Definition und Grundlagen des Dissens
Der Begriff Dissens bezeichnet im rechtlichen Kontext das Nichtübereinstimmen von Willenserklärungen bei Vertragsverhandlungen. Dissens liegt vor, wenn die Parteien sich nicht über alle wesentlichen Vertragsbestandteile, sogenannte „essentialia negotii“, einigen konnten. Fehlt diese Einigung bei Vertragsschluss, so kommt in der Regel kein wirksamer Vertrag zustande. Der Dissens bildet somit ein fundamentales Hindernis für das Zustandekommen von Verträgen im Zivilrecht und spielt insbesondere im Schuld- und Vertragsrecht eine zentrale Rolle.
Arten des Dissens
Offener Dissens (Offener Einigungsmangel)
Vom offenen Dissens spricht man, wenn beide Vertragsparteien erkennen, dass sie sich nicht über alle Punkte einig geworden sind. Dies ist häufig der Fall, wenn Streit über den Inhalt oder die Ausgestaltung einzelner Vertragsklauseln besteht und der fehlende Konsens den Beteiligten bewusst ist. Laut § 154 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) liegt kein Vertrag vor, sofern sich die Parteien nicht über sämtliche als notwendig erachtete Vertragsbedingungen geeinigt haben und dies erkennbar wird.
Versteckter Dissens (Verdeckter Einigungsmangel)
Der versteckte Dissens tritt ein, wenn zumindest eine oder beide Parteien irrig davon ausgehen, dass Einigkeit über alle Punkte besteht, tatsächlich aber offene Punkte unbeachtet oder missverständlich geblieben sind. In diesen Fällen bleibt der Dissens zunächst verborgen. Erst im weiteren Verlauf kann sich zeigen, dass keine Übereinstimmung über sämtliche Regelungspunkte bestanden hat.
Total- und Partialdissens
- Totaldissens bezeichnet den Fall, dass über sämtliche verhandelte Vertragsbestandteile Uneinigkeit vorliegt.
- Partialdissens liegt vor, wenn nur bezüglich einzelner Punkte keine Einigkeit erzielt worden ist. Ob in diesem Fall dennoch ein Vertrag zustande kommt, hängt maßgeblich davon ab, ob die streitigen Punkte als essentialia negotii zu qualifizieren sind.
Dissens im deutschen Vertragsrecht
Gesetzliche Grundlagen
Im deutschen Zivilrecht ist der Dissens insbesondere in den §§ 154 und 155 BGB geregelt. § 154 BGB behandelt das Stadium der „offenen Punkte“ und § 155 BGB regelt das Schicksal eines Vertrags bei verstecktem Dissens. Die Vorschriften spiegeln die Bedeutung der vollständigen Einigung für das Zustandekommen eines Vertrags wider.
§ 154 BGB – Offener Einigungsmangel
Nach § 154 Abs. 1 BGB ist im Zweifel ein Vertrag nicht geschlossen, solange sich die Parteien über einen Punkt nicht einig sind, den sie als wichtig voraussetzen. Die Vorschrift stellt eine Auslegungsregel dar und lässt Ausnahmen zu, insbesondere wenn deutlich wird, dass die Einigung trotz offener Punkte gewollt ist.
§ 155 BGB – Versteckter Einigungsmangel
§ 155 BGB regelt, dass ein Vertrag auch dann zustande kommen kann, wenn Parteien über einzelne Punkte kein Einvernehmen erreicht haben, sofern anzunehmen ist, dass der Vertrag ohne diese Bestimmungen ohnehin gewollt war. In diesem Zusammenhang wird oft versucht, durch ergänzende Vertragsauslegung (vgl. § 133 BGB) die Lücke zu schließen.
Rechtsprechung und Vertragspraxis zum Dissens
Willenserklärungen und Konsensprinzip
Für das Zustandekommen eines Vertrags ist das sogenannte Konsensprinzip maßgeblich. Ein Vertrag erfordert zwei inhaltlich übereinstimmende Willenserklärungen – Angebot und Annahme. Kommt es zu Überschneidungen oder Änderungen der Vertragsinhalte, ist zu prüfen, ob Einigkeit über alle wesentlichen Punkte besteht. Bleibt eine solche Einigung aus, wird der Vertrag als nicht zustande gekommen angesehen (Konsens fehlt, also Dissens).
Umgang mit Dissens in der Praxis
In der Praxis werden offene Punkte häufig durch sogenannte „side letters“, ergänzende Vereinbarungen oder später nachgereichte Erklärungen geregelt, sofern die Parteien Klarheit über den Dissens herstellen möchten. Zudem fragen Gerichte im Streitfall stets, ob die Parteien trotz Dissens die Absicht hatten, an den Vertrag gebunden zu sein, oder ob ein Vertragsschluss ausdrücklich von der vollständigen Einigung abhängig gemacht wurde.
Dissens im internationalen Kontext und im europäischen Vertragsrecht
Im internationalen Handelsrecht und nach den Prinzipien des UN-Kaufrechts (CISG) ergeben sich teilweise abweichende Handhabungen bezüglich des Dissens. Insbesondere die Frage, wann ein Vertragsbestandteil als wesentlich anzusehen ist, kann unterschiedlich beurteilt werden. Die Gefahr des Dissens ist im grenzüberschreitenden Handel durch sprachliche, kulturelle und rechtliche Unterschiede besonders hoch und sollte bei der Vertragsgestaltung verstärkt beachtet werden.
Abgrenzungen und verwandte Begriffe
Abgrenzung zum Scheinkonsens
Zu unterscheiden ist der Dissens vom sogenannten „Scheinkonsens“ oder „vermeintlichen Konsens“. Hier glauben die Parteien, eine Einigung zu haben, tatsächlich liegen aber Missverständnisse oder unterschiedliche Verständnislagen über den Vertragsgegenstand vor. Die rechtlichen Folgen orientieren sich an den Grundsätzen zum versteckten Dissens.
Übereinstimmung und Konsens
Gegenteilig zum Dissens steht der Konsens, der das vollständige Einvernehmen der Parteien über den Vertrag bezeichnet. Erst dieser Konsens lässt einen wirksamen Vertrag entstehen.
Rechtsfolgen des Dissens
Nichtigkeit des Vertrags
Liegt ein wesentlicher Dissens über zentrale Vertragsbestandteile vor, ist der Vertrag gemäß § 154 BGB im Regelfall nicht zustande gekommen und damit nichtig. Die Beteiligten sind in diesem Fall nicht an die behaupteten Vertragsregeln gebunden und können hieraus keine Rechte oder Pflichten ableiten.
Ergänzende Vertragsauslegung
Bei nicht eindeutigen Fällen, insbesondere bei offenem oder verstecktem Dissens über Nebenpunkte, erfolgt häufig eine ergänzende Vertragsauslegung. Die Gerichte prüfen dann anhand von Treu und Glauben (§ 242 BGB) und dem mutmaßlichen Parteiwillen, ob der Vertrag auch ohne die streitigen Punkte geschlossen worden wäre.
Dissens im Prozessrecht
Im Verfahrensrecht spielt der Dissens ebenfalls eine Rolle, etwa im Rahmen von Vergleichsverhandlungen, Mediationen oder bei der Protokollierung von Parteivereinbarungen. Ein Dissens kann hier zu Verzögerungen, Nachverhandlungen oder der gänzlichen Aufhebung eines gerichtlichen oder außergerichtlichen Vergleichs führen.
Bedeutung des Dissens im Wirtschaftsleben
Im unternehmerischen Alltag entsteht Dissens häufig im Zuge von Vertragsverhandlungen, Ausschreibungen oder Kooperationsvereinbarungen. Eine sorgfältige Dokumentation und transparente Kommunikation möglicher Dissenspunkte ist von großer Bedeutung, um spätere Streitigkeiten über das Vertragsverhältnis zu vermeiden.
Zusammenfassung
Der Dissens ist ein zentraler Begriff des deutschen Vertragsrechts mit erheblicher praktischer Bedeutung. Er bezeichnet das Fehlen einer vollständigen Einigung über den Vertragsinhalt, was in der Regel das Nichtzustandekommen eines Vertrags zur Folge hat. Die genaue rechtliche Bewertung hängt von der Art des Dissens und der Bedeutung der offen gebliebenen Vertragspunkte ab. Praxisgerecht ist es daher, offene Punkte explizit zu klären und etwaige Unklarheiten zu protokollieren, um Rechtssicherheit herzustellen und das Risiko von Streitigkeiten wegen Dissens zu minimieren.
Häufig gestellte Fragen
Was sind die rechtlichen Folgen eines Dissenses im Vertragsrecht?
Im deutschen Vertragsrecht hat ein Dissens, also das Nichtübereinstimmen der Vertragsparteien über einzelne oder mehrere Punkte eines Vertrages, erhebliche Auswirkungen auf das Zustandekommen und die Wirksamkeit eines Vertrages. Grundsätzlich gilt nach § 154 BGB, dass ein Vertrag nicht zustande gekommen ist, wenn die Parteien sich über einen wesentlichen Vertragspunkt, den sogenannten „essentialia negotii“, nicht geeinigt haben (offener Dissens). In solchen Fällen fehlt es an einem übereinstimmenden Willen und damit an einer der grundlegenden Voraussetzungen für die Wirksamkeit eines Vertrages. Bei beiläufigen oder unwesentlichen Nebenpunkten (verdeckter oder Teil-Dissens) kann jedoch unter Umständen gemäß § 155 BGB ein wirksamer Vertrag vorliegen, sofern die Parteien den Vertrag auch ohne Regelung dieser Punkte abschließen wollten. Das Gericht kann in solchen Fällen die Lücken schließen, indem es auf gesetzliche Regelungen oder die Verkehrsauffassung zurückgreift. Ein Dissens kann also je nach Gegenstand und Bedeutung der streitigen Punkte entweder zur Nichtigkeit des Vertrags führen oder im Rahmen ergänzender Auslegung überwunden werden.
Wie unterscheiden sich offener und versteckter Dissens rechtlich voneinander?
Offener Dissens liegt vor, wenn die Parteien die Uneinigkeit über bestimmte Vertragsbestandteile ausdrücklich erkennen und offenlegen, also beispielsweise einen Vertragstext gemeinsam durchgehen und feststellen, dass sie sich bezüglich eines Punktes nicht einigen konnten. Nach § 154 BGB kommt in diesem Fall kein Vertrag zustande, sofern es sich um einen Hauptpunkt handelt, den zumindest eine Partei als entscheidend ansieht. Versteckter Dissens (verdeckter Dissens) hingegen ist gegeben, wenn sich die Parteien der Uneinigkeit nicht bewusst sind und beide davon ausgehen, eine Einigung erzielt zu haben, obwohl objektiv tatsächlich keine Einigung über alle Punkte vorliegt. Hier greift § 155 BGB: Der Vertrag kann insgesamt trotzdem zustande gekommen sein, sofern davon auszugehen ist, dass die Parteien ihn auch ohne eine Regelung über den betreffenden Punkt geschlossen hätten. Fehlt es an dieser Willensübereinstimmung bezüglich des Vertragsabschlusses, gilt auch hier: Der Vertrag ist unwirksam. Der rechtliche Unterschied liegt somit im Bewusstsein der Parteien und den Möglichkeiten der ergänzenden Vertragsauslegung.
Wie behandelt die Rechtsprechung Dissens bei Rahmen- oder Vorverträgen?
Im Rahmen von Vorverträgen oder Rahmenverträgen legt die Rechtsprechung besonders Wert auf die Bestimmtheit der Vereinbarungen. Ein Dissens über wesentliche Vertragsinhalte kann dazu führen, dass ein solcher Vorvertrag von Anfang an unwirksam ist. Allerdings unterscheidet die Rechtsprechung danach, ob bereits eine grundsätzliche Einigung über die Hauptpunkte erzielt wurde und die weiteren Modalitäten lediglich mit ergänzenden Vereinbarungen festgelegt werden sollen. Sind letztere noch offen und wird dies von den Parteien akzeptiert, kann im Einzelfall schon ein verbindlicher Rahmenvertrag bestehen. Sind jedoch grundlegende Punkte noch „offen“, liegt ein offener Dissens vor und der Vertrag ist in der Regel nicht wirksam geschlossen. Die Rechtsprechung prüft hier regelmäßig, ob ein ernster Bindungswille vorliegt oder ob die Verhandlungen als „letter of intent“ bzw. reine unverbindliche Absichtserklärung zu beurteilen sind.
Welche Beweislast gilt im Falle eines Dissenses?
Die Beweislast im Zusammenhang mit einem behaupteten Dissens trägt grundsätzlich die Partei, die sich auf den Dissens und somit auf die Unwirksamkeit oder Unvollständigkeit des Vertrags beruft. Sie muss substantiiert darlegen, dass über einen wesentlichen Punkt keine Einigung erzielt wurde und dies für den Vertragsschluss von Bedeutung war. Kann der betreffende Vertragspunkt als nebensächlich angesehen werden, obliegt es der gegnerischen Partei zu beweisen, dass der Vertrag auch ohne eine ausdrückliche Regelung dieses Punktes hätte abgeschlossen werden sollen. Die Gerichte wenden hierbei regelmäßig das Verhandlungsprotokoll oder die Korrespondenz der Parteien als Beweismittel an.
Wie wirkt sich ein Dissens auf die bereits erbrachten Leistungen der Parteien aus?
Kommt ein Vertrag aufgrund eines Dissenses nicht zustande, so sind etwaige bereits ausgetauschte Leistungen im Wege des Bereicherungsrechts gemäß den §§ 812 ff. BGB zurückzugewähren. Das bedeutet, jede Partei hat dasjenige herauszugeben, was sie ohne rechtlichen Grund (hier: mangels wirksamen Vertrages) von der anderen Partei erlangt hat. Eine Rückabwicklung kann dabei sowohl in Form der Rückgabe von Sachen als auch in Form von Wertersatz erfolgen. Auch hinsichtlich entstandener Aufwendungen kann gegebenenfalls ein Anspruch auf Wertersatz in analoger Anwendung der bereicherungsrechtlichen Normen bestehen.
Was ist bei einem Dissens im internationalen Vertragsrecht zu beachten?
Im internationalen Vertragsrecht gilt vorrangig das auf den Vertrag anwendbare Recht, welches nach den anwendbaren Kollisionsnormen (insbesondere Rom I-VO in der Europäischen Union) zu bestimmen ist. Die Frage des Dissenses und der Vertragsschlussproblematik wird daher nach dem jeweiligen nationalen Recht entschieden, das für den konkreten Sachverhalt maßgebend ist. Allerdings sind die Kriterien für das Zustandekommen eines Vertrages und die Anforderungen an die Übereinstimmung der Willenserklärungen auch im internationalen Handelsverkehr häufig ähnlich. Insbesondere bei internationalen Lieferverträgen nach dem UN-Kaufrecht (CISG) sind die Vorschriften über den Konsens der Parteien maßgeblich, wobei grundsätzlich auch hier ein Vertrag nur dann als zustande gekommen gilt, wenn Einigkeit über die wesentlichen Vertragsbestandteile herrscht.
Wie kann ein Dissens nachträglich behoben werden?
Ein nach Vertragsschluss erkannter Dissens kann durch eine ergänzende Vereinbarung – eine sogenannte Nachbesserung oder Nachtragsvereinbarung – behoben werden. Die Parteien müssen sich hierbei ausdrücklich über die fehlende Regelung einigen, um die Lücke zu schließen und den Vertrag in diesem Punkt nachträglich zu komplettieren. Bis zur Einigung bleibt der Vertrag hinsichtlich dieses Punktes entweder lückenhaft (sofern nach dem mutmaßlichen Parteiwillen der übrige Vertrag Bestand hat) oder insgesamt schwebend unwirksam. Soll der Vertrag nachträglich in Kraft gesetzt werden, muss die Einigung grundsätzlich formfrei erfolgen, es sei denn, für den Vertragstyp ist eine bestimmte Form gesetzlich vorgeschrieben (z. B. bei Grundstücksgeschäften die notarielle Beurkundung). In Zweifelsfällen kann eine ergänzende Vertragsauslegung nach § 133, § 157 BGB herangezogen werden, wobei der hypothetische Wille der Parteien im Vordergrund steht.