Erbrechtsverordnung – Begriff und Bedeutung
Die Erbrechtsverordnung ist eine Regelung der Europäischen Union, die die internationale Zuständigkeit, das anwendbare Recht und die Anerkennung von Entscheidungen in Erbsachen mit Auslandsbezug vereinheitlicht. Sie soll sicherstellen, dass ein grenzüberschreitender Nachlass möglichst nach einem einheitlichen Recht abgewickelt wird und Entscheidungen in teilnehmenden Staaten gegenseitig anerkannt werden. Die Verordnung gilt in den meisten Mitgliedstaaten der EU; einzelne Staaten nehmen nicht teil. Sie erfasst Erbfälle mit Todesdatum seit Mitte August 2015.
Ausgangspunkt und Zielsetzung
Viele Nachlässe betreffen heute Vermögen, Angehörige und Wohnsitze in mehreren Staaten. Unterschiedliche nationale Regeln konnten früher zu parallelen Verfahren, widersprüchlichen Entscheidungen und Rechtsunsicherheit führen. Die Erbrechtsverordnung setzt hier an, indem sie einen gemeinsamen Rahmen für das internationale Erbrecht innerhalb der EU schafft.
Anwendungsbereich nach Ort, Zeit und Sachgebiet
Die Verordnung gilt für Erbfälle mit grenzüberschreitendem Bezug innerhalb der teilnehmenden EU-Staaten, wenn die betroffene Person nach dem maßgeblichen Stichtag verstorben ist. Sie regelt erbrechtliche Fragen wie Erbfolge, Vermächtnisse, Auslegung und Wirksamkeit von Verfügungen von Todes wegen, Annahme und Ausschlagung, sowie die Befugnisse von Erben und Nachlassvertretern. Nicht erfasst sind insbesondere steuerliche Fragen, güterrechtliche Themen, der Status von Personen oder gesellschaftsrechtliche Punkte.
Zentrale Grundsätze
Gewöhnlicher Aufenthalt als Anknüpfung
Grundsätzlich richtet sich die gesamte Rechtsnachfolge von Todes wegen nach dem Recht des Staates, in dem die verstorbene Person zum Zeitpunkt des Todes ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Dieser Anknüpfungspunkt soll die tatsächliche Lebenswirklichkeit widerspiegeln und die Nachlassabwicklung vereinfachen.
Rechtswahlmöglichkeiten
Unter bestimmten Voraussetzungen kann zu Lebzeiten das Recht eines Staates gewählt werden, dessen Staatsangehörigkeit die betroffene Person besitzt. Diese Rechtswahl erfasst in der Regel den gesamten Nachlass und schafft Planbarkeit für grenzüberschreitende Konstellationen.
Einheitliche Nachlassabwicklung
Die Erbrechtsverordnung strebt die Einheitlichkeit der Nachlassabwicklung an: Üblicherweise gilt ein einziges Recht für den gesamten Nachlass, unabhängig davon, in welchen Staaten sich einzelne Vermögensgegenstände befinden. Dadurch sollen Doppelzuständigkeiten und widersprüchliche Ergebnisse vermieden werden.
Universelle Anwendung und Gleichbehandlung
Die Verordnung ist grundsätzlich universell angelegt: Sie verweist bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts nicht nur auf Rechtsordnungen der EU, sondern auch auf das Recht von Drittstaaten. Zugleich werden Entscheidungen und öffentliche Urkunden aus teilnehmenden Staaten unionsweit grundsätzlich anerkannt.
Zuständigkeit und Verfahren
Internationale Zuständigkeit
Für Nachlasssachen sind im Regelfall die Gerichte (oder zuständigen Stellen) des Staates zuständig, in dem die verstorbene Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte. In bestimmten Konstellationen kann eine Zuständigkeitsvereinbarung möglich sein, etwa im Zusammenhang mit einer zulässigen Rechtswahl. Ergänzend sieht die Verordnung besondere und subsidiäre Zuständigkeiten vor, um effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten.
Anerkennung und Vollstreckung
Entscheidungen in Erbsachen, die in einem teilnehmenden Staat ergangen sind, werden in anderen teilnehmenden Staaten grundsätzlich anerkannt und können dort unter vereinfachten Voraussetzungen vollstreckt werden. Gründe für die Versagung der Anerkennung sind eng begrenzt und dienen dem Schutz fundamentaler Rechtsgrundsätze.
Öffentliche Urkunden und Gerichtsvergleiche
Notarielle Urkunden und vergleichbare öffentliche Urkunden, die in einem teilnehmenden Staat ausgestellt wurden, entfalten in anderen teilnehmenden Staaten Beweiskraft, soweit sie dort inhaltlich vergleichbar sind. Auch Gerichtsvergleiche werden unter erleichterten Bedingungen anerkannt.
Nachlassdokumente und Register
Europäisches Nachlasszeugnis
Die Verordnung führt ein einheitliches Nachweisdokument ein: das Europäische Nachlasszeugnis. Es dient als Beleg der Erbenstellung, von Vermächtnisrechten oder der Befugnisse eines Testamentsvollstreckers oder Nachlassverwalters. Es wirkt in allen teilnehmenden Staaten, ohne dass eine besondere Anerkennung erforderlich ist, und erleichtert damit den Zugriff auf Nachlasswerte im Ausland. Nationale Erbnachweise bestehen daneben fort.
Wechselwirkung mit nationalen Registern
Eintragungen in Grundbücher oder andere Register erfolgen weiterhin nach den formellen Anforderungen des Staates, in dem das Register geführt wird. Das anzuwendende Erbrecht wird jedoch durch die Erbrechtsverordnung bestimmt, sodass registerrechtliche Schritte auf einer europaweit abgestimmten Grundlage erfolgen können.
Materielle und formelle Fragen
Form von Testamenten und Erbverträgen
Die Verordnung regelt die Zulässigkeit, materielle Wirksamkeit und Auslegung von Verfügungen von Todes wegen nach dem jeweils anwendbaren Erbrecht. Fragen der äußeren Form können daneben durch andere internationale Regelungen oder nationales Recht beeinflusst sein. Ziel ist, die Wirksamkeit grenzüberschreitender Verfügungen zu erleichtern.
Erbfolge ohne Verfügung
Liegt keine wirksame Verfügung von Todes wegen vor, richtet sich die gesetzliche Erbfolge nach dem gemäß Verordnung bestimmten Erbrecht. Dieses entscheidet über Erbquoten, Pflichtteilsrechte und die Stellung einzelner Angehöriger.
Annahme, Ausschlagung und Haftung für Nachlassverbindlichkeiten
Das anwendbare Erbrecht bestimmt, wie Erben ihre Rechte annehmen oder ausschlagen, welche Fristen gelten und in welchem Umfang sie für Nachlassverbindlichkeiten einstehen. Ebenso regelt es die Befugnisse von Erben, Testamentsvollstreckern und Nachlassverwaltern.
Abgrenzung und Ausnahmen
Ausgenommene Bereiche
Nicht vom Anwendungsbereich erfasst sind insbesondere:
- Steuern, Abgaben und verwaltungsrechtliche Angelegenheiten,
- Vermögensauseinandersetzung zwischen Ehegatten oder Partnern (Güterrecht),
- der persönliche Status sowie Fragen der Rechts- und Geschäftsfähigkeit außerhalb des erbrechtlichen Kontextes,
- gesellschaftsrechtliche Beteiligungen, soweit deren Übertragbarkeit durch das Gesellschaftsstatut geregelt ist,
- Treuhandstrukturen, sofern sie gesonderten Regelungen unterliegen.
Ordre public (öffentliche Ordnung)
In seltenen Ausnahmefällen kann die Anwendung oder Anerkennung einer ausländischen Regelung oder Entscheidung abgelehnt werden, wenn sie mit fundamentalen Grundsätzen des aufnehmenden Staates unvereinbar wäre. Diese Klausel ist eng auszulegen und dient dem Schutz elementarer Werte.
Verweisungen und Vorfragen
Bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts können Konstellationen auftreten, in denen das internationale Privatrecht eines Drittstaats auf ein anderes Recht verweist. Die Verordnung enthält dazu Vorgaben, um Kettenverweisungen zu ordnen und eine sachgerechte Lösung zu ermöglichen.
Zeitlicher Geltungsbeginn und Übergang
Stichtag und Übergangsfälle
Die Verordnung gilt für Erbfälle mit Todesdatum ab dem maßgeblichen Stichtag im August 2015. Für zuvor errichtete Verfügungen von Todes wegen enthält sie Übergangsregelungen, damit bestehende Gestaltungen nach Möglichkeit Bestand haben und planbar bleiben.
Bedeutung in der Praxis
Typische grenzüberschreitende Konstellationen
Typische Fälle sind Nachlässe mit Immobilien oder Konten in verschiedenen Staaten, Personen mit Wohnsitzwechsel ins Ausland oder Ehen und Partnerschaften mit unterschiedlicher Staatsangehörigkeit. Die Verordnung sorgt in solchen Situationen für Klarheit, welches Recht gilt und welches Gericht zuständig ist.
Vorteile und Grenzen
Die Verordnung erleichtert die einheitliche Behandlung eines Nachlasses, stärkt die Vorhersehbarkeit und senkt die Hürden bei der Anerkennung von Entscheidungen und Urkunden. Ihre Reichweite ist jedoch begrenzt, etwa durch die ausgenommenen Rechtsbereiche oder die Nichtteilnahme einzelner Staaten.
Häufig gestellte Fragen
Was ist die Erbrechtsverordnung?
Die Erbrechtsverordnung ist eine EU-Regelung, die bei Erbfällen mit Auslandsbezug festlegt, welches Recht auf den gesamten Nachlass anzuwenden ist, welche Behörden zuständig sind und wie Entscheidungen und Urkunden in anderen teilnehmenden Staaten anerkannt werden.
In welchen Staaten gilt die Erbrechtsverordnung?
Sie gilt in den meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Einzelne Staaten nehmen nicht teil. Entscheidungen und Nachweise aus teilnehmenden Staaten werden dort grenzüberschreitend wirksam.
Welches Recht gilt nach der Erbrechtsverordnung?
Grundsätzlich gilt das Recht des Staates, in dem die verstorbene Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Unter bestimmten Voraussetzungen kann zu Lebzeiten das Recht des eigenen Staatsangehörigkeitsstaates gewählt werden.
Kann das anwendbare Erbrecht gewählt werden?
Ja, es besteht die Möglichkeit, das Recht eines Staatsangehörigkeitsstaates zu bestimmen. Diese Rechtswahl erfasst in der Regel den gesamten Nachlass und erhöht die Vorhersehbarkeit in grenzüberschreitenden Fällen.
Welche Gerichte sind zuständig?
Im Regelfall sind die Gerichte oder zuständigen Stellen des Staates zuständig, in dem die verstorbene Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte. In bestimmten Konstellationen sind Zuständigkeitsvereinbarungen oder besondere Zuständigkeiten vorgesehen.
Wozu dient das Europäische Nachlasszeugnis?
Es ist ein unionsweit wirksames Nachweisdokument, das die Stellung von Erben, Vermächtnisnehmern oder Nachlassvertretern bestätigt und den Zugriff auf Nachlasswerte in teilnehmenden Staaten erleichtert. Nationale Nachweise bleiben daneben bestehen.
Was regelt die Erbrechtsverordnung nicht?
Sie erfasst keine Fragen der Besteuerung, keine güterrechtlichen Themen zwischen Ehegatten oder Partnern, keine allgemeinen Statusfragen, keine gesellschaftsrechtlichen Besonderheiten und keine eigenständigen Treuhandregelungen.