch andere völkerrechtliche Abkommen verdrängt werden, beispielsweise durch die Haager Übereinkommen zu spezifischen Rechtsmaterien wie Kindesentführung, Unterhalt oder Adoption.

Bedeutung in der Praxis und aktuelle Entwicklungen

Breite Anwendungsfelder

Das Lugano-Übereinkommen hat erhebliche praktische Bedeutung, insbesondere für den internationalen Wirtschaftsverkehr, die grenzüberschreitende Privatpersonenbetreuung und den Handel in ganz Europa, wobei der Schwerpunkt auf Rechtsbeziehungen zwischen der EU und den EFTA-Staaten liegt.

Nachwirkungen des Brexits

Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU hat die Frage nach einer weiteren Beteiligung am Lugano-Übereinkommen aufgeworfen. Stand Juni 2024 ist das Vereinigte Königreich nicht mehr Partei des LugÜ; entsprechende Beitrittsanträge werden gegenwärtig diskutiert.

Rechtsprechung und Auslegung

Die Auslegung des Lugano-Übereinkommens erfolgt unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), soweit es um identische oder ähnliche Bestimmungen wie in der Brüssel-I-Verordnung geht. Ziel ist die größtmögliche Harmonisierung und Rechtsvereinheitlichung.

Literatur und weiterführende Informationen

Für vertiefende Informationen bieten sich verschiedene Fachbeiträge, Erläuterungswerke und die offizielle Webseite der Schweizerischen Eidgenossenschaft sowie der EU-Kommission als weitergehende Quellen an.

Dieser Artikel vereint die wesentlichen Elemente und bietet eine detaillierte, strukturierte Übersicht über die rechtlichen Rahmenbedingungen und die praktische Bedeutung des Lugano-Übereinkommens im europäischen Rechtsverkehr.

Häufig gestellte Fragen

Wann kommt das Lugano-Übereinkommen im internationalen Zivilprozessrecht zur Anwendung?

Das Lugano-Übereinkommen findet Anwendung, wenn es um die gerichtliche Zuständigkeit sowie die Anerkennung und Vollstreckung von zivil- und handelsrechtlichen Entscheidungen zwischen Vertragsstaaten geht, die entweder Mitglied der Europäischen Union, der EFTA (mit Ausnahme Liechtensteins), dem Vereinigten Königreich (sofern anwendbar) oder der Schweiz sind. Es wird immer dann relevant, wenn mindestens eine Partei ihren Wohnsitz oder Sitz in einem Lugano-Staat hat und grenzüberschreitende Streitigkeiten mit Bezug zu diesen Staaten entstehen. Das Übereinkommen ist vorrangig auf Zahlungsansprüche, Schadensersatzforderungen oder andere schuldrechtliche Streitigkeiten im Bereich des internationalen Privatrechts anwendbar und regelt somit, welches nationale Gericht in welchem Staat für eine zivilrechtliche Streitigkeit zuständig ist und wie ein im Ausland ergangenes Urteil anerkannt und vollstreckt werden kann.

Welche Voraussetzungen müssen für die Anerkennung ausländischer Urteile nach dem Lugano-Übereinkommen erfüllt sein?

Nach dem Lugano-Übereinkommen müssen die Urteile von einem Gericht erlassen worden sein, das auf Grundlage der in dem Übereinkommen vorgesehenen Zuständigkeitsnormen zuständig war. Zudem darf das anzuerkennende Urteil nicht gegen den ordre public des anerkennenden Staates verstoßen, nicht mit einem bereits in diesem Staat ergangenen oder anzuerkennenden Urteil unvereinbar sein, und keine Verfahrensverstöße enthalten haben, insbesondere nicht gegen grundlegende Verfahrensrechte (wie zum Beispiel das rechtliche Gehör). Außerdem muss das Urteil rechtskräftig oder vollstreckbar sein, wobei das Bedeutung für den Zeitpunkt der Anerkennung hat.

Welche Ausnahmen von der Pflicht zur Anerkennung und Vollstreckung sieht das Lugano-Übereinkommen vor?

Das Lugano-Übereinkommen sieht bestimmte Ausnahmen für die Anerkennung und Vollstreckung vor. So darf ein Urteil nicht anerkannt oder vollstreckt werden, wenn eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt ist: Einer Partei wurde das rechtliche Gehör nicht gewährt (z.B., wenn die Ladung zur Verhandlung nicht ordnungsgemäß zugestellt wurde), das Urteil verstößt gegen die öffentliche Ordnung („ordre public“) des ersuchten Staates, oder das Urteil ist unvereinbar mit einem früheren Urteil zwischen denselben Parteien über denselben Streitgegenstand, das im anerkennenden Staat bereits ergangen ist oder dort anerkannt wird. Diese Ausnahmen dienen dem Schutz der nationalen Rechtssysteme und Verfahrensgarantien.

Wie erfolgt das Verfahren zur Anerkennung und Vollstreckung eines Urteils nach dem Lugano-Übereinkommen?

Das Verfahren zur Anerkennung und Vollstreckung ist relativ formalisiert: Es beinhaltet grundsätzlich einen Antrag der interessierten Partei an das zuständige Gericht des ersuchten Staates. Dafür müssen bestimmte Unterlagen vorgelegt werden, insbesondere eine vollstreckbare Ausfertigung des ausländischen Urteils sowie eine Bescheinigung gemäß Art. 54 LugÜ, die von dem Ursprungsgericht ausgestellt wird. Das Gericht prüft formell die Voraussetzungen und kann auf Antrag der Gegenseite auch materielle Einwendungen, insbesondere die oben beschriebenen Ausnahmen, prüfen. Die endgültige Vollstreckbarerklärung (Exequatur) ermöglicht dann die tatsächliche Durchsetzung der Entscheidung durch staatliche Vollstreckungsorgane.

Wie wird die internationale Zuständigkeit im Rahmen des Lugano-Übereinkommens bestimmt?

Die internationale Zuständigkeit richtet sich nach dem Grundsatz, dass Klagen gegen Personen, die ihren Wohnsitz in einem Vertragsstaat haben, grundsätzlich vor den Gerichten dieses Staates erhoben werden müssen. Zudem sieht das Übereinkommen spezielle Gerichtsstände vor, z. B. für Vertrags- und Deliktsansprüche, Verbraucher- und Arbeitsrechtssachen sowie ausschließliche Gerichtsstände für bestimmte Gebiete wie Immobilien oder Gesellschaftsrecht. Parteivereinbarungen (Gerichtsstandvereinbarungen) sind ebenfalls unter strikten Voraussetzungen möglich und werden anerkannt, sofern sie den formalen und inhaltlichen Anforderungen des Übereinkommens entsprechen.

Inwiefern unterscheidet sich das Lugano-Übereinkommen von der Brüssel Ia-Verordnung?

Das Lugano-Übereinkommen ist in weiten Teilen an die Systematik und Vorschriften der Brüssel Ia-Verordnung angelehnt. Dennoch gibt es Unterschiede, insbesondere im Hinblick auf die Aktualität der Regelungen (z. B. im Bereich der Zuständigkeit bei Verbrauchersachen oder bei getroffenen Sicherungsmaßnahmen). Auch die Verfahren zur Anerkennung und Vollstreckung können voneinander abweichen: So sieht die Brüssel Ia-Verordnung beispielsweise die Abschaffung des Exequaturverfahrens vor, während das Lugano-Übereinkommen weiterhin ein solches (wenn auch vereinfachtes) Verfahren vorschreibt. Ferner wirkt sich der fortlaufende Anpassungsprozess der EU-Instrumente nicht automatisch auf das Übereinkommen aus, sodass dessen Bestimmungen teils hinter dem europäischen Standard zurückbleiben.