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Gerechtigkeit


Begriff und Definition der Gerechtigkeit

Gerechtigkeit ist im Rechtskontext ein zentrales und grundlegendes Ordnungsprinzip, das als Leitbild für rechtliche Normen und deren Anwendung dient. Traditionell bezeichnet Gerechtigkeit die Idee, jedem das ihm Zustehende zukommen zu lassen. Sie bildet damit den normativen Maßstab für gesetzgeberische, richterliche und behördliche Entscheidungen und ist zugleich ein wesentliches Ziel jeglicher Rechtsordnung. Der Begriff ist vielschichtig und unterliegt, abhängig vom jeweiligen historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontext, unterschiedlichen Ausprägungen.

Historische Entwicklung des Gerechtigkeitsbegriffs

Antike und Mittelalter

Bereits in der Antike befassten sich Philosophen wie Platon und Aristoteles mit der Frage nach der Gerechtigkeit. Aristoteles unterschied beispielsweise zwischen ausgleichender und verteilter Gerechtigkeit (iustitia commutativa und distributiva). Im Mittelalter wurde die Gerechtigkeit insbesondere durch die Scholastik und das Naturrecht geprägt. Thomas von Aquin befasste sich mit Gerechtigkeit als Kardinaltugend und stellte den Zusammenhang mit den übrigen Tugenden her.

Neuzeit und Moderne

In der Neuzeit verdrängte das positive Recht zunehmend das Naturrecht als entscheidende Grundlage für die Rechtsordnung. Dennoch blieb die Gerechtigkeit auch weiterhin ein Leitmotiv, insbesondere bezogen auf die Rechtssetzung und Rechtsanwendung. In der Gegenwart ist Gerechtigkeit ein elementares Kriterium bei der Beurteilung von Gesetzen, Urteilen und staatlichem Handeln geblieben.

Gerechtigkeit als Rechtsprinzip

Positive Gerechtigkeit und materielle Gerechtigkeit

Unterschieden wird zwischen formaler (auch: positive) und materieller (auch: inhaltliche) Gerechtigkeit:

  • Formale Gerechtigkeit meint die allgemeine und gleichmäßige Anwendung von Rechtsnormen auf alle gleich gelagerten Fälle. Sie ist eng mit dem Prinzip der Rechtssicherheit und dem allgemeinen Gleichheitssatz verbunden.
  • Materielle Gerechtigkeit hingegen verlangt, dass die Inhalte der Normen und deren Anwendung dem Gerechtigkeitsempfinden und den Wert- und Moralvorstellungen der Gesellschaft entsprechen sowie als „gerecht“ empfunden werden.

Subjektive und objektive Gerechtigkeit

Gerechtigkeit ist weiter zu unterscheiden in einen subjektiven und einen objektiven Aspekt:

  • Objektive Gerechtigkeit meint die Gerechtigkeit, die sich an allgemein als bindend angesehenen Maßstäben und Werten orientiert.
  • Subjektive Gerechtigkeit ist hingegen das individuelle Empfinden über Recht und Unrecht, das sich aus persönlichen Überzeugungen und Erfahrungen speist.

Gerechtigkeit im positiven Recht

Verfassungsrecht und Gleichheitsgrundsatz

Das Prinzip der Gerechtigkeit ist im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland unter anderem durch den Gleichheitsgrundsatz in Art. 3 GG verankert. Jede Person wird vor dem Gesetz gleich behandelt; etwaige Differenzierungen müssen durch sachliche Gründe gerechtfertigt sein.

Gesetzmäßigkeit und Rechtssicherheit

Gerechtigkeit setzt im Rechtssystem die Gesetzmäßigkeit und die Rechtssicherheit voraus. Ein staatliches Handeln, das nicht auf allgemeinen und bekannt gemachten Gesetzen fußt, widerspricht dem Prinzip der Gerechtigkeit. Wesentliche Rechtsgrundsätze wie Rückwirkungsverbot, Vertrauensschutz und das Bestimmtheitsgebot tragen zur Sicherung der Gerechtigkeit bei.

Verhältnismäßigkeitsprinzip

Ein wichtiger Untergrund für gerechte Entscheidungen ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Es verpflichtet die Verwaltung und Gerichte zur Wahrung eines angemessenen Verhältnisses bei Eingriffen in Grundrechte und andere Rechtspositionen.

Formen und Arten der Gerechtigkeit

Distributive (verteilende) Gerechtigkeit

Die distributive Gerechtigkeit beschreibt die gerechte Verteilung gesellschaftlicher Güter, Chancen, Lasten und Vorteile. In Sozialstaaten wirkt sich dieses Prinzip etwa auf das Steuerrecht oder das Sozialrecht aus.

Kommutative (ausgleichende) Gerechtigkeit

Die kommutative Gerechtigkeit betrifft Austauschverhältnisse und basiert auf dem Grundsatz der Gleichwertigkeit der Leistungen, wie sie etwa im Schuldrecht und Vertragsrecht verwirklicht ist.

Korrektive (wiederherstellende) Gerechtigkeit

Korrektive Gerechtigkeit ist zielgerichtet auf den Ausgleich oder die Wiedergutmachung bereits eingetretener Nachteile, typischerweise im Schadensersatzrecht.

Gerechtigkeit in gerichtlichen Verfahren

Rechtsprechung und Beurteilung

Richterliches Handeln muss sich stets an den Prinzipien der Gerechtigkeit orientieren. Auch wenn Gesetze das Verhalten in Einzelfällen nicht immer explizit regeln, hat das Gericht stets die gerechte Lösung anzustreben. Dies gelingt insbesondere durch Auslegungs- und Abwägungsprozesse.

Billigkeit und Ermessensentscheidungen

Das Gesetz sieht in bestimmten Fällen vor, dass Gerichte nach „Billigkeit“ oder „Treu und Glauben“ entscheiden. Hier wird explizit Raum geschaffen, um eine gerechte Entscheidung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls zu treffen.

Gerechtigkeit und internationales Recht

Auch im internationalen vergleichenden Kontext ist Gerechtigkeit maßgeblich. So finden sich etwa im europäischen Recht und im Völkerrecht zahlreiche Gerechtigkeitsgrundsätze wie Fairness, Gleichheit und Nichtdiskriminierung, die sowohl Staaten als auch Individuen schützen.

Kritik und Herausforderungen

Trotz ihres hohen normativen Werts ist Gerechtigkeit als unbestimmter Rechtsbegriff stets Gegenstand gesellschaftlicher Debatten. Was in einer Epoche oder Kultur als gerecht gilt, kann in einer anderen als ungerecht empfunden werden. Die Herausforderung besteht darin, im ständigen Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit eine Balance zu finden.

Fazit

Gerechtigkeit bildet einen elementaren Eckpfeiler des Rechts und fungiert als Antrieb und Kontrollinstanz für Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung. Sie äußert sich in unterschiedlichen Formen und beeinflusst alle Bereiche des Rechts. Trotz ihrer Vielschichtigkeit bleibt die Gerechtigkeit das zentrale Leitbild für das menschliche Zusammenleben in einer rechtsstaatlichen Ordnung.

Häufig gestellte Fragen

Welche Rolle spielt Gerechtigkeit bei gerichtlichen Entscheidungen?

Gerechtigkeit ist ein zentrales Leitmotiv im deutschen Rechtssystem und beeinflusst maßgeblich die Urteilsfindung bei gerichtlichen Verfahren. Im rechtlichen Kontext versteht man darunter die Anwendung des geltenden Rechts auf den konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände, Interessen und der materiellen Wahrheit. Richter sind verpflichtet, nicht nur strikt nach dem Gesetz zu entscheiden, sondern auch die Grundsätze von Fairness und Angemessenheit zu berücksichtigen, soweit das Gesetz dies zulässt. Beispielsweise erlaubt das Opportunitätsprinzip im Strafrecht, von der Verfolgung einer Straftat abzusehen, wenn dies unter Gerechtigkeitsaspekten geboten erscheint. Zudem wird in Zivilverfahren häufig das Prinzip von Treu und Glauben (§ 242 BGB) herangezogen, um eine ausgewogene, gerechte Lösung für beide Parteien zu finden. Die Bindung der rechtsprechenden Gewalt an das Gesetz und das Recht (§ 20 Abs. 3 GG) stellt dabei sicher, dass die tatsächliche Rechtsanwendung nicht beliebig, sondern im Rahmen des gesetzlichen Systems gerechter Ausgleich erfolgt.

Wie wird im Rechtssystem mit subjektiv empfundenen Ungerechtigkeiten umgegangen?

Das Rechtssystem erkennt an, dass subjektive Vorstellungen von Gerechtigkeit und gesetzliche Regelungen nicht immer deckungsgleich sind. Um subjektiv empfundene Ungerechtigkeiten auszugleichen, wurden verschiedene Rechtsinstitute geschaffen, zum Beispiel die Billigkeitsentscheidung (§ 315 BGB), die dem Richter einen Ermessensspielraum einräumt, um spezielle Sachverhalte mit Rücksicht auf das individuelle Gerechtigkeitsempfinden zu entscheiden. Auch können Gerichte über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besonders harte, unverhältnismäßige Auswirkungen gesetzlicher Bestimmungen mildern. Weiterhin existieren Rechtsbehelfe wie die Berufung oder Beschwerden, die es ermöglichen, Entscheidungen zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Gerechtigkeit richterlicher Entscheidungen zu wahren.

Welche Bedeutung hat die Gleichbehandlung im rechtlichen Gerechtigkeitsverständnis?

Gleichbehandlung ist ein wesentlicher Bestandteil der rechtlichen Gerechtigkeit und findet ihren Ausdruck insbesondere im Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Grundgesetz (GG). Dieser Grundsatz verpflichtet Gesetzgeber, Verwaltung und Gerichte, vergleichbare Sachverhalte auch vergleichbar zu behandeln und keine Person willkürlich zu benachteiligen oder zu bevorzugen. Abweichungen in der Behandlung sind nur erlaubt, wenn sachliche Gründe vorliegen, die eine Differenzierung rechtfertigen. In der gerichtlichen Praxis bedeutet dies, dass zu klärende Fälle stets im Licht der bisherigen Rechtsprechung betrachtet werden müssen, um eine gleichmäßige und berechenbare Rechtsanwendung sicherzustellen und Diskriminierungen auszuschließen.

Inwiefern ist das Strafrecht auf Gerechtigkeit ausgerichtet?

Im deutschen Strafrecht steht das Prinzip der Gerechtigkeit im Mittelpunkt aller Sanktionen und Maßnahmen. Ziel ist nicht nur die Ahndung begangener Taten, sondern auch die Herstellung eines gerechten Ausgleichs zwischen Täter, Opfer und Allgemeinheit. Das Strafmaß soll im Verhältnis zur Schuld und den Umständen der Tat stehen (Schuldprinzip, § 46 StGB). Ein wichtiger Punkt ist dabei die differenzierte Betrachtung der Umstände sowie der persönlichen und sozialen Hintergründe des Täters, um individuelle Gerechtigkeit zu gewährleisten. Zugleich soll durch Möglichkeiten wie die Strafaussetzung zur Bewährung oder das Täter-Opfer-Ausgleichsverfahren die Wiedergutmachung gefördert werden, wodurch dem Gerechtigkeitsinteresse aller Beteiligten besser Rechnung getragen wird.

Welche Mechanismen existieren, um Rechtsirrtümer im Sinne der Gerechtigkeit zu korrigieren?

Das deutsche Rechtssystem sieht verschiedene Mechanismen vor, um Fehlentscheidungen und damit verbundene Ungerechtigkeiten zu beheben. Hierzu zählen insbesondere die Instanzenzüge (Berufung, Revision, Beschwerde), die eine Überprüfung und Korrektur gerichtlicher Urteile ermöglichen. Darüber hinaus existiert der Wiederaufnahmeantrag (§§ 359 ff. StPO, § 578 ff. ZPO), durch den ein bereits rechtskräftig abgeschlossener Fall unter bestimmten Voraussetzungen neu aufgerollt werden kann, etwa wenn neue Beweismittel vorliegen oder sich schwerwiegende Verfahrensfehler herausstellen. Auch Verfassungsbeschwerden sind ein bedeutendes Mittel, wenn Grundrechte in gerichtlichen Verfahren nicht ausreichend gewürdigt wurden und dadurch wesentliche Gerechtigkeitsdefizite drohen.

Wie berücksichtigt das Zivilrecht Gerechtigkeit bei der Vertragsauslegung?

Im Zivilrecht spielt die Gerechtigkeit insbesondere bei der Auslegung und Ergänzung von Verträgen eine Rolle. Das Gesetz fordert, dass Verträge nach dem sogenannten objektiven Empfängerhorizont auszulegen sind (§§ 133, 157 BGB), wodurch die Verständigung und berechtigten Interessen beider Parteien gewahrt werden sollen. Weitere Gerechtigkeitsmechanismen finden sich in den Regelungen zur Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) oder zur unangemessenen Benachteiligung in Allgemeinen Geschäftsbedingungen (§ 307 BGB), die Verträge für nichtig oder anpassungsbedürftig erklären, wenn sie fundamentalen Gerechtigkeitsvorstellungen widersprechen. Richter können so in Einzelfällen unverhältnismäßige oder unfaire Vertragsklauseln korrigieren und gerechte Lösungen herbeiführen.

In welchem Verhältnis stehen Richterspruchgerechtigkeit und Gesetzesgerechtigkeit?

Richterspruchgerechtigkeit (auch Einzelfallgerechtigkeit genannt) beschreibt das Bemühen des Richters, dem jeweiligen Einzelfall unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände möglichst gerecht zu werden. Gesetzesgerechtigkeit hingegen meint die generelle, durch das Gesetz intendierte Gerechtigkeit, die für gleichartige Fälle gleichartige Lösungen vorsieht. Beide Prinzipien stehen in einem Spannungsverhältnis, da eine allzu starre Gesetzesanwendung im Einzelfall als ungerecht empfunden werden kann, während zu große richterliche Freiheit die Rechtssicherheit gefährdet. Das deutsche Rechtssystem versucht, durch Spielräume wie Generalklauseln und Ermessensentscheidungen eine ausgewogene Balance zu schaffen, um sowohl allgemeine als auch individuelle Gerechtigkeit bestmöglich zu verwirklichen.