Legal Lexikon

Ehrengerichtsbarkeit


Begriff und Wesen der Ehrengerichtsbarkeit

Die Ehrengerichtsbarkeit ist ein eigenständiges außergerichtliches System zur Überwachung und Durchsetzung berufsständischer Ehrenpflichten innerhalb bestimmter berufsständisch oder berufsrechtlich organisierter Gruppen. Sie verfolgt das Ziel, Verstöße gegen Standesregeln, berufliche Pflichten und die Ehre einer Berufsgruppe zu ahnden und dadurch deren Integrität, das Ansehen sowie die Funktionsfähigkeit der gesamten Berufsgruppe zu wahren.

Typische Anwendungsfelder finden sich traditionell bei Berufsständen mit erhöhten ethischen und standesrechtlichen Anforderungen, insbesondere bei rechts- und heilkundlichen Berufen sowie einzelnen freien Berufen.


Rechtsgrundlagen und gesetzliche Verankerung

Allgemeine Regelungen

Die rechtliche Grundlage der Ehrengerichtsbarkeit ist regelmäßig in besonderen Gesetzen, Berufssatzungen oder Kammerordnungen verankert. Diese Normen regeln das Verfahren, die Zusammensetzung der jeweiligen Ehren- oder Disziplinargerichte, die Arten der zu ahndenden Pflichtverstöße sowie mögliche Sanktionen.

Beispiele gesetzlicher Verankerung

  • Bei der ärztlichen Selbstverwaltung erfolgt die Ehrengerichtsbarkeit nach den jeweiligen Heilberufs- oder Kammergesetzen der Bundesländer.
  • Im Bereich der Rechtsberatung findet sich entsprechende Regelungen in diversen Kammergesetzen sowie der jeweiligen Berufsordnungen.
  • Für Notare ist die Ehrengerichtsbarkeit insbesondere im Beurkundungsgesetz (BeurkG) und in den Landesgesetzen zur Notaraufsicht geregelt.
  • Im öffentlichen Dienst greifen disziplinarrechtliche Vorschriften (vgl. Bundesdisziplinargesetz, Landesdisziplinargesetze), die Ehrengerichtsbarkeit insbesondere für Beamte, Soldaten oder Richter ausgestalten.

Aufbau und Organisation der Ehren- bzw. Disziplinargerichte

Zusammensetzung

Ehrengerichte oder Ehrenkammern sind regelmäßig mit Mitgliedern der jeweiligen Berufsgruppe besetzt, um die notwendige Fachkenntnis und Urteilskraft bezüglich der standesrechtlichen Vorschriften sicherzustellen. In der Regel besteht ein solches Gericht aus Vorsitzenden sowie mehreren Beisitzern; häufig sind diese ehrenamtlich tätig und werden von den Gremien der Verbände, Kammern oder Aufsichtsbehörden bestellt.

Unabhängigkeit und Verfahrensgarantien

Trotz institutioneller Eingliederung in berufsständische Organisationen genießen Ehren- oder Disziplinargerichte eine hohe Unabhängigkeit bei der Entscheidungsfindung. Das Verfahren folgt dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs und beinhaltet zumeist weitere Verfahrensgarantien, die auch im gerichtlichen Disziplinarrecht Anwendung finden, wie etwa die Verpflichtung zur Anhörung der betroffenen Person, Akteneinsicht und das Recht auf Verteidigung.


Anwendungsbereich und Zuständigkeit

Standesrechtliche Zuständigkeit

Die Ehrengerichtsbarkeit ist ausschließlich für Verstöße gegen Standespflichten und Ehrvorschriften zuständig. Typische Tatbestände sind etwa:

  • Die Verletzung von Verschwiegenheitspflichten
  • Unlauteres Verhalten gegenüber Berufskollegen oder Dritten
  • Verstöße gegen die Unabhängigkeit bei der Berufsausübung
  • Unehrenhaftes oder das Ansehen des Standes beeinträchtigendes Verhalten

Abgrenzung zum staatlichen Straf- und Zivilrecht

Die Ehrengerichtsbarkeit ist strikt vom staatlichen Straf- und Zivilrecht zu trennen. Sie stellt kein Strafgericht im staatsrechtlichen Sinne dar, sondern urteilt ausschließlich über berufsrechtliche Verstöße. Ein Ehrengerichtsverfahren kann allerdings parallel zu einem strafrechtlichen oder zivilrechtlichen Verfahren stattfinden, wenn ein Sachverhalt sowohl gegen strafrechtliche Vorschriften als auch gegen Berufspflichten verstößt.


Ablauf des Ehrengerichtsverfahrens

Verfahrenseinleitung und Durchführung

Ein Ehrengerichtsverfahren kann durch Anzeige, von Amts wegen oder auf Antrag der zuständigen Standesvertretung eingeleitet werden. Nach der Vorprüfung wird in einer Hauptverhandlung die Sachlage erörtert, Zeugen vernommen und eine Entscheidung nach Maßgabe der berufsständischen Vorschriften getroffen.

Verfahrensrechte der Beteiligten

Die betroffene Person hat Anspruch auf rechtliches Gehör, das Recht auf Verteidigung und in der Regel auch auf Beiziehung eines rechtskundigen Beistands. Das Verfahren ist grundsätzlich nicht öffentlich, um den Schutz der beteiligten Personen und der Berufsgruppe zu gewährleisten.

Mögliche Sanktionen

Sanktionsmöglichkeiten reichen von einfachen Rügen, Verweisen oder Geldbußen bis hin zum zeitweiligen oder dauerhaften Ausschluss aus der Berufsgruppe, was einem Berufsverbot gleichkommt. Die konkrete Maßnahme richtet sich nach Schwere und Unrechtsgehalt des Verstoßes.


Rechtsmittel und gerichtliche Kontrolle

Beschwerde- und Berufungsverfahren

Gegen Entscheidungen der Ehrengerichte ist regelmäßig die Anrufung eines übergeordneten Ehren- oder Disziplinargerichts möglich. Dessen Entscheidung ist in einigen Rechtsgebieten abschließend, in anderen steht nach Erschöpfung des Instanzenzuges der Weg zu staatlichen Gerichten, etwa im Verwaltungs- oder Berufsgerichtsbarkeit, offen.

Kontrollmechanismen durch staatliche Gerichte

Staatliche Gerichte prüfen die Einhaltung verfahrensrechtlicher Mindeststandards und materiell-rechtlicher Vorschriften, insbesondere im Hinblick auf Grundrechte der betroffenen Person (z.B. Berufsfreiheit, rechtliches Gehör).


Bedeutung und Kritik der Ehrengerichtsbarkeit

Die Ehrengerichtsbarkeit erfüllt eine zentrale Funktion für Selbstreinigung, Selbstkontrolle und Erhalt des öffentlichen Vertrauens in bestimmte Berufsgruppen. Kritisiert werden gelegentlich mangelnde Transparenz des Verfahrens, mögliche Befangenheit durch Standeskollegen als Richter sowie divergierende Maßstäbe im Vergleich zur staatlichen Gerichtsbarkeit. Dennoch ist das Ehrengerichtsverfahren anerkanntes und bewährtes Instrument der Berufsethik und Standesaufsicht in Deutschland sowie vergleichbaren Rechtsordnungen.


Literatur und weiterführende Informationen

  • Walter H. Rechberger, “Berufsrecht und Ehrengerichtsbarkeit”, 2. Auflage, 2018
  • Ludwig H. Raiser, “Die standesrechtliche Ehrengerichtsbarkeit”, in: Handbuch Standesrecht, 2016
  • §§ 92 ff. Bundesnotarordnung (BNotO)

Heilberufsgesetze der Bundesländer – Übersichten und Kommentierungen

Dieser Lexikonartikel bietet einen systematischen, umfassenden und rechtlich fundierten Einblick in Struktur, Funktion und Verfahren der Ehrengerichtsbarkeit im deutschen Rechtssystem.

Häufig gestellte Fragen

Welche rechtlichen Grundlagen regeln die Ehrengerichtsbarkeit in Deutschland?

Die rechtlichen Grundlagen der Ehrengerichtsbarkeit ergeben sich überwiegend aus spezialgesetzlichen Vorschriften, die sich nach den jeweiligen Berufsgruppen richten. Besonders relevant sind die Berufsgesetze der freien Berufe, wie das Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) für Rechtsanwälte, die Patentanwaltsordnung (PAO) für Patentanwälte, das Steuerberatungsgesetz für Steuerberater sowie entsprechende Landesärzte- und Landestierärztekammergesetze für Ärzte und Tierärzte. Diese Normen enthalten detaillierte Regelungen zu Zusammensetzung, Zuständigkeit, Verfahrensgang, Entscheidungsfindung sowie den möglichen Sanktionen der Ehrengerichte. Ergänzend finden sich auch in den Satzungen der jeweiligen berufsständischen Kammern Vorschriften zur Ehrengerichtsbarkeit. Verfassungsrechtlich ist die Existenz von Ehrengerichten durch die Garantie der Berufsgerichtsbarkeit im Grundgesetz (Art. 19 Abs. 4, Art. 12 Abs. 1 GG) sowie der dem Rechtsstaatsprinzip zuzuordnenden Verfahrensrechte gedeckt. Das Verfahrensrecht ist zudem durch die Wahrung der Grundsätze der Öffentlichkeit, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sowie durch Rechtsschutzgarantien, wie der Möglichkeit der Überprüfung durch die ordentlichen Gerichte, charakterisiert.

Wie ist das Verfahren vor einem Ehrengericht strukturiert?

Das Verfahren vor einem Ehrengericht folgt zumeist einem mehrstufigen, formell durch Gesetz oder Satzung geregelten Ablauf. Am Anfang steht in der Regel die Einleitung des Verfahrens, häufig durch eine Anzeige oder Mitteilung einer Pflichtverletzung gegenüber der Kammer oder der Aufsichtsbehörde. Sodann prüft das zuständige Gremium das Vorliegen eines konkreten Anfangsverdachts einer berufsrechtlichen Verfehlung. Nach der vorläufigen Prüfung kann das Verfahren entweder eingestellt oder förmlich eröffnet werden. Im Eröffnungsfall erfolgt die Zustellung einer schriftlichen Mitteilung an den Betroffenen, der Gelegenheit zur Stellungnahme erhält. Es schließt sich eine Beweisaufnahme an, die – abhängig vom jeweiligen Ehrenrecht – Zeugenvernehmungen, Urkundenvorlagen sowie die Verwertung sachverständiger Gutachten umfassen kann. Über die Sache entscheidet das Ehrengericht in einer Hauptverhandlung, in der alle Parteien Gehör erhalten; die Entscheidung wird anschließend schriftlich begründet und den Beteiligten zugestellt. Gegen Entscheidungen der Ehrengerichte bestehen, je nach Regelung, verschiedene Rechtsmittel, wie etwa Berufung oder Revision zu spezialisierten Berufungs- oder Senatsgerichten.

Welche Sanktionen kann das Ehrengericht verhängen?

Die Sanktionen, die ein Ehrengericht verhängen kann, richten sich nach der jeweiligen berufsrechtlichen Vorschrift. Mögliche Maßnahmen reichen von milden Formen wie der Erteilung eines schriftlichen Hinweises oder einer Rüge, über Geldbußen, bis hin zu schwerwiegenden berufsrechtlichen Folgen wie dem befristeten oder dauerhaften Entzug der Berufsausübungsbefugnis (z. B. Ausschluss aus der Kammer oder dem Berufsstand). Bei Rechtsanwälten ist dies beispielsweise in § 114 BRAO gesetzlich normiert und reicht von einer einfachen Warnung bis zur Ausschließung aus der Anwaltschaft. Die Sanktionen sollen stets verhältnismäßig sein und neben der individuellen Ahndung der Pflichtverletzung auch präventive Zwecke verfolgen. Die vollständige Rechtskraft einer Disziplinarentscheidung ist dabei regelmäßig Voraussetzung für ihre Umsetzung. Zudem kann ein Verstoß gegen berufsrechtliche Pflichten in gravierenden Fällen auch eine strafrechtliche oder zivilrechtliche Haftung nach sich ziehen.

In welchen Fällen ist die Anrufung eines Ehrengerichts zulässig?

Die Anrufung eines Ehrengerichts ist immer dann zulässig, wenn ein konkreter Verdacht auf eine Verletzung der standesrechtlichen oder beruflichen Pflichten eines Kammerangehörigen vorliegt. Dies umfasst typischerweise Verstöße gegen das Berufsethos, etwa bei Verhaltensweisen, die das Ansehen des Berufsstandes gefährden, bei unkollegialem Verhalten, schwerwiegenden Pflichtwidrigkeiten gegenüber Mandanten, Mandatsmissbrauch oder missbräuchlicher Verwendung der Berufsbezeichnung. Zuständig sind zumeist die Kammern selbst oder eigens eingerichtete Ehrengerichtshöfe; oft besteht eine gesetzliche Verpflichtung für die Kammer, bei eingehenden Beschwerden von Amts wegen tätig zu werden. Die begründete Einleitung eines Ehrengerichtsverfahrens setzt in der Regel keinen Strafrechtsverstoß voraus, kann jedoch parallel zu straf- oder zivilrechtlichen Verfahren erfolgen.

Welche Rechte und Pflichten haben die Beteiligten im Ehrengerichtsverfahren?

Die Beteiligten eines Ehrengerichtsverfahrens – typischerweise der Beschuldigte, die berufsständische Kammer, der Anzeigende (sofern ein Dritter ist) und gegebenenfalls Zeugen – haben vielfältige, durch Gesetz und Satzung garantierte Rechte und Pflichten. Der Beschuldigte hat insbesondere das Recht auf rechtliches Gehör, Akteneinsicht, Beweisantragstellung, rechtlichen Beistand durch einen Verteidiger sowie das Recht auf einen fairen, unparteiischen Prozess. Die Pflicht zur Mitwirkung erstreckt sich aus dem berufsrechtlichen Treueverhältnis zur Kammer heraus auf die wahrheitsgemäße Auskunftserteilung und das Erscheinen zu Anhörungen. Die Kammer ist verpflichtet, das Verfahren ordnungsgemäß zu führen, Neutralität zu wahren und den Verfahrensbeteiligten die gesetzlich vorgesehenen Rechte einzuräumen. Zeugen sind verpflichtet, wahrheitsgemäß auszusagen, können aber in bestimmten Fällen ein Aussageverweigerungsrecht geltend machen.

Welche Möglichkeiten der Rechtsmittel bestehen gegen Entscheidungen der Ehrengerichte?

Gegen Entscheidungen der Ehrengerichte stehen den Betroffenen in der Regel verschiedene Rechtsmittel zur Verfügung, deren genaue Ausgestaltung sich nach der jeweiligen berufsrechtlichen Regelung richtet. Am häufigsten besteht die Möglichkeit der Berufung oder Revision zu einem nächsthöheren Berufungsgericht oder einem speziell eingerichteten Oberen Ehrengericht. Die Einlegung von Rechtsmitteln ist meist an Fristen und formale Anforderungen gebunden, häufig muss sie schriftlich und begründet erfolgen. Das Rechtsmittelgericht prüft, ob das erstinstanzliche Ehrengericht Verfahrens- oder materiell-rechtliche Fehler begangen hat, wobei teils eine vollständige Neuverhandlung, teils eine reine Überprüfung auf Rechtsfehler erfolgt. Darüber hinaus ist in seltenen Fällen auch eine verwaltungsgerichtliche Überprüfung möglich, insbesondere bei Verletzungen verfassungsmäßig garantierter Rechte.

Unterliegen die Sitzungen der Ehrengerichte der Öffentlichkeit?

Die Öffentlichkeit der Verhandlungen vor Ehrengerichten ist grundsätzlich gewährleistet, jedoch mit berufsrechtlich motivierten Ausnahmen versehen. Das Ziel ist es, Transparenz im berufsrechtlichen Verfahren zu wahren, aber auch die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen sowie vertrauliche Berufsgeheimnisse zu schützen. In sensiblen Fällen kann das Ehrengericht die Öffentlichkeit – ganz oder teilweise – ausschließen, etwa zum Schutz des Persönlichkeitsrechts des Beschuldigten, der Anzeigenden oder Dritter, oder etwa wenn Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse zur Sprache kommen. Die genaue Handhabung ergibt sich aus den jeweiligen Berufsgesetzen oder Kammerordnungen und muss im Einzelfall begründet werden. Entscheidungen und Sanktionen werden oft, zumindest in anonymisierter Form, öffentlich bekannt gemacht, um die präventive Wirkung auf den Berufsstand zu stärken.