Begriff und rechtliche Grundlagen der Lieferschwelle
Die Lieferschwelle ist ein zentraler Begriff im europäischen Umsatzsteuerrecht, der insbesondere im Zusammenhang mit dem innergemeinschaftlichen Versandhandel Bedeutung erlangt. Sie bezeichnet den Schwellenwert für Umsätze aus Lieferungen von Waren an private Abnehmer (sog. Nichtunternehmer) in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU), ab dem im Bestimmungsland eine Umsatzsteuerpflicht ausgelöst wird. Die Lieferschwelle hatte vor allem bis zur Einführung des sogenannten OSS-Verfahrens (One-Stop-Shop) im Jahr 2021 erhebliche praktische Relevanz für grenzüberschreitende Warenverkäufe.
Historische Entwicklung der Lieferschwelle
Ursprüngliche Regelung bis 2021
Im Rahmen des sogenannten Fernverkaufs – vormals Versandhandel – regelte die EU-Mehrwertsteuersystemrichtlinie (Richtlinie 2006/112/EG, MwStSystRL) die Verschiebung des Leistungsortes in den Mitgliedstaat des Empfängers, sobald die jeweilige nationale Lieferschwelle überschritten wurde. Jede EU-Mitgliedstaat hatte eigene Schwellenwerte; diese lagen – abhängig vom Land – meist zwischen 35.000 EUR und 100.000 EUR pro Jahr.
Abschaffung durch das Mehrwertsteuer-Digitalpaket 2021
Mit Wirkung zum 1. Juli 2021 wurde im Zuge des EU-Mehrwertsteuer-Digitalpakets die bislang national festgelegte Lieferschwelle durch eine unionsweite, einheitliche Schwelle von 10.000 Euro für alle EU-Mitgliedstaaten zusammen ersetzt. Überschreitet ein Unternehmer mit seinen grenzüberschreitenden Lieferungen an Privatpersonen diese Gesamtsumme, unterliegt der gesamte Versandhandelsumsatz der Umsatzbesteuerung im Mitgliedstaat des Abnehmers.
Systematik und Anwendungsbereich
Definition gemäß Umsatzsteuergesetz
Im deutschen Umsatzsteuergesetz (UStG) war die Lieferschwelle ursprünglich in § 3c UStG geregelt. Danach verlagerten sich der Ort der Lieferung und damit die Umsatzsteuerpflicht bei Überschreiten der nationalen Schwelle in den Bestimmungsstaat. Die neue Regelung sieht gemäß § 3c Abs. 4 UStG nunmehr einen einheitlichen Schwellenwert von 10.000 EUR vor.
Anwendungsbereich der Lieferschwelle
Die Lieferschwelle ist ausschließlich bei Lieferungen an Privatpersonen (Nichtunternehmer) oder an bestimmten Schwellenerwerber (z. B. Kleinstunternehmer) innerhalb der EU relevant. Lieferungen an Unternehmer, die im anderen Mitgliedstaat zur Umsatzsteuer registriert sind, werden nicht von der Lieferschwellenregelung erfasst, sondern unterliegen grundsätzlich als innergemeinschaftliche Lieferung der Steuerfreiheit im Versandland.
Nicht erfasst: Fernverkäufe von verbrauchssteuerpflichtigen Waren (z. B. Alkohol, Tabak, Mineralöl) unterliegen stets der Umsatzbesteuerung im Bestimmungsland – unabhängig vom Überschreiten der Lieferschwelle.
Ausnahmen und Optierungsrecht
Unternehmer können nach § 3c Abs. 4 UStG auf die Anwendung der Lieferschwelle verzichten und die Besteuerung im Zielland unmittelbar beantragen (Option). Eine solche Entscheidung bindet das Unternehmen für mindestens zwei Kalenderjahre.
Rechtsfolgen der Überschreitung der Lieferschwelle
Überschreitung der Lieferschwelle
Wird die unionsweite Lieferschwelle von 10.000 EUR im laufenden oder vorangegangenen Kalenderjahr überschritten, verschiebt sich der Ort der Leistung umsatzsteuerlich in den Mitgliedstaat des Verbrauchers. Die Umsatzsteuer ist fortan nach den Vorschriften und Sätzen des jeweiligen Bestimmungslands abzuführen.
Meldepflichten und Registrierungspflichten
Unternehmen müssen sich bei Überschreiten der Lieferschwelle grundsätzlich im Empfängerstaat umsatzsteuerlich registrieren lassen, sofern sie nicht das OSS-Verfahren (One-Stop-Shop) nutzen. Durch das OSS-Verfahren kann die Umsatzsteuer auf grenzüberschreitende B2C-Lieferungen bequem zentral über das eigene Finanzamt abgeführt werden. Die Pflicht zur lokalen Registrierung entfällt in diesem Fall.
Bedeutung in der Praxis
Anwendungsfälle
Von besonderer Bedeutung ist die Lieferschwelle insbesondere für Online-Händler und Versandhändler mit Privatkundengeschäft in verschiedene EU-Staaten. Sie müssen ihre Liefervolumina in die einzelnen Mitgliedstaaten fortlaufend kontrollieren und die Übersicht über die europaweit relevante Lieferschwelle behalten.
Dokumentations- und Aufzeichnungspflichten
Unternehmen sind verpflichtet, Lieferungen in andere EU-Staaten im Hinblick auf die Überschreitung der Lieferschwelle zu dokumentieren. Bei Anwendung der OSS-Regelung sind sämtliche Lieferungen mit Zielstaat, Bruttobetrag sowie Umsatzsteuer separat auszuweisen und zu melden.
Rechtsquellen und weiterführende Regelungen
- Mehrwertsteuersystemrichtlinie 2006/112/EG (MwStSystRL)
- Umsatzsteuergesetz (UStG), §§ 3c, 18j
- BMF-Schreiben zur Umsatzbesteuerung beim Fernverkauf von Gegenständen und dem elektronischen OSS-Verfahren
Besonderheiten und Abgrenzung
- Die Lieferschwellenregelung ist nicht anwendbar auf Dienstleistungen sowie auf grenzüberschreitende Lieferungen an Unternehmer.
- Sonderregelungen gelten für verbrauchssteuerpflichtige Waren sowie für sog. neue Fahrzeuge.
- Unternehmen, die ausschließlich inländische Umsätze tätigen, sind von den Regelungen zur Lieferschwelle nicht betroffen.
Zusammenfassung
Die Lieferschwelle stellt im Umsatzsteuerrecht ein steuerliches Steuerungsinstrument dar, um zu bestimmen, wann bei grenzüberschreitenden Lieferungen an Privatkunden die Umsatzbesteuerung vom Ursprungsland in das Bestimmungsland wechselt. Mit Einführung der einheitlichen EU-Schwelle und dem OSS-Verfahren wurde das System für Unternehmen vereinfacht, gleichwohl bestehen weiterhin umfassende Dokumentations- und Meldepflichten sowie verschiedene Fallunterscheidungen, die im Blick behalten werden müssen.
Siehe auch:
- [One-Stop-Shop (OSS)]
- [Umsatzsteuer im innergemeinschaftlichen Fernverkauf]
- [Mehrwertsteuerrichtlinie]
Häufig gestellte Fragen
Welche Bedeutung hat die Überschreitung der Lieferschwelle für die steuerliche Registrierung im Bestimmungsland?
Wenn ein Unternehmen mit Sitz in einem EU-Mitgliedstaat die relevante Lieferschwelle für Lieferungen an Privatpersonen in andere EU-Staaten überschreitet, entsteht die gesetzliche Verpflichtung, sich im Bestimmungsland für umsatzsteuerliche Zwecke registrieren zu lassen. Ab dem Zeitpunkt der Überschreitung muss das Unternehmen die im Lieferland geltende Umsatzsteuer in Rechnung stellen und diese auch an die dortigen Finanzbehörden abführen. Die innerstaatliche Umsatzsteuerpflicht im Herkunftsland fällt für diese grenzüberschreitenden Umsätze weg. Unternehmen sollten die Umsätze kontinuierlich dokumentieren, um eine rechtzeitige Registrierung sicherzustellen, wobei sowohl laufende als auch rückwirkende Betrachtungszeiträume von Bedeutung sind. Eine verspätete Registrierung kann zu Steuerstrafen, Bußgeldern und Nachversteuerung führen.
Können Unternehmen nach Überschreiten der Lieferschwelle zur rückwirkenden Steuerzahlung verpflichtet werden?
Die Überschreitung der Lieferschwelle gilt ab dem Zeitpunkt, an dem der maßgebliche Schwellenwert im Kalenderjahr überschritten wird. Sind Unternehmen zu diesem Zeitpunkt noch nicht umsatzsteuerlich im Bestimmungsland registriert, kann die Folge eine rückwirkende Steuerpflicht sein. Die lokalen Finanzverwaltungen fordern dann die Abführung der jeweiligen Umsatzsteuer für alle betroffenen Lieferungen ab dem Überschreitungstag nach. Zusätzlich kann es zu Säumniszuschlägen, Zinsen, oder steuerlichen Sanktionen kommen. Die rückwirkende Steuerzahlung gilt unabhängig davon, ob vom Kunden ursprünglich Umsatzsteuer berechnet wurde oder nicht. Ein Rechtsanspruch auf Anpassung bereits gestellter Rechnungen besteht, jedoch ist der bürokratische Aufwand erheblich.
Gibt es Ausnahmeregelungen oder Vereinfachungen bei Überschreiten der Lieferschwelle?
Der Europäische Gesetzgeber hat insbesondere seit dem 1. Juli 2021 mit der Einführung des One-Stop-Shop-Verfahrens (OSS) eine Vereinfachung geschaffen. Unternehmen können ihre Umsatzsteuerpflichten für Fernverkäufe an Privatpersonen EU-weit zentral über ein Onlineportal im Sitzland erfüllen und müssen keine separate Registrierung in jedem einzelnen Bestimmungsland vornehmen. Voraussetzung hierfür ist eine korrekte Anmeldung zum OSS-Verfahren und die fristgerechte Abgabe der OSS-Steuererklärung. Ausgenommen sind spezielle Warenarten, wie neue Fahrzeuge oder verbrauchsteuerpflichtige Waren, für die weiterhin eine nationale Registrierungspflicht im Zielland gilt.
Welche Rechtsfolgen hat die unzulässige Aufteilung von Lieferungen zur Vermeidung der Lieferschwelle?
Die gezielte Aufteilung von Lieferungen oder künstliche Gestaltung von Geschäftsvorgängen mit dem Ziel, die Überschreitung der Lieferschwelle zu umgehen („Missbrauchstatbestand“), wird vom Gesetzgeber ausdrücklich untersagt. Bei Missbrauch greifen Anti-Umgehungsvorschriften gemäß den nationalen Umsatzsteuergesetzen und unionsrechtlichen Vorgaben. Werden solche künstlichen Maßnahmen festgestellt, können die Umsätze zusammengefasst und als „eine einheitliche Lieferung“ behandelt werden. Dies führt zu rückwirkender Registrierungspflicht und Steuerforderungen. In schweren Fällen drohen strafrechtliche Konsequenzen wegen Steuerhinterziehung.
Welche Pflichten zur Dokumentation und Nachweisführung bestehen bei der Anwendung der Lieferschwelle?
Unternehmen sind verpflichtet, sämtliche grenzüberschreitenden Lieferungen an Privatkunden in andere EU-Staaten detailliert zu dokumentieren. Die Umsatzentwicklung in Bezug auf die jeweilige Lieferschwelle muss fortlaufend auf Basis aussagekräftiger Unterlagen (z. B. Rechnungen, Lieferscheine, Versandnachweise) nachgewiesen werden. Diese Aufzeichnungen sind grundsätzlich zehn Jahre aufzubewahren. Die Beweislast für die ordnungsgemäße Anwendung der Lieferschwellenregelung und für das Datum der etwaigen Überschreitung liegt beim Unternehmen. Verstöße gegen die Dokumentationspflichten können steuerliche Nachteile oder Sanktionen nach sich ziehen.
Wie wirkt sich eine nachträgliche Änderung der Lieferschwelle auf die laufenden Verträge oder Lieferungen aus?
Eine nachträgliche Änderung der gesetzlichen Lieferschwelle – beispielsweise durch unionsrechtliche Harmonisierung oder nationale Anpassung – wirkt sich grundsätzlich für alle nach dem Inkrafttreten getätigten Lieferungen aus. Lieferungen vor diesem Stichtag unterliegen noch den bisherigen Schwellenwerten. Für Verträge oder Aufträge, die sowohl vor als auch nach einer Schwellenwertänderung ausgeführt werden, ist eine zeitanteilige Betrachtung der jeweiligen Umsätze vorzunehmen. Unternehmen müssen die steuerliche Behandlung entsprechend anpassen und ihre Vertragsgestaltung und Fakturierung auf Änderungen hin überprüfen.
Welche Bedeutung hat die Lieferschwelle im Zusammenhang mit dem innergemeinschaftlichen Versandhandel im Sinne des Umsatzsteuergesetzes?
Im Rahmen des innergemeinschaftlichen Versandhandels nach § 3c UStG ist die Lieferschwelle ein zentrales steuerliches Merkmal, das als Anknüpfungspunkt für die Verlagerung des Leistungsorts ins Bestimmungsland dient. Bei Überschreiten der Lieferschwelle gilt der Umsatz im Bestimmungsland als ausgeführt, mit der Folge der dortigen Umsatzsteuerpflicht. Dies betrifft alle Lieferungen an private Endkunden, ausgenommen sind Lieferungen an Unternehmer, die in ihrem Land für Erwerbsbesteuerung registriert sind. Die Besonderheiten des § 3c UStG sind unionsrechtlich harmonisiert, wodurch in allen EU-Staaten vergleichbare Regelungen bestehen.