Begriff und Grundlagen des Kontrahierungszwangs
Der Begriff „Kontrahierungszwang“ bezeichnet im deutschen Recht die Pflicht eines Unternehmers oder eines bestimmten Vertragspartners, mit einer anderen Person einen Vertrag abzuschließen, sofern bestimmte gesetzliche Voraussetzungen erfüllt sind. Der Kontrahierungszwang stellt eine Ausnahme zum allgemeinen Grundsatz der Privatautonomie dar, wonach jeder selbst entscheiden kann, ob und mit wem er Verträge eingeht.
Entstehung und Rechtsnatur
Der Kontrahierungszwang ist sowohl im öffentlichen als auch im privaten Recht verankert. Während im Regelfall die Vertragsfreiheit als tragendes Prinzip gilt, greifen Kontrahierungszwänge immer dort ein, wo aus sozial-, wirtschafts- oder ordnungspolitischen Gründen das Gemeinwohl ein Zustandekommen eines Vertrages fordert.
Die Verpflichtung zum Abschluss eines Vertrages kann dabei unmittelbar kraft Gesetzes entstehen oder durch hoheitliche Maßnahmen (beispielsweise durch einen Verwaltungsakt). In seltenen Fällen wird sie durch konkludente oder ausdrückliche Nebenabreden oder anerkannte Verkehrssitten hergeleitet.
Gesetzliche Grundlage und Anwendungsbereiche
Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB)
Obwohl das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) den Kontrahierungszwang nicht unmittelbar regelt, finden sich Vorschriften, die ihn indirekt anordnen. Beispielsweise verpflichtet § 20 Absatz 1 GWB Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung unter bestimmten Umständen, Vertragsschlüsse nicht ohne sachlich gerechtfertigten Grund zu verweigern.
Spezielle Kontrahierungszwänge
Öffentliche Versorgungsunternehmen
Eine zentrale Rolle spielt der Kontrahierungszwang im Bereich der Daseinsvorsorge. Versorgungsunternehmen wie Energieversorger (Strom, Gas, Wasser), aber auch Kassenärztliche Vereinigungen, stehen in bestimmten Fällen in der Pflicht, jeden Anschlussnehmer zu beliefern oder zu betreuen. So normiert § 36 EnWG für den Grundversorger von Haushaltskunden einen Kontrahierungszwang für die leitungsgebundene Energieversorgung.
Beförderungspflicht im öffentlichen Personenverkehr
Im öffentlichen Nah- und Fernverkehr – etwa Bahn-, Bus- und Taxigewerbe – besteht ein Kontrahierungszwang durch sogenannte Beförderungspflichten. Diese ergeben sich etwa für Eisenbahnunternehmen aus § 10 und § 12 Allgemeines Eisenbahngesetz (AEG) oder für Taxen aus dem Personenbeförderungsgesetz (PBefG).
Versicherungsvertragsrecht
Ein weiterer Anwendungsbereich ist der Abschluss von Pflichtversicherungen, beispielsweise der Kfz-Haftpflichtversicherung (§ 5 Pflichtversicherungsgesetz). Versicherer dürfen ihre Leistungen nur ausnahmsweise und bei besonderem Risiko verweigern.
Weitere gesetzliche Kontrahierungszwänge
Der Schutz vor Diskriminierung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) kann ebenfalls zu einer Pflicht zum Vertragsabschluss führen, sofern Ablehnungen nicht sachlich gerechtfertigt sind und auf verbotenen Unterscheidungen (zum Beispiel wegen der Rasse oder Geschlechts) beruhen.
Schranken und Ausnahmen des Kontrahierungszwangs
Sachlich gerechtfertigte Ablehnungsgründe
Der Kontrahierungszwang ist nicht unbegrenzt. Partielle Ausnahmen können gemacht werden, wenn sachlich gerechtfertigte Gründe vorliegen. Dazu zählen insbesondere
- Vorliegen von Zahlungsrückständen oder Bonitätsproblemen beim Antragsteller,
- Gefährdung der Betriebssicherheit oder Unzumutbarkeit der Leistung,
- unübliche Anfragen, die wesentlich vom normalen Geschäftsablauf abweichen.
Abgrenzung zur Diskriminierung
Die Ablehnung eines Vertragsschlusses darf nicht aus diskriminierenden Motiven erfolgen. Dies wird besonders im Rahmen des AGG überprüft. Überwiegen sachliche Gründe, etwa ein zuvor gezeigtes Fehlverhalten des Antragstellers gegenüber dem Unternehmen, wird dieses vor diskretionären Kontrahierungszwängen geschützt.
Anwendung und Durchsetzung
Verweigert das verpflichtete Unternehmen den Vertragsschluss zu Unrecht, kann der Benachteiligte den Abschluss einklagen. Darüber hinaus sind Schadensersatzansprüche denkbar, insbesondere wenn sich aus der Ablehnung nachweisbare Schäden ergeben. Der Primäranspruch richtet sich dabei auf das tatsächliche Zustandekommen des Vertrages durch Urteil.
Bedeutung im Wirtschafts- und Wettbewerbsrecht
Sicherstellung einer Versorgung
Der Kontrahierungszwang garantiert eine flächendeckende, diskriminierungsfreie Versorgung mit essentiellen Gütern und Diensten. Er verhindert Missbrauch der Marktmacht durch Unternehmen von „essential facilities“ (unentbehrliche Einrichtungen) und erhält so die Funktionsfähigkeit des marktwirtschaftlichen Systems.
Wettbewerbsrechtliche Aspekte
Eine zentrale Bedeutung kommt dem Kontrahierungszwang nach Wettbewerbs- und Kartellrecht zu. Marktmächtige Unternehmen dürfen andere Unternehmen oder Verbraucher nicht durch unbegründete Leistungsversagung vom Marktzugang ausschließen. Hier dienen § 19 und § 20 GWB als kartellrechtliche Grundlage, den Marktzugang zu sichern und Marktmissbrauch zu verhindern.
Internationale Bezüge
Auch in anderen Rechtsordnungen existieren vergleichbare Regelungen zum Kontrahierungszwang, etwa im französischen und österreichischen Recht. Im europäischen Kontext finden sich Kontrahierungszwänge etwa in sektorspezifischen Richtlinien für Energie, Telekommunikation oder Finanzdienstleistungen.
Zusammenfassung
Der Kontrahierungszwang stellt eine wichtige Ausnahme von der Vertragsfreiheit dar und dient dem Schutz des Gemeinwohls, der Diskriminierungsfreiheit und einer gesicherten Versorgung der Allgemeinheit. Eingeschränkt wird er durch sachliche Gründe für Ablehnungen und orientiert sich stets am übergeordneten Ziel des fairen Interessenausgleichs zwischen Versorgungsunternehmen und Nachfragern. Durch seine vielseitige Ausgestaltung in unterschiedlichen Rechtsgebieten hat der Kontrahierungszwang eine zentrale Bedeutung im deutschen Rechtssystem und für den Wirtschaftsverkehr.
Häufig gestellte Fragen
Welche Rechtsgrundlagen liegen dem Kontrahierungszwang im deutschen Recht zugrunde?
Der Kontrahierungszwang im deutschen Recht beruht maßgeblich auf spezialgesetzlichen Regelungen, die bestimmte Marktteilnehmer verpflichten, Verträge mit jedermann zu bestimmten, gesetzlich vorgesehenen Bedingungen abzuschließen. Zu den wichtigsten gesetzlichen Grundlagen zählen etwa § 20 Abs. 1 GWB (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen), der marktbeherrschenden Unternehmen verbietet, anderen Unternehmen den Zugang zu ihren Leistungen ohne sachlich gerechtfertigten Grund zu verweigern. Ferner normieren Vorschriften im BGB, zum Beispiel §§ 535 ff. BGB für Mietverhältnisse unter bestimmten Voraussetzungen eine Abschlussverpflichtung. Im Bereich des öffentlichen Rechts resultieren etwa aus dem Personenbeförderungsgesetz (PBefG), dem Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) oder dem Telemediengesetz (TMG) entsprechende Verpflichtungen für Versorgungsunternehmen oder Anbieter von Telekommunikationsdienstleistungen. Daneben können auch unionsrechtliche Vorgaben – insbesondere Wettbewerbs- und Missbrauchsaufsichtsvorschriften – einen Kontrahierungszwang auslösen.
Welche Rolle spielt der Kontrahierungszwang im Kartellrecht?
Im Kartellrecht ist der Kontrahierungszwang ein zentrales Instrument, um marktbeherrschende Stellungen zu regulieren und einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten. Die Vorschriften des GWB sehen vor, dass Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung verpflichtet sind, ihre Produkte oder Dienstleistungen zu üblichen Geschäftsbedingungen auch Wettbewerbern oder Verbrauchern anzubieten, sofern kein sachlich gerechtfertigter Ablehnungsgrund vorliegt. Diese Pflicht zielt darauf ab, Diskriminierungen und den Missbrauch einer Monopolstellung zu verhindern, beispielsweise indem ein Energieversorger bestimmten Verbrauchern oder Mitbewerbern den Netzzugang verweigert. Verstöße gegen diese Vorschriften können von den Kartellbehörden verfolgt und mit Bußgeldern oder anderen Maßnahmen sanktioniert werden.
Gibt es Ausnahmen vom Kontrahierungszwang?
Ja, das Gesetz kennt zahlreiche Ausnahmen vom Kontrahierungszwang, um die Interessen der verpflichteten Unternehmen zu schützen. Ein Vertragsschluss kann verweigert werden, wenn sachlich gerechtfertigte Gründe vorliegen. Diese können sich beispielsweise aus Zahlungsunfähigkeit des Antragsstellers, fehlender Geschäftsfähigkeit, unzumutbarer Beanspruchung der Ressourcen oder aus einem Verstoß gegen gesetzliche Verbote ergeben. Auch wenn das Vertragsverhältnis dem Unternehmen unzumutbare Nachteile bringen würde oder der Antragsteller gegen Regeln des Anstands oder die öffentliche Ordnung verstößt, kann der Kontrahierungszwang entfallen. Die jeweiligen Spezialgesetze oder -vorschriften konkretisieren diese Ausnahmen häufig näher.
Welche Branchen sind besonders vom Kontrahierungszwang betroffen?
Der Kontrahierungszwang spielt insbesondere in monopolistisch oder oligopolistisch geprägten Märkten eine Rolle, in denen eine Grundversorgung sichergestellt werden muss. Beispielsweise sind Unternehmen der Daseinsvorsorge wie Energieversorger, Wasserversorgungsunternehmen, Verkehrsunternehmen (besonders im öffentlichen Nah- und Fernverkehr), Versicherungen (Kfz-Haftpflichtversicherung), Post- und Telekommunikationsdienste sowie Krankenhäuser und Apotheken betroffen. Auch Betreiber von essenziellen Infrastrukturen, wie Strom- und Gasnetze oder Schienennetze, unterliegen häufig entsprechenden gesetzlichen Verpflichtungen, um einen diskriminierungsfreien Marktzutritt zu gewährleisten.
Welche rechtlichen Folgen hat eine Verletzung des Kontrahierungszwangs?
Verstößt ein Unternehmen gegen den Kontrahierungszwang, drohen unterschiedliche rechtliche Konsequenzen. Primär besteht für den abgewiesenen Vertragspartner ein Anspruch auf Abschluss des Vertrages (Abschlussklage), sofern die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen. Zu den denkbaren Sanktionen zählen zudem Schadensersatzansprüche gemäß § 280 BGB oder – im kartellrechtlichen Kontext – Bußgelder und Anordnungen der Wettbewerbsbehörden. In manchen Fällen kann das erzwungene Vertragsverhältnis auch rückwirkend hergestellt oder aufrechterhalten werden. Liegt ein Verstoß gegen öffentlich-rechtliche Pflichten vor, drohen zudem aufsichtsrechtliche Maßnahmen bis hin zum Entzug von Lizenzen oder Konzessionen. In sehr seltenen Fällen kommen auch strafrechtliche Konsequenzen in Betracht, etwa bei Diskriminierung oder Verstoß gegen Gleichbehandlungsgrundsätze.
Wie wird der Kontrahierungszwang juristisch durchgesetzt?
Der Kontrahierungszwang kann sowohl außergerichtlich als auch gerichtlich durchgesetzt werden. Betroffene Antragssteller können sich an Aufsichts- und Regulierungsbehörden wenden, die im Rahmen ihrer Überwachungsbefugnisse eine Verstoßprüfung einleiten und gegebenenfalls Maßnahmen anordnen können. Zusätzlich steht der Zivilrechtsweg offen, über den mittels einstweiliger Verfügung oder Hauptsacheklage ein Anspruch auf Vertragsschluss geltend gemacht werden kann. Im Wettbewerbsrecht ist ferner eine Beschwerde bei den Kartellbehörden möglich, die eigene Ermittlungen anstrengen und Sanktionen verhängen können. Auch Schlichtungsstellen kommen zum Einsatz, insbesondere im Versicherungs- und Energieversorgungsbereich. Die konkrete prozessuale Durchsetzung hängt stark von der jeweiligen Branche und dem zugrunde liegenden Rechtsgebiet ab.
Welche internationalrechtlichen Bezüge existieren hinsichtlich des Kontrahierungszwangs?
Der Kontrahierungszwang ist kein ausschließlich deutsches Rechtsinstitut, sondern wird in ähnlicher Form auch im europäischen und internationalen Recht geregelt. Im EU-Recht besteht insbesondere durch die Binnenmarkt- und Wettbewerbsregeln (z. B. Art. 102 AEUV) die Verpflichtung marktbeherrschender Unternehmen, diskriminierungsfreie Zugänge zu wesentlichen Infrastrukturen zu gewährleisten. Der Europäische Gerichtshof hat hierzu in mehreren Grundsatzentscheidungen die Voraussetzungen und Grenzen konkretisiert. Auch internationale Handelsabkommen sowie Regelungen der Welthandelsorganisation (WTO) enthalten mitunter Diskriminierungsverbote, die in Einzelfällen einem Kontrahierungszwang ähneln. Die nationalen Regelungen müssen demnach im Einklang mit internationalen Vorgaben gestaltet werden, um Handelshemmnisse und Diskriminierungen zu vermeiden.