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culpa in contrahendo


Begriff und Bedeutung der culpa in contrahendo

Der Begriff culpa in contrahendo (lateinisch für „Verschulden bei Vertragsschluss“) bezeichnet die schuldhafte Verletzung von Pflichten, die bereits im Vorfeld eines Vertragsschlusses – in der sogenannten vorvertraglichen Phase – entstehen. Sie ist ein wesentliches Konzept des deutschen Zivilrechts sowie zahlreicher anderer Rechtsordnungen und steht im Spannungsfeld zwischen Vertragsrecht und Deliktsrecht. Die culpa in contrahendo bildet die Grundlage für Schadensersatzansprüche, wenn eine Partei durch das Verhalten der anderen im Rahmen von Vertragsverhandlungen geschädigt wird, ohne dass ein wirksamer Vertrag zustande kommt oder eine vertragliche Hauptpflicht verletzt wurde.

Historische Entwicklung der culpa in contrahendo

Ursprünge und Entwicklung im deutschen Recht

Die Lehre von der culpa in contrahendo wurde maßgeblich im 19. Jahrhundert von Rudolf von Jhering geprägt und ist heute allgemein anerkannt. Ursprünglich war das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) nicht auf eine eigenständige vorvertragliche Haftung ausgelegt; gleichwohl wurde die Haftung für vorvertragliches Verschulden durch richterrechtliche Entwicklung und später durch gesetzliche Kodifizierung, insbesondere im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts zum 1. Januar 2002, unter anderem in § 311 Absatz 2 und § 311 Absatz 3 BGB sowie in § 241 Absatz 2 BGB geregelt.

Internationaler Rechtsvergleich

Auch in vielen anderen Rechtsordnungen, etwa im schweizerischen oder österreichischen Recht sowie in Teilen des Common Law-Systems, existieren ähnliche Institute, wenngleich sie teils unter anderen Begriffen oder mit abweichender Rechtsfolgenseite ausgestaltet sind. Im internationalen Vertragsrecht, insbesondere im Rahmen von UNIDROIT Principles und dem CISG, finden sich ebenfalls vergleichbare Regelungen zur vorvertraglichen Haftung.

Voraussetzungen der Haftung aus culpa in contrahendo

Entstehen eines Schuldverhältnisses

Für die Haftung aus culpa in contrahendo ist maßgeblich, ob bereits ein sogenanntes vorvertragliches Schuldverhältnis (§ 311 Absatz 2 BGB) zwischen den Parteien entstanden ist. Dieses entsteht regelmäßig durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen, die Anbahnung eines Vertrages oder durch ähnliche geschäftliche Kontakte, bei denen einer Partei erkennbar Vertrauen auf die Vertragstreue oder das Zustandekommen eines Vertragsverhältnisses begründet wird.

Verletzung vorvertraglicher Pflichten

Zentrale Voraussetzung ist die schuldhafte Verletzung von Pflichten, die im Rahmen des vorvertraglichen Schuldverhältnisses gegenüber dem anderen Teil bestehen (§ 241 Absatz 2 BGB). Zu diesen Pflichten zählen unter anderem:

  • Aufklärungspflichten: Pflicht zur wahrheitsgemäßen und vollständigen Information über Umstände, die für den anderen Teil wesentlich sind.
  • Schutzpflichten: Pflicht, die Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils vor Schäden zu bewahren.
  • Rücksichtnahmegebot: Pflicht, sich so zu verhalten, dass der Vertragszweck nicht gefährdet wird.

Verschulden

Die Haftung setzt ein Verschulden (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) des Erklärenden voraus. Objektiv pflichtwidriges Verhalten allein begründet also noch keinen Anspruch, sofern das Verhalten dem Handelnden nicht mindestens fahrlässig anzulasten ist.

Kausalität und Schaden

Zwischen der Pflichtverletzung und dem entstandenen Schaden muss ein adäquater Kausalzusammenhang bestehen. Der Geschädigte muss durch die pflichtwidrige vorvertragliche Handlung in einer Weise geschädigt werden, die im Sinne des Schutzes des Vertrauens auf das Zustandekommen oder den richtigen Inhalt des Vertrages steht.

Rechtsfolgen der culpa in contrahendo

Schadensersatzanspruch

Der wichtigste Rechtsbehelf im Rahmen der culpa in contrahendo ist der Anspruch auf Ersatz des dadurch entstandenen Schadens (§ 280 Absatz 1 in Verbindung mit § 311 Absatz 2 BGB). Der Schaden umfasst grundsätzlich das sogenannte negative Interesse (Vertrauensschaden), das heißt, der Geschädigte ist so zu stellen, wie er stünde, wenn er niemals mit dem Vertragspartner in Verhandlungen getreten wäre.

Anfechtungsähnliche Rechtsfolgen

Im Einzelfall kann ein besonders schweres Fehlverhalten bereits vor Vertragsschluss (z. B. Täuschung) auch eine Anfechtungsmöglichkeit oder weitergehende Rechtsfolgen nach sich ziehen, insbesondere wenn bereits Vertragsbestandteile vereinbart wurden.

Abgrenzung zu anderen Haftungsinstituten

Abgrenzung zur deliktischen Haftung

Die culpa in contrahendo ist vom Deliktsrecht (§ 823 BGB ff.) zu unterscheiden. Während die deliktische Haftung auf die Verletzung absoluter Rechte (z.B. Eigentum, Gesundheit) gestützt wird, schützt die Haftung aus culpa in contrahendo primär das berechtigte Vertrauen in die Integrität und Rücksichtnahme bei Vertragsschluss.

Abgrenzung zur Vertragshaftung

Eine weitere Abgrenzung besteht zur Haftung aus einem bereits abgeschlossenen Vertrag, da die culpa in contrahendo bereits vor dem eigentlichen Vertragsschluss greift. Kommt es zu einem wirksamen Vertragsschluss und einer Haftung aus Verletzung vertraglicher Pflichten, tritt die vertragliche Haftung regelmäßig an die Stelle der vorvertraglichen Haftung.

Anwendungsbeispiele aus der Rechtsprechung

  • Rücktritt von Vertragsverhandlungen: Bricht eine Partei grundlos und ohne Rücksicht auf entstandenes Vertrauen Verhandlungen ab, kann ein Anspruch aus culpa in contrahendo resultieren, sofern der andere Teil hierdurch einen Vermögensschaden erleidet.
  • Fehlerhafte Aufklärung: Werden wesentliche Umstände (wie Mängel des Kaufgegenstandes) im Vorfeld des Vertragsschlusses verschwiegen oder falsch dargestellt, besteht ebenfalls eine Haftung.
  • Verletzung von Schutzpflichten: Sachverhalte, in denen im Rahmen der Vertragsverhandlungen körperliche oder sonstige Schäden verursacht werden (z. B. durch mangelhafte Sicherheitsvorkehrungen bei einem Besichtigungstermin), können Anspruchsgrundlagen aus culpa in contrahendo begründen.

Bedeutung und Praxisrelevanz

Die Lehre von der culpa in contrahendo hat im modernen Wirtschaftsleben große praktische Bedeutung, da Vertragsverhandlungen – insbesondere bei komplexeren Verträgen – häufig lange und intensive Kontaktphasen beinhalten, in denen erhebliche Vorleistungen und Vertrauensdispositionen erbracht werden. Das Institut dient somit dem Interessenausgleich und der Risikoverteilung in der vorvertraglichen Phase und bietet Schutz bei der Verletzung von Aufklärungs- und Rücksichtnahmepflichten.

Literatur und weiterführende Hinweise

Für weiterführende und vertiefte Informationen zur culpa in contrahendo bieten sich unter anderem die Standardkommentare zum Bürgerlichen Gesetzbuch sowie einschlägige Lehrbücher zum Schuldrecht an. Wichtige Fundstellen und weiterführende Urteile finden sich regelmäßig in den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs.

Häufig gestellte Fragen

Welche Rechtsfolgen hat eine culpa in contrahendo?

Die Rechtsfolgen der culpa in contrahendo erstrecken sich insbesondere auf Schadensersatzansprüche desjenigen Teils, der durch das rechtswidrige und schuldhafte Verhalten des Vertragspartners im Rahmen von Vertragsverhandlungen einen Schaden erleidet. Das deutsche Zivilrecht sieht seit der Schuldrechtsmodernisierung eine ausdrückliche Regelung in § 311 Abs. 2 und § 311 Abs. 3 BGB sowie in Verbindung mit §§ 280, 241 Abs. 2 BGB vor. Geschädigte Parteien können verlangen, so gestellt zu werden, wie sie ohne das vertragswidrige Verhalten stünden (sog. negatives Interesse). Ansprüche können auf Ersatz von Vorbereitungskosten, nutzlos aufgewendeten Ausgaben oder sogar ausnahmsweise auf Gewinnentgang ausgerichtet sein, sofern dieser adäquat-kausal verursacht wurde. Ein Vertragsschluss muss dabei gerade nicht erfolgt sein, vielmehr reicht das schädigende Verhalten in der Vertragsanbahnungsphase aus.

In welchen typischen Situationen kommt culpa in contrahendo zur Anwendung?

Culpa in contrahendo findet vor allem Anwendung in Situationen, in denen durch schuldhafte Pflichtverletzungen während der Anbahnung eines Vertrages ein Schaden verursacht wird. Typische Fälle sind etwa das Verschweigen oder fehlerhafte Mitteilen wesentlicher Informationen (Aufklärungspflichtverletzungen) bezüglich der Verhandlungsgegenstände, das grundlose Abbrechen von Vertragsverhandlungen nach Schaffung eines besonderen Vertrauensverhältnisses, die vorsätzliche Täuschung oder wissentliche Mitwirkung an Irrtümern sowie die Verletzung von Schutzpflichten bezüglich Rechtsgütern wie Leben, Körper, Gesundheit oder Eigentum anlässlich von Besichtigungen oder Vertragsvorbereitungen. Auch die unberechtigte Indienstnahme eines Dritten kann zur Einbeziehung Haftung führen.

Welche Rolle spielt das Verschulden beim Anspruch aus culpa in contrahendo?

Das Verschulden spielt eine zentrale Rolle bei der Haftung aus culpa in contrahendo; eine Schadensersatzpflicht setzt stets voraus, dass die Pflichtverletzung schuldhaft, also mindestens fahrlässig, begangen wurde. Der Maßstab richtet sich nach den §§ 276, 278 BGB; es kommt auf die Sorgfalt an, die von einem ordentlichen und verständigen Verhandlungspartner erwartet werden kann. Grobe Fahrlässigkeit und Vorsatz führen immer zur Haftung, aber auch einfache Fahrlässigkeit reicht aus. Für Erfüllungsgehilfen und gesetzliche Vertreter haftet zudem der Geschäftsherr nach § 278 BGB.

Besteht die Möglichkeit eines Mitverschuldens des Geschädigten bei culpa in contrahendo?

Ja, bei Ansprüchen aus culpa in contrahendo gilt der Grundsatz des Mitverschuldens (§ 254 BGB). Das bedeutet, dass sich der Geschädigte ein eventuell eigenes schuldhaftes Verhalten, das zur Entstehung oder Höhe des Schadens beigetragen hat, anspruchsmindernd anrechnen lassen muss. Hat der Geschädigte etwa offensichtliche Warnsignale ignoriert oder zumutbare Maßnahmen zur Schadensminimierung unterlassen, kann dies zur vollständigen oder teilweisen Reduktion des Anspruchs führen.

Welche Bedeutung hat der „Vertrauensschutz“ im Rahmen der culpa in contrahendo?

Der Vertrauensschutz stellt eines der wesentlichen Schutzziele der culpa in contrahendo dar. Grundgedanke ist, dass die Parteien bereits während der Vertragsverhandlungen besondere Rücksichtnahme- und Sorgfaltspflichten gegenüber dem Verhandlungspartner und dessen Rechtsgütern haben. Wer berechtigtes Vertrauen auf den Vertragsschluss geschaffen oder bestärkt hat, muss damit rechnen, für daraus entstehende Schäden einzustehen. Der Vertrauensschutz dient somit der Absicherung der Integrität wirtschaftlicher und sonstiger Dispositionen im Verlauf der Vertragsverhandlungen.

Inwiefern können auch Dritte von der Haftung aus culpa in contrahendo erfasst sein?

Eine Haftung aus culpa in contrahendo kann unter bestimmten Voraussetzungen auch Dritte erfassen, die nicht selbst Partei der später angebahnten Vertragsbeziehung werden. Das Gesetz (§ 311 Abs. 3 BGB) geht davon aus, dass, sofern ein Dritter auf besondere Weise in die Vertragsverhandlungen oder deren Anbahnung einbezogen wird und schutzbedürftig ist, entsprechende Rücksichtnahme- und Schutzpflichten auch diesem gegenüber entstehen. Voraussetzung ist die erkennbare Einbindung des Dritten in den Gefahrenkreis der Vertragsverhandlung, z. B. als Begleitperson bei einer Geschäftsbesichtigung oder als Mitglied eines gemeinsam auftretenden Interessentenkreises.