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Gewohnheitsrecht


Definition und Bedeutung des Gewohnheitsrechts

Das Gewohnheitsrecht ist eine eigenständige Rechtsquelle, welche durch längere tatsächliche Übung (Übungspraxis) und die Überzeugung allgemeiner Verbindlichkeit (Rechtsüberzeugung, opinio necessitatis) entsteht. Es handelt sich um ungeschriebenes Recht, das insbesondere dann zur Anwendung kommt, wenn eine gesetzliche Norm fehlt oder auslegungsbedürftig ist. Im deutschen Rechtssystem sowie in internationalen Rechtsordnungen besitzt das Gewohnheitsrecht neben dem geschriebenen Recht (Gesetzesrecht) eine wichtige Ergänzungs- und Lückenfüllungsfunktion.

Entstehung und Voraussetzungen des Gewohnheitsrechts

Objektives Element: Langandauernde Übung

Eine der zentralen Voraussetzungen für die Entstehung von Gewohnheitsrecht ist die tatsächliche, lang andauernde und gleichmäßige Übung. Diese Praxis muss innerhalb eines bestimmten Rechtskreises (zum Beispiel einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, Verwaltung oder Gerichtsbarkeit) über einen längeren Zeitraum hinweg ausgeübt werden. Die Dauer ist im Einzelfall nicht starr festgelegt, es wird jedoch verlangt, dass die Übung eine gewisse Kontinuität und Wiederholungsdichte aufweist.

Subjektives Element: Rechtsüberzeugung (opinio necessitatis)

Neben der tatsächlichen Übung ist für die Bildung von Gewohnheitsrecht entscheidend, dass die beteiligten Personen oder Institutionen die Übung als rechtlich verbindlich ansehen. Diese innere Überzeugung, dass die Praxis aus rechtlichen Gründen befolgt werden muss, bezeichnet man als opinio necessitatis. Ohne das Vorliegen dieser Rechtsüberzeugung kann aus bloßer Übung kein Gewohnheitsrecht entstehen.

Abgrenzung zu Sitte und Brauch

Gewohnheitsrecht unterscheidet sich von gesellschaftlichen oder sozialen Bräuchen und Sitten dadurch, dass es mit dem Bewusstsein rechtlicher Verbindlichkeit ausgeübt wird. Bräuche oder Sitten sind unverbindlich und entfalten keine unmittelbare Rechtswirkung.

Arten des Gewohnheitsrechts

Ergänzendes (subsidäres) oder Lückenfüllendes Gewohnheitsrecht

Das ergänzende Gewohnheitsrecht greift ein, wenn eine gesetzliche Regelung fehlt und eine Lücke zu schließen ist. Dies ist insbesondere im Bereich des Handelsrechts sowie des bürgerlichen Rechts von Bedeutung.

Abänderndes oder derogierendes Gewohnheitsrecht

Gewohnheitsrecht kann in seltenen Ausnahmefällen auch entgegen bestehenden gesetzlichen Regelungen Anwendung finden, sofern die gesetzliche Vorschrift dispositiv ist, also eine abweichende Regelung durch die Parteien zulässt. Im Bereich zwingenden Rechts ist dies jedoch ausgeschlossen.

Feststellendes Gewohnheitsrecht

Das feststellende Gewohnheitsrecht bestätigt und konkretisiert bestehendes Gesetzesrecht, indem es in Zweifelsfällen die Auslegung einer unbestimmten Rechtsnorm maßgeblich beeinflusst.

Gewohnheitsrecht in verschiedenen Rechtsgebieten

Zivilrecht

Im Bürgerlichen Gesetzbuch (§ 242 BGB – Treu und Glauben, § 157 BGB – Auslegung von Willenserklärungen und Verträgen) sowie im Handelsgesetzbuch (Handelsbräuche) spielt das Gewohnheitsrecht eine ergänzende Rolle. Es dient der Auslegung und Lückenfüllung, etwa bei der Bestimmung von Vertragsinhalten oder handelsüblichen Gepflogenheiten.

Öffentliche Recht und Verwaltungsrecht

Im Verwaltungsrecht kann Gewohnheitsrecht bestimmend für Verwaltungspraktiken sowie für Rechte und Pflichten von Privaten und Behörden sein, wenngleich es auf Bundes- und Landesebene durch kodifiziertes Recht zunehmend zurückgedrängt wird.

Strafrecht

Im deutschen Strafrecht ist Gewohnheitsrecht weitgehend ausgeschlossen. Das Grundgesetz bestimmt im Rechtsstaatsprinzip sowie im Strafgesetzbuch (§ 1 StGB), dass „keine Strafe ohne Gesetz“ existiert (nulla poena sine lege). Eine Strafbarkeit allein auf Grundlage von Gewohnheitsrecht ist daher unzulässig.

Internationales Recht

Im Völkerrecht hat das Gewohnheitsrecht eine wesentliche Bedeutung als eigenständige Rechtsquelle. Viele völkerrechtliche Normen, insbesondere im humanitären Völkerrecht und im internationalen Vertragsrecht, wurden ursprünglich als Gewohnheitsrecht entwickelt, bevor sie in Kodifikationen überführt wurden.

Verhältnis zwischen Gewohnheitsrecht und geschriebenem Recht

Das in Gesetzen niedergelegte Recht hat grundsätzlich Vorrang vor dem Gewohnheitsrecht (lex scripta vor lex non scripta). Gewohnheitsrecht kann jedoch herangezogen werden, wenn das Gesetz eine Lücke aufweist oder auslegungsbedürftig ist. In Ausnahmefällen kann dispositives Gesetzesrecht durch entgegenstehendes Gewohnheitsrecht abbedungen werden.

Beweis und Anwendung des Gewohnheitsrechts

Die Feststellung von Gewohnheitsrecht erfordert die nachweisbare Dokumentation langjähriger Praxis und bestehender Rechtsüberzeugung. In der gerichtlichen Praxis wird das Gewohnheitsrecht meist durch Parteivortrag, Zeugenbeweis oder Gutachten nachgewiesen. Gerichte müssen das Vorliegen der Voraussetzungen im Einzelfall sorgfältig prüfen.

Kritik und Grenzen des Gewohnheitsrechts

Zu den Hauptkritikpunkten am Gewohnheitsrecht zählt die Unsicherheiten im Hinblick auf Entstehung, Bestand und Abgrenzung zu bloßen Bräuchen. Zudem kann sich das Gewohnheitsrecht nicht dynamisch genug an sich wandelnde gesellschaftliche Verhältnisse anpassen, wie dies beim geschriebenen Recht durch Gesetzgebung der Fall ist. Im Bereich zwingenden Rechts findet das Gewohnheitsrecht seine Grenze und tritt hinter verbindliche gesetzliche Vorgaben zurück.

Bedeutung des Gewohnheitsrechts im modernen Rechtssystem

Im heutigen Rechtssystem bleibt das Gewohnheitsrecht als Quelle ungeschriebenen Rechts von erheblicher praktischer Bedeutung, vor allem bei der Gestaltung und Auslegung privatrechtlicher, verwaltungsrechtlicher und völkerrechtlicher Beziehungen. Trotz des Vorrangs kodifizierten Rechts stellt das Gewohnheitsrecht ein wichtiges Instrument der Rechtsfortbildung und Rechtssicherheit dar, das dem Rechtsalltag zusätzliche Flexibilität und Anpassungsfähigkeit verleiht.


Siehe auch:

Literaturverweise:

  • Palandt, BGB – Bürgerliches Gesetzbuch, Kommentar, aktuelle Auflage
  • Schmidt, Handelsgesetzbuch, Kommentar, aktuelle Auflage
  • Ipsen, Staatsrecht, aktuelle Auflage
  • Herdegen, Völkerrecht, aktuelle Auflage

Häufig gestellte Fragen

Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit Gewohnheitsrecht entsteht?

Damit Gewohnheitsrecht im rechtlichen Sinne entsteht, müssen verschiedene Bedingungen erfüllt sein, die von der Rechtsprechung und juristischen Literatur anerkannt werden. Erstens muss eine beständige, tatsächliche Übung über einen längeren Zeitraum vorliegen („longa consuetudo“), das heißt, eine Handlung oder Regel wird von einer Bevölkerungsgruppe immer wieder auf gleiche Weise befolgt. Zweitens wird verlangt, dass die beteiligten Rechtssubjekte diese Übung in der Überzeugung befolgen, dass sie rechtlich geboten sei („opinio iuris“). Dabei reicht nicht bloßes Nachahmen oder Gewohnheit aus; es muss ein Rechtsbindungswille bestehen. Außerdem darf die geübte Praxis nicht gegen bestehende gesetzliche Vorschriften („Gesetzesvorrang“) oder Grundprinzipien der Rechtsordnung verstoßen. Schließlich ist erforderlich, dass die Regelung hinreichend bestimmt ist und auf einen konkreten Lebenssachverhalt anwendbar ist. Die Beweislast für das Entstehen und den Inhalt von Gewohnheitsrecht liegt in der Praxis bei derjenigen Partei, die sich darauf beruft, was in der gerichtlichen Praxis regelmäßig zu erheblichen Darlegungs- und Beweisproblemen führen kann.

In welchen Bereichen des Rechts spielt Gewohnheitsrecht heute noch eine Rolle?

Gewohnheitsrecht tritt vor allem in den Bereichen auf, in denen gesetzliche Regelungen nicht (vollständig) vorhanden oder unklar sind. Zu nennen ist insbesondere das Öffentliche Recht, etwa im Staats- und Völkerrecht, wo es häufig als Lückenfüller dient und zum Beispiel völkerrechtliche Grundsätze wie die Immunität von Staaten oder das Non-Refoulement-Prinzip mitbegründet. Auch im Privatrecht, etwa im Handels- und Gesellschaftsrecht, können gewohnheitsrechtliche Regeln relevant werden, beispielsweise bei Handelsbräuchen oder Verkehrssitten. Im Arbeitsrecht kann zur Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe auf gewohnheitsrechtliche Regelungen wie Betriebsübung zurückgegriffen werden. Im Strafrecht hingegen ist aufgrund des Bestimmtheitsgebots und des Rückwirkungsverbots Gewohnheitsrecht ausgeschlossen (§ 1 StGB). Dennoch kann in der Praxis die Feststellung des Gewohnheitsrechts im Einzelfall aufwendig und interpretationsbedürftig sein.

Kann Gewohnheitsrecht bestehendes Gesetzesrecht verdrängen oder modifizieren?

Ein grundlegendes Prinzip in kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen, wie der deutschen, ist der Vorrang des geschriebenen Rechts (lex scripta). Das bedeutet, dass Gewohnheitsrecht grundsätzlich keine gesetzliche Regelung verdrängen oder modifizieren kann („lex superior derogat legi inferiori“). Eine Ausnahme kann im internationalen Kontext oder im Rahmen des Verfassungsrechts gegeben sein, beispielsweise wenn sich Verfassungsgewohnheitsrecht herausgebildet hat, das bestehende Verfassungsnormen ausfüllt oder präzisiert. Im Fall von Normenkonkurrenz geht das Gesetz vor; nur wenn eine gesetzliche Regelung fehlt, kann auf Gewohnheitsrecht zurückgegriffen werden, sofern die oben genannten Voraussetzungen vorliegen. Eine Veränderung oder Aufhebung von Gewohnheitsrecht kann auch durch neue gesetzliche Regelungen erfolgen, die die bisherige Praxis ausdrücklich oder konkludent ausschließen.

Wie wird das Vorliegen von Gewohnheitsrecht in Gerichtsverfahren festgestellt?

Das Feststellen von Gewohnheitsrecht ist im gerichtlichen Verfahren mit hohen Anforderungen verbunden. Das Gericht hat dabei anhand von Tatsachenvortrag und Beweismitteln zu ermitteln, ob die Voraussetzungen von Gewohnheitsrecht im konkreten Fall erfüllt sind. Parteien, die sich auf eine gewohnheitsrechtliche Regel stützen, müssen eine ausgedehnte tatsächliche Übung und die entsprechende „opinio iuris“ nachweisen, etwa durch Zeugen, Dokumentationen, frühere Gerichtsurteile oder anerkannte wissenschaftliche Veröffentlichungen. Dabei ist entscheidend, wie weit verbreitet, konstant und einheitlich die Praxis im maßgeblichen Kreis befolgt wurde. Das Gericht prüft, ob diese Praxis als rechtlich verbindlich angesehen wird. Fehlt es an klaren Anhaltspunkten oder ist die Rechtslage strittig, wird die Anerkennung von Gewohnheitsrecht häufig versagt oder auf Ausnahmen beschränkt.

Welche Bedeutung hat Gewohnheitsrecht im Vergleich zum Richterrecht?

Gewohnheitsrecht und Richterrecht (Richterliche Rechtsfortbildung) sind voneinander zu unterscheiden, auch wenn beide als ungeschriebenes Recht gelten. Gewohnheitsrecht beruht auf einer allgemeinen, dauerhaften Übung mit Rechtsüberzeugung, wohingegen Richterrecht auf richterlicher Rechtsfortbildung durch Rechtsprechung basiert, insbesondere in Fällen von Gesetzeslücken – etwa durch Grundsatzentscheidungen höchstrichterlicher Gerichte. Während das Gewohnheitsrecht aus der gesellschaftlichen Praxis entsteht, entwickelt sich Richterrecht aus der gerichtlichen Auslegung und Konkretisierung von Normen. Beide sind im Rechtssystem anerkannt, wobei dem geschriebenen Gesetz aber stets Vorrang eingeräumt wird. In der praktischen Rechtsanwendung können sich beide Institute ergänzen, beispielsweise, wenn Gerichte Gewohnheitsrecht bestätigend heranziehen oder bei fehlender Regelung Rechtsprechung als Leitlinie entwickelt wird.

Kann Gewohnheitsrecht auch wieder „erlöschen“?

Ja, wie jede Rechtsquelle kann auch Gewohnheitsrecht seine Geltung verlieren. Das Erlöschen erfolgt entweder durch Wegfall einer der Entstehungsvoraussetzungen – etwa wenn die tatsächliche Übung aufgegeben und nicht mehr befolgt wird – oder durch den Entfall der „opinio iuris“, das heißt, wenn die Überzeugung der Rechtsverbindlichkeit entfällt. Ebenso kann neues Gesetzesrecht früheres Gewohnheitsrecht verdrängen und so dessen Fortbestand beenden. In der Rechtspraxis wird für das Erlöschen von Gewohnheitsrecht regelmäßig verlangt, dass die bisherige Übung über einen längeren Zeitraum hin nicht mehr angewendet und von den Rechtsgenossen als nicht mehr verbindlich angesehen wird. Das einfache Unterbleiben der praktischen Anwendung reicht aus, wenn es dauerhaft ist und den Willen der Beteiligten zur Aufgabe der Regel erkennen lässt.

Gibt es spezielle Formerfordernisse für das Entstehen von Gewohnheitsrecht?

Das Besondere am Gewohnheitsrecht besteht gerade darin, dass es keine formellen Akte, keine Veröffentlichung oder Niederschrift für sein Entstehen benötigt. Es ist ungeschriebenes Recht, das allein durch tatsächliches Handeln und eine gefestigte Überzeugung der Rechtsverbindlichkeit entsteht. Gleichwohl muss es objektiv feststellbar und nachweisbar sein, dass die Praxis ausreichend konstant, weit verbreitet und von einer Mehrheit der beteiligten Personen ausgeübt wird. In bestimmten Bereichen, etwa im Handelsrecht, wurde versucht, durch Handelsusancen und Bräuche Gewohnheiten zu dokumentieren, doch besteht auch dann keine gesetzlich vorgeschriebene Form. Entscheidend bleibt stets die materiell-rechtliche Bewertung der Umstände und deren rechtliche Würdigung im Einzelfall.