Europäische Erbrechtsverordnung – Begriff, Zweck und Bedeutung
Die Europäische Erbrechtsverordnung ist ein unionsweit geltendes Regelwerk für grenzüberschreitende Erbfälle. Sie legt fest, welches nationale Erbrecht anwendbar ist, welche Gerichte zuständig sind, wie Entscheidungen und öffentliche Urkunden anerkannt werden und welche Nachweise über die Erbenstellung in anderen Mitgliedstaaten wirken. Ziel ist es, internationale Nachlässe in der Europäischen Union rechtssicher, vorhersehbar und einheitlich zu gestalten.
Zweck und Anwendungsbereich
Die Verordnung erfasst zivilrechtliche Fragen der Rechtsnachfolge von Todes wegen. Sie richtet sich an Fälle mit Auslandsbezug, zum Beispiel wenn die verstorbene Person Vermögen in verschiedenen Staaten hatte, in einem anderen Land lebte oder mehrere Staatsangehörigkeiten besaß.
- Sie regelt die internationale Zuständigkeit der Gerichte in der EU.
- Sie bestimmt das anwendbare materielle Erbrecht für den gesamten Nachlass.
- Sie erleichtert die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Verwendung öffentlicher Urkunden.
- Sie führt das Europäische Nachlasszeugnis als einheitlichen Nachweis über Erbenstellung, Vermächtnisrechte und Verwaltungsbefugnisse ein.
Zeitlicher Geltungsbereich
Die Verordnung gilt für Erbfälle von Personen, die seit dem 17. August 2015 verstorben sind. Für frühere Todesfälle gelten die zuvor maßgeblichen nationalen oder völkerrechtlichen Regeln.
Räumlicher Geltungsbereich
Sie gilt in den meisten EU-Mitgliedstaaten. Nicht beteiligt sind derzeit Dänemark und Irland. Verbindungen zu Staaten außerhalb der EU bleiben erfasst, da die Verordnung in den teilnehmenden Mitgliedstaaten auch dann angewendet wird, wenn das anzuwendende Recht eines Drittstaats ist oder Vermögen dort belegen ist.
Zuständigkeit der Gerichte
Im Grundsatz sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem die verstorbene Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Die Zuständigkeit erfasst den gesamten Nachlass, unabhängig davon, wo sich einzelne Nachlassgegenstände befinden.
Verlagerung und Abstimmung von Verfahren
Die Verordnung enthält Mechanismen zur Vermeidung paralleler Verfahren in verschiedenen Staaten. In eng umgrenzten Situationen kann ein Gericht ein Verfahren an ein anderes, sachnäheres Gericht verweisen. In Ausnahmekonstellationen ist zudem eine Notzuständigkeit vorgesehen, wenn andernorts ein Verfahren nicht möglich ist.
Anwendbares Erbrecht
Grundsatz: Gewöhnlicher Aufenthalt
Das anwendbare Erbrecht knüpft grundsätzlich an den gewöhnlichen Aufenthalt der verstorbenen Person im Zeitpunkt des Todes an. Der gewöhnliche Aufenthalt ist eine tatsächliche, auf Dauer angelegte Lebensmitte und ergibt sich aus einer Gesamtwürdigung der Lebensumstände. Er ist nicht zwingend identisch mit Meldeadresse, Staatsangehörigkeit oder Steuerwohnsitz.
Rechtswahl (Wahl des anwendbaren Rechts)
Eine Person kann festlegen, dass auf ihren gesamten Nachlass das Recht des Staates ihrer Staatsangehörigkeit angewendet werden soll. Bei mehreren Staatsangehörigkeiten kann aus den jeweiligen Staatsangehörigkeitsrechten gewählt werden. Die Wahl erfolgt in einer Verfügung von Todes wegen, etwa in einem Testament oder einem Erbvertrag.
Universelle Anwendung und Rückverweisung
Die Verordnung gilt universell: Sie wendet auch das Recht eines Drittstaats an, wenn dieses nach den Regeln der Verordnung maßgeblich ist. Unter bestimmten Voraussetzungen berücksichtigt sie Rückverweisungen des internationalen Privatrechts eines Drittstaats, um eine einheitliche Nachlassabwicklung zu fördern.
Umfang des anwendbaren Rechts
Das ermittelte Erbrecht regelt die Rechtsnachfolge als Ganzes. Dazu gehören insbesondere:
- Bestimmung von Erben, Vermächtnisnehmern und deren Quoten
- Voraussetzungen und Wirkungen von Testamenten, gemeinschaftlichen Verfügungen und Erbverträgen
- Annahme und Ausschlagung der Erbschaft sowie Haftung für Nachlassverbindlichkeiten
- Verwaltung und Auseinandersetzung des Nachlasses, einschließlich Befugnissen von Nachlassabwicklern, soweit das maßgebliche Recht solche Institute kennt
- Übergang, Umwandlung und Anpassung dinglicher Rechte im internationalen Kontext
Abgrenzungen (nicht erfasst)
Nicht von der Verordnung erfasst sind insbesondere:
- Steuerrechtliche Fragen der Erbschaft
- Güterstände von Ehegatten und eingetragenen Lebenspartnern (gesondert geregelt)
- Unterhaltsansprüche, Gesellschafts- und vereinsrechtliche Fragen über die Mitgliedschaftsübertragung
- Formen des Sachenrechts als solche; allerdings sieht die Verordnung eine Anpassung vor, wenn fremde dingliche Rechte in das System des Belegenheitsstaats übertragen werden
- Die Errichtung von Trusts als solche; erbrechtliche Wirkungen können jedoch unter das anwendbare Erbrecht fallen
Form und Wirksamkeit letztwilliger Verfügungen
Die Verordnung enthält Regeln, die die materielle Wirksamkeit und die Form von letztwilligen Verfügungen und Erbverträgen in grenzüberschreitenden Konstellationen absichern. Sie erleichtert die Anerkennung solcher Verfügungen, wenn sie an anerkannten internationalen Anknüpfungen ausgerichtet sind, etwa an gewöhnlichem Aufenthalt oder Staatsangehörigkeit der verfügenden Person.
Einheitlichkeit der Rechtsnachfolge und Nachlassspaltung
Grundsatz ist die Einheitlichkeit: Ein einziges Erbrecht gilt für den gesamten Nachlass. Dies reduziert Nachlassspaltungen, bei denen für unterschiedliche Vermögensgegenstände verschiedene Rechte gelten würden. Gleichwohl kann die praktische Umsetzung je nach Art der Vermögensrechte und den Registrierungsanforderungen des Belegenheitsstaats variieren; hierfür sieht die Verordnung Anpassungsmechanismen vor.
Europäisches Nachlasszeugnis (ENZ)
Zweck und Wirkung
Das Europäische Nachlasszeugnis dient als unionsweit einheitlicher Nachweis über die Rechtsstellung als Erbe, Vermächtnisnehmer oder Nachlassverwalter. Es erleichtert insbesondere die Verfügung über Nachlassgegenstände in anderen Mitgliedstaaten, die Eintragung in öffentliche Register sowie die Kommunikation mit Banken und Behörden.
Ausstellung, Inhalt und Geltungsdauer
Das Zeugnis wird von den zuständigen Stellen im teilnehmenden Mitgliedstaat ausgestellt und enthält wesentliche Angaben zur Person der Erben, zu Quoten und Befugnissen. Es entfaltet Wirkung in allen teilnehmenden Mitgliedstaaten, ohne dass besondere Anerkennungsverfahren nötig sind. Üblicherweise werden beglaubigte Abschriften mit befristeter Gültigkeit verwendet.
Abgrenzung zum nationalen Erbschein
Der nationale Erbschein bleibt für rein innerstaatliche Fälle bedeutsam. Das Europäische Nachlasszeugnis ist auf grenzüberschreitende Sachverhalte zugeschnitten und wirkt unionsweit einheitlich, ohne nationale Nachweise zu ersetzen, soweit diese im rein nationalen Kontext benötigt werden.
Anerkennung, Vollstreckung und öffentliche Urkunden
Entscheidungen aus einem teilnehmenden Mitgliedstaat werden in den anderen teilnehmenden Staaten grundsätzlich automatisch anerkannt. Für die Vollstreckung sind vereinfachte Verfahren vorgesehen; eine gesonderte Zulassung ist in der Regel nicht erforderlich. Öffentliche Urkunden (z. B. notarielle Erbverträge, Testamente mit öffentlicher Beurkundung) entfalten Beweiskraft, wobei ihre Wirkungen in anderen Staaten entsprechend den unionsrechtlichen Vorgaben berücksichtigt werden. Eine Versagung ist nur aus eng begrenzten Gründen möglich, etwa bei schwerwiegenden Verstößen gegen grundlegende Rechtsgrundsätze des Anerkennungsstaats.
Verhältnis zu nationalem Recht und anderen Regelwerken
Die Verordnung vereinheitlicht keine innerstaatlichen Erbrechtsordnungen. Sie koordiniert, welches Recht zur Anwendung kommt und wie grenzüberschreitende Verfahren ablaufen. Nationale Verfahrensvorschriften, Registrierungsanforderungen und Kostenregelungen bleiben unberührt, soweit sie die unionsrechtlichen Wirkungen nicht beeinträchtigen. Mit Regelungen zum Güterrecht von Ehegatten und Partnern bestehen eigenständige, aber aufeinander abgestimmte Instrumente.
Häufig gestellte Fragen zur Europäischen Erbrechtsverordnung
Was regelt die Europäische Erbrechtsverordnung im Kern?
Sie regelt, welches nationale Erbrecht auf einen internationalen Nachlass anzuwenden ist, welche Gerichte in der EU zuständig sind, wie Entscheidungen und öffentliche Urkunden anerkannt werden und wie das Europäische Nachlasszeugnis als einheitlicher Erbnachweis wirkt.
Auf welche Erbfälle findet die Verordnung Anwendung?
Sie gilt für Todesfälle ab dem 17. August 2015 mit Auslandsbezug, insbesondere wenn gewöhnlicher Aufenthalt, Vermögensgegenstände oder Beteiligte in verschiedenen Staaten liegen. Sie wird in den teilnehmenden EU-Staaten angewandt, auch wenn das anzuwendende Recht eines Drittstaats ist.
Wie wird der gewöhnliche Aufenthalt bestimmt?
Der gewöhnliche Aufenthalt ist die auf Dauer angelegte tatsächliche Lebensmitte der verstorbenen Person. Maßgeblich ist eine Gesamtbetrachtung der Lebensumstände, etwa Dauer und Stabilität des Aufenthalts sowie persönliche und berufliche Bindungen, nicht nur formale Meldedaten.
Kann die verstorbene Person das anwendbare Erbrecht wählen?
Ja. Es kann die Anwendung des Rechts des Staates der eigenen Staatsangehörigkeit bestimmt werden; bei mehreren Staatsangehörigkeiten kann aus diesen gewählt werden. Die Rechtswahl erfolgt in einer Verfügung von Todes wegen und gilt grundsätzlich für den gesamten Nachlass.
Welche Rolle spielt das Europäische Nachlasszeugnis?
Das Europäische Nachlasszeugnis dient als unionsweit anerkanntes Dokument, um Erbenstellung, Vermächtnisrechte oder Verwaltungsbefugnisse nachzuweisen. Es erleichtert insbesondere die Eintragung von Rechten in Registern und den Zugriff auf Nachlasswerte in anderen Mitgliedstaaten.
Werden Entscheidungen und Urkunden aus anderen EU-Staaten anerkannt?
Entscheidungen werden grundsätzlich automatisch anerkannt und sind mit vereinfachten Verfahren vollstreckbar. Öffentliche Urkunden entfalten Beweiskraft in anderen Mitgliedstaaten. Eine Ablehnung ist nur aus eng begrenzten Gründen möglich, etwa bei Verstößen gegen grundlegende Rechtsgrundsätze.
Welche Bereiche sind von der Verordnung ausgenommen?
Ausgenommen sind insbesondere steuerliche Fragen der Erbschaft, güterrechtliche Verhältnisse von Ehegatten und eingetragenen Partnerschaften, Unterhalt, Gesellschafts- und vereinsrechtliche Mitgliedschaften sowie die Typen des Sachenrechts; für die Übertragung fremder dinglicher Rechte ist eine Anpassung vorgesehen.