Begriff und Grundzüge des Fiktiven Schadensersatzes
Der fiktive Schadensersatz bezeichnet im deutschen Schadensersatzrecht die Möglichkeit des Geschädigten, den zur Schadensbehebung erforderlichen Geldbetrag auch dann vom Schädiger zu verlangen, wenn er die Schadensbehebung tatsächlich nicht oder noch nicht durchgeführt hat. Der Begriff gewinnt insbesondere im Rahmen des Sachschadens, insbesondere bei Verkehrsunfällen, erhebliche praktische Bedeutung. Hierbei kann der Geschädigte etwa auf Gutachtenbasis eine Geldzahlung verlangen, ohne zur nachgewiesenen (tatsächlichen) Wiederherstellung verpflichtet zu sein.
Rechtsgrundlagen des Fiktiven Schadensersatzes
Gesetzliche Grundlagen
Die zentrale Anspruchsgrundlage bildet § 249 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Dieser regelt die Art und Weise des zu leistenden Schadensersatzes:
- § 249 Abs. 1 BGB normiert das Grundprinzip der Naturalrestitution („Herstellung des Zustands, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre“).
- § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB erlaubt dem Geschädigten beim Ersatz von Sachschäden anstelle der Herstellung den dazu erforderlichen Geldbetrag zu verlangen.
Der fiktive Schadensersatz findet damit im Spannungsfeld zwischen der Naturalrestitution und dem Geldersatz statt.
Bedeutung in verschiedenen Rechtsgebieten
Die Thematik des fiktiven Schadensersatzes entfaltet Relevanz insbesondere
- im Deliktsrecht (§§ 823 ff. BGB),
- im Vertragsrecht (insbesondere Werkvertragsrecht, § 634 Nr. 4, § 280 bzw. § 281 BGB),
- im Versicherungsrecht (z.B. Kfz-Versicherung).
Voraussetzungen und Grenzen des Fiktiven Schadensersatzes
Grundsatz der Erforderlichkeit
Gemäß § 249 Abs. 2 S. 1 BGB ist Schadensersatz nur in Höhe der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands, also im Umfang der erforderlichen Kosten, zu leisten. Der Begriff „erforderlich“ verlangt, dass der Geschädigte sich so verhält, wie ein wirtschaftlich denkender Mensch in seiner Lage dies tun würde.
Wahlrecht des Geschädigten
Dem Geschädigten steht grundsätzlich ein Wahlrecht zwischen
- Naturalrestitution (tatsächlicher Reparatur),
- Ersatz des erforderlichen Geldbetrages
zu, unabhängig davon, ob er den Schaden tatsächlich behebt.
Einschränkungen des Fiktiven Schadensersatzes
Fiktive Abrechnung auf Gutachtenbasis
Im Bereich der Kfz-Schadensregulierung ist es möglich, nach Vorlage eines Sachverständigengutachtens auf dessen Grundlage („fiktiv“) abzurechnen. Dabei werden die zur Wiederherstellung rechnerisch notwendigen Kosten (Material, Arbeitslohn) erstattet.
BGH-Rechtsprechung zur Einschränkung
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat den fiktiven Schadensersatz mehrfach eingeschränkt:
- Im Werkvertragsrecht ist nach der BGH-Rechtsprechung seit 2018 (§ 634 Nr. 4, § 281 BGB) die fiktive Abrechnung von Mängelbeseitigungskosten ausgeschlossen (BGH, Urt. v. 22.02.2018 – VII ZR 46/17).
- Im Deliktsrecht bleibt die fiktive Abrechnung gem. § 249 BGB weiterhin möglich, wurde jedoch durch Regelungen zur Stundenverrechnungssätzen, Ersatzteilpreisen und UPE-Aufschlägen konkretisiert und teilweise eingeschränkt.
Umsatzsteuer und weitere Abzüge
Nach § 249 Abs. 2 S. 2 BGB wird die Umsatzsteuer auf die Reparaturkosten nur ersetzt, sofern sie tatsächlich angefallen ist. Auch weitere Positionen, wie Verbringungskosten und Ersatzteilaufschläge, werden ggf. nur bei tatsächlicher Anfallserweise im Rahmen der fiktiven Abrechnung berücksichtigt.
Quotenvorrecht und Abwicklung über Haftpflichtversicherung
Im Falle eines Mitverschuldens und bei Abrechnung über die KFZ-Haftpflichtversicherung können weitere Abzüge Anwendung finden, etwa bei Nutzungsausfall, Wertminderung oder Vorsteuerabzugsberechtigung.
Anwendungsbereiche und Praxisrelevanz
Sachschadensrecht (insbesondere Kfz-Unfälle)
Die häufigste praktische Relevanz besitzt der fiktive Schadensersatz bei Verkehrsunfällen. Die Regulierung erfolgt auf Grundlage eines Sachverständigengutachtens, ohne Umsetzung der Reparatur. Besonderheiten gibt es bei sogenannten Bagatellschäden, Vorschäden und Minderwertausgleich.
Werkvertragsrecht und Architektenrecht
Nach neuerer höchstrichterlicher Rechtsprechung ist die fiktive Abrechnung im Werkvertragsrecht seit 2018 nicht mehr zulässig: Auftraggeber können Schadensersatz wegen Mängeln nur verlangen, sofern der Mangel tatsächlich beseitigt wurde oder konkrete Beseitigungskosten nachgewiesen werden.
Baurecht und Immobilienrecht
Auch im Baurecht bestand erhebliche Praxis zu fiktiven Schadenabrechnungen. Hier ist – im Rahmen des Werkvertragsrechts – die fiktive Schadensabrechnung nicht mehr möglich; stattdessen sind Nachweise der tatsächlichen Mängelbeseitigung heranzuziehen.
Rechtspolitische Diskussion und Kritik
Missbrauchspotential
Fiktiver Schadensersatz ist umstritten, da er das Risiko birgt, dass der Geschädigte überkompensiert wird oder Schadensersatz als zusätzliche Einnahmequelle nutzt. Dies widerspricht dem schadensrechtlichen Ausgleichs- und Bereicherungsverbot.
Anpassungen durch den Gesetzgeber
Zunehmend wurden gesetzgeberische Eingriffe (etwa zu Mehrwertsteuer, Bagatellschäden, Nachweisführungen) vorgenommen, um den fiktiven Schadensersatz zu regulieren und ein Maß an Missbrauchsvermeidung zu erreichen.
Abgrenzung zu anderen Schadensformen
Konkreter vs. Fiktiver Schadensersatz
Der konkrete Schadensersatz gleicht den tatsächlich entstandenen, nachweisbaren Aufwand aus. Der fiktive Schadensersatz orientiert sich hingegen an hypothetischen (Schätz-)Kosten, ohne dass sie tatsächlich angefallen sind.
Naturalrestitution und Geldersatz
Während die Naturalrestitution auf Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands zielt, erlaubt der Geldersatz (§ 249 Abs. 2 S. 1 BGB) die fiktive Abrechnung. Die Grenzen verlaufen insbesondere bei Nachweis der tatsächlichen Reparaturmaßnahmen und bereits erfolgter Rechnungslegung.
Internationale Aspekte
Die Möglichkeit des fiktiven Schadensersatzes existiert in vergleichbaren Formen weder im gesamten europäischen noch im außereuropäischen Rechtsraum in gleicher Weise wie in Deutschland. Im anglo-amerikanischen Recht wird zumeist nur der tatsächlich entstandene Schaden ersetzt.
Fazit
Der fiktive Schadensersatz ist ein komplexes und dynamisches Rechtsinstitut des deutschen Zivilrechts, das dem Geschädigten grundsätzlich ein Wahlrecht zwischen Naturalrestitution und Geldersatz gewährt. Durch jüngere Rechtsprechung und gesetzgeberische Regelungen wird dieser Grundsatz jedoch zunehmend eingeschränkt, insbesondere im Werkvertragsrecht. Im Bereich der Sachschadensregulierung entfaltet das Institut weiterhin praktische Relevanz, unterliegt jedoch einer Vielzahl von Restriktionen, die dem Missbrauch vorbeugen sollen und die Erforderlichkeit und Höhe des Ersatzanspruchs stärker begrenzen.
Literatur
- Grüneberg, Bürgerliches Gesetzbuch, Kommentar, § 249 BGB
- Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, § 249 BGB
- BGH, Urteil vom 22.02.2018 – VII ZR 46/17
- Ricke, Die fiktive Schadensabrechnung im Wandel der Rechtsprechung, NJW 2018, 1652
Häufig gestellte Fragen
Wann kann fiktiver Schadensersatz im deutschen Zivilrecht verlangt werden?
Fiktiver Schadensersatz kann im deutschen Zivilrecht grundsätzlich im Rahmen von Sachschäden verlangt werden, insbesondere beim sogenannten Wirtschaftlichen Totalschaden oder bei der Beschädigung von Immobilien. Voraussetzung ist stets eine bestehende Schadensersatzpflicht gemäß §§ 249 ff. BGB. Nach aktueller Rechtsprechung kann der Geschädigte beim Sachschaden – zum Beispiel nach einem Verkehrsunfall am eigenen Fahrzeug – den zur Wiederherstellung erforderlichen Geldbetrag häufig auch dann verlangen, wenn er die Reparatur tatsächlich nicht durchführen lässt („fiktive Abrechnung“). Dabei wird die Höhe des Schadensersatzes regelmäßig durch ein Sachverständigengutachten oder Kostenvoranschlag bestimmt. Einschränkungen ergeben sich im Bereich der Werklohnforderungen (z.B. Einbau von Ersatzteilen), da in diesen Fällen nach der neueren BGH-Rechtsprechung (Urteil vom 22.02.2018 – VI ZR 57/17) keine „fiktive“ Abrechnung der Werklohnpositionen mehr zulässig ist, sondern auf die tatsächlich angefallenen Kosten abzustellen ist. Der Anspruch auf fiktiven Schadensersatz bleibt also insbesondere bei Sachschäden an zulässigen Positionen weiterhin bestehen, während bei reinen Werklohnforderungen eine Einschränkung gilt.
Welche Belege oder Nachweise sind für die fiktive Schadensabrechnung erforderlich?
Für die Geltendmachung fiktiven Schadensersatzes muss der Geschädigte den Schaden und den jeweiligen Reparaturaufwand konkret darlegen und gegebenenfalls beweisen. In der Regel geschieht dies durch Vorlage eines Gutachtens eines unabhängigen Sachverständigen oder eines qualifizierten Kostenvoranschlags einer Fachwerkstatt. Diese Unterlagen dienen als Grundlage für die Berechnung des zur Schadenbeseitigung erforderlichen Betrages gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB. Es ist jedoch nicht notwendig, die Reparatur tatsächlich durchführen oder entsprechende Rechnungen vorlegen zu müssen, sofern keine Restriktionen wie im Werklohnbereich bestehen. Der Nachweis darüber, dass eine vollständige und sachgerechte Wiederherstellung technisch möglich und wirtschaftlich geboten ist, sollte ebenfalls durch das Gutachten abgedeckt werden. Im Streitfall entscheidet das Gericht nach Maßgabe der vorgelegten Unterlagen und etwaiger weiterer Beweismittel.
Inwieweit sind Abzüge für Mehrwertsteuer und Eigenleistungen zu berücksichtigen?
Bei der fiktiven Schadensabrechnung darf gemäß § 249 Abs. 2 Satz 2 BGB die ausgewiesene Mehrwertsteuer nur dann ersetzt werden, wenn sie auch tatsächlich nachgewiesen wird. Das bedeutet, dass bei einer fiktiven Abrechnung stets nur der Nettobetrag, also der Reparaturbetrag ohne Umsatzsteuer, ersetzt wird. Die Mehrwertsteuer wird erst dann erstattet, wenn sie dem Geschädigten tatsächlich entstanden ist, zum Beispiel im Zuge einer tatsächlichen Reparatur, was mit einer entsprechenden Rechnung zu belegen ist. Weiterhin sind bei der fiktiven Abrechnung Eigenleistungen des Geschädigten zu berücksichtigen, d.h. der Geschädigte erhält grundsätzlich nur den Geldbetrag ersetzt, der erforderlich wäre, wenn ein Dritter (z.B. Fachwerkstatt) die Leistung erbracht hätte. Entgegengebrachte Eigenleistungen mindern den erstattungsfähigen Betrag jedoch nur bei tatsächlich durchgeführter Instandsetzung, während bei rein fiktiver Schadensberechnung auf die professionelle Fremdreparatur abgestellt wird.
Welche Rolle spielen Sachverständigengutachten bei der fiktiven Schadensabrechnung?
Das Sachverständigengutachten ist das zentrale Beweismittel zur Bestimmung des erforderlichen Wiederherstellungsaufwands bei einer fiktiven Schadensabrechnung. Es dient dazu, die technischen und wirtschaftlichen Parameter der Schadensbeseitigung realistisch und nachvollziehbar zu beziffern. Die Gutachten sollten die für die Schadensbehebung notwendigen Arbeitsschritte aufführen, Ersatzteile, Lohnkosten (ohne Mehrwertsteuer), Lackierarbeiten und sonstige Maßnahmen detailliert angeben und deren Angemessenheit erläutern. Die Versicherung des Schädigers kann das Gutachten prüfen und, falls Mängel vorliegen, ein eigenes Gegengutachten in Auftrag geben. Bei erheblichen Abweichungen muss das Gericht im Streitfalle über die richtige Schadenshöhe entscheiden. Geringfügige Rechen- oder Bewertungsdifferenzen werden regelmäßig im Rahmen der tatrichterlichen Würdigung ausgeglichen.
Welche Einschränkungen und gesetzlichen Änderungen gibt es aktuell im Bereich fiktiver Schadensersatzansprüche?
Eine wesentliche Einschränkung besteht durch die höchstrichterliche Rechtsprechung, nach der insbesondere im Werkvertragsrecht (etwa bei Neubau- oder Sanierungsleistungen) fiktive Schadensabrechnungen nur noch eingeschränkt möglich sind; für Werklohnansprüche ist nun grundsätzlich die tatsächliche Durchführung der Arbeiten erforderlich. Darüber hinaus gibt es gesetzliche Regelungen, die besonders im Versicherungsrecht greifen, z.B. in Kaskoversicherungen, und die eine fiktive Abrechnung explizit ausschließen. In der Praxis betrifft das häufig Sachschäden im Kfz-Bereich durch Haftpflichtversicherer, während der Anspruch gegen eine Kaskoversicherung vertraglich ausgeschlossen sein kann. Die Rechtsprechung entwickelt sich in diesem Bereich fortlaufend weiter, und aktuelle Urteile können zu weiteren Präzisierungen oder Einschränkungen führen.
Können weitere Schadenspositionen (z.B. Nutzungsausfall, Gutachterkosten, Mietwagen) im Rahmen der fiktiven Schadensabrechnung geltend gemacht werden?
Auch im Rahmen der fiktiven Abrechnung sind grundsätzlich weitere Schäden neben dem eigentlichen Sachschaden erstattungsfähig, sofern sie in adäquatem Zusammenhang mit dem Schadenereignis stehen. Hierzu zählen insbesondere Nutzungsausfallentschädigung (wenn das geschädigte Fahrzeug unbenutzbar ist), erforderliche Mietwagenkosten, sowie die Kosten für das Sachverständigengutachten und gegebenenfalls Reparaturkostenpauschalen. Für diese Nebenpositionen zählt allein, dass sie objektiv erforderlich waren und nachgewiesen werden können – die tatsächliche Durchführung der Reparatur ist hierfür keine Voraussetzung, solange die Nutzungsminderung oder die Beauftragung eines Sachverständigen plausibel dargelegt werden kann.
Wie wird die wirtschaftliche Zumutbarkeit bei fiktivem Schadensersatz bewertet?
Die Zumutbarkeit der Schadensbeseitigung spielt insbesondere dann eine Rolle, wenn die voraussichtlichen Reparaturkosten den Wiederbeschaffungswert des beschädigten Gegenstands übersteigen. Im Bereich des Kfz-Schadenrechts ist die sogenannte „130%-Grenze“ einschlägig: Bis zu einem Reparaturaufwand von 130% des Wiederbeschaffungswerts ist eine Reparatur noch als wirtschaftlich anzusehen, sofern der Geschädigte nachweist, dass er sein Fahrzeug weiter nutzt oder repariert. Fiktive Abrechnung ist dann nur bis zum Wiederbeschaffungsaufwand möglich. Wird der Schaden tatsächlich nicht behoben, so steht dem Geschädigten lediglich der Wiederbeschaffungswert abzüglich des Restwertes zu. Diese Grenze soll eine wirtschaftlich sinnlose Schadensbeseitigung verhindern und dient dem Schutz des Schädigers vor unverhältnismäßigen Ersatzleistungen.