Common law: Begriff, Herkunft und Grundprinzipien
Common law bezeichnet eine Rechtsfamilie, deren Ursprünge im mittelalterlichen England liegen und die sich vor allem durch die zentrale Bedeutung von Gerichtsentscheidungen als Rechtsquelle auszeichnet. Das System ist fallorientiert, entwickelt sich schrittweise durch Präzedenzfälle und wird in vielen englischsprachigen Ländern angewendet. Im Unterschied zu stark kodifizierten Rechtsordnungen steht im Common law die Auswertung und Fortbildung bestehender Entscheidungen im Vordergrund. Gesetzliche Regelungen spielen gleichwohl eine wesentliche Rolle; sie werden durch die Rechtsprechung ausgelegt und in den Gesamtzusammenhang eingeordnet.
Historische Entwicklung
Das Common law entstand aus königlichen Gerichten, die ab dem 12. Jahrhundert lokale Gewohnheiten bündelten und ein einheitliches Recht entwickelten. Ein formalisiertes Klage- und Verfahrenssystem förderte eine einheitliche Spruchpraxis. Als Ausgleich zu strengen Formen bildete sich die Equity heraus, die auf Billigkeit und Fairness abstellte. Seit dem 19. Jahrhundert werden Common law und Equity organisatorisch von denselben Gerichten angewendet; inhaltlich bestehen ihre Grundsätze fort und ergänzen einander.
Ausbreitung und Rechtskreise
Das Common law prägt das Vereinigte Königreich (mit Besonderheiten in Schottland), die Vereinigten Staaten (mit Besonderheit Louisiana), Kanada (mit Besonderheit Québec), Australien, Neuseeland, Irland, zahlreiche Staaten des Commonwealth sowie ehemalige britische Territorien. Zahlreiche Rechtsordnungen sind gemischter Natur und verbinden Common law mit kontinentaleuropäischen Traditionen.
Struktur und Quellen des Common law
Fallrecht und Präzedenzbindung
Kernstück des Common law ist die Bindung an Präzedenzfälle (stare decisis). Entscheidungen höherer Gerichte sind für nachgeordnete Gerichte im gleichen Rechtskreis verbindlich. Zentrale Begründungselemente (ratio decidendi) entfalten Bindungswirkung; ergänzende Erwägungen (obiter dicta) können Orientierung geben. Gerichte arbeiten mit Analogie und Unterscheidung: Ein Fall wird entweder als vergleichbar eingeordnet oder sachlich abgegrenzt (distinguishing), um die Präzedenz anzuwenden oder zu vermeiden.
Gesetzesrecht und verfassungsrechtliche Einflüsse
Gesetze setzen verbindliche Rahmen, die durch Gerichte ausgelegt werden. Die Auslegung orientiert sich am Wortlaut, am Zweck und an der systematischen Einbettung. In Rechtsordnungen mit geschriebener Verfassung hat diese Vorrang. Wo keine einheitliche Verfassung existiert, wirken Grundsätze, historische Dokumente und gefestigte Konventionen als Maßstäbe.
Equity als ergänzendes System
Equity ergänzt das Common law, um unbillige Ergebnisse zu vermeiden. Sie prägt bis heute besondere Rechtsbehelfe und Institute, etwa Unterlassungsverfügungen (injunctions), Anordnungen zur tatsächlichen Erfüllung (specific performance), Treuhandverhältnisse (trusts) sowie Grundsätze wie Treuepflichten und Redlichkeit. Equity ist nicht die „mildere Gerechtigkeit“, sondern ein eigenständiger Regelungskreis mit anerkannten Maximen.
Gewohnheitsrecht und Handelsbräuche
Gewohnheiten und Handelsbräuche können zur Rechtsquelle werden, wenn sie beständig, allgemein anerkannt und rechtlich relevant sind. Sie gelangen meist über Gerichtsentscheidungen in das System und werden so verfestigt.
Methoden und Arbeitsweise
Begründung und Auslegung
Entscheidungen werden begründet, um zukünftige Fälle zu lenken. Maßgebliche Auslegungsmethoden sind der am Wortlaut orientierte Ansatz, eine zweckbezogene Betrachtung sowie die Behebung erkannter Regelungslücken. Abweichende Meinungen (dissenting opinions) sind nicht bindend, können aber zukünftige Entwicklungen anstoßen.
Verfahrenszüge
Das Verfahren ist traditionell kontradiktorisch: Die Parteien tragen Tatsachen und Rechtsansichten vor, das Gericht entscheidet. In einigen Rechtskreisen wirken Geschworenengerichte bei Tatsachenfeststellungen mit. Typisch sind strukturierte Vorverfahren, Beweisaustausch (discovery) und mündliche Verhandlungen. Zahlreiche Verfahren enden durch Einigung, die gerichtliche Entscheidungen ersetzt.
Materielle Rechtsgebiete im Common law
Vertragsrecht
Im Vertragsrecht stehen Angebot und Annahme, Gegenleistung (consideration) und Bindungswille im Zentrum. Rechtsfolgen zielen häufig auf den Erfüllungsinteresse-Ersatz (expectation damages). Anordnungen zur tatsächlichen Leistung sind möglich, insbesondere wenn Geldersatz als unzureichend gilt.
Deliktsrecht (Tort law)
Das Deliktsrecht schützt vor rechtswidrigen Schädigungen. Ein Kernbereich ist die Fahrlässigkeit mit Pflichten, Sorgfaltsmaßstab, Pflichtverletzung, Kausalität und Schaden. Weitere Bereiche sind etwa unerlaubte Eingriffe in Eigentum, Ehrschutz und spezielle Gefährdungstatbestände. Rechtsfolgen sind vorrangig Schadensersatz; in manchen Rechtskreisen kommen abschreckende Zuschläge in Betracht.
Sachenrecht und Treuhand
Das Sachenrecht unterscheidet zwischen Land- und Fahrnisrecht, arbeitet mit Rechten an Grundstücken (estates) und Besitzkonzepten. Treuhandverhältnisse (trusts) sind prägender Bestandteil, insbesondere für Vermögensverwaltung, Familien- und Stiftungsstrukturen.
Strafrecht
Das Strafrecht war historisch teils durch richterrechtliche Delikte geprägt, ist heute weitgehend gesetzlich bestimmt. Grundstrukturen wie Tatbestand, Verschulden und Verteidigungsgründe sind verbreitet. Verfahren weisen je nach Rechtskreis Traditionen des Juryprozesses auf.
Öffentliches Recht
Im öffentlichen Recht wirken Grundprinzipien wie Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung. Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz prüft hoheitliches Handeln auf Gesetzmäßigkeit, ordnungsgemäße Ermessensausübung und Verfahrensfehler. In einigen Rechtskreisen besteht eine ausgeprägte Überprüfung gesetzgeberischer Maßnahmen an verfassungsrechtlichen Maßstäben.
Gerichtsorganisation und Bindungswirkung
Instanzenzug und Hierarchie
Die Gerichtsorganisation unterscheidet regelmäßig Eingangsinstanzen, Berufungsgerichte und eine höchstrichterliche Ebene. Entscheidungen der oberen Ebenen binden die unteren. Parallel existieren teils spezialisierte Spruchkörper für bestimmte Materien.
Bindung, Abweichung und Fortentwicklung
Bindende Präzedenzfälle können überholt werden, wenn ein Gericht gleicher oder höherer Ebene erkennbar abweicht (overruling). Häufiger ist die Abgrenzung (distinguishing), wenn ein neuer Sachverhalt die frühere Regel nicht trägt. Fortbildung erfolgt graduell und knüpft an die bestehende Linie an, um Vorhersehbarkeit und Kohärenz zu wahren.
Vergleich mit kontinentaleuropäischen Traditionen
Kasuistik und Systematik
Common law entwickelt Regeln fallbezogen, kontinentaleuropäische Traditionen arbeiten stärker mit abstrakten Normen und Kodifikationen. Beide Systeme nähern sich an: Common-law-Rechtskreise erlassen umfangreiche Gesetze, kontinentaleuropäische Gerichte greifen zunehmend auf gefestigte Rechtsprechungslinien zurück.
Rechtsquellen und Auslegung
Im Common law bestehen Fallrecht und Gesetz nebeneinander; Gerichte sichern die Einheit durch Auslegung und Präzedenz. In kontinentaleuropäischen Systemen bilden Gesetze den vorrangigen Maßstab, flankiert von gefestigten Leitentscheidungen ohne formale Bindung im gleichen Sinne.
Rechtsfortbildung, Modernisierung und Globalisierung
Kodifizierungstendenzen
Die Bedeutung gesetzlicher Regelungen hat in Common-law-Rechtskreisen deutlich zugenommen. Zugleich existieren systematische Zusammenfassungen und Leitlinien der Rechtsprechung, die Orientierung bieten, ohne formell verbindlich zu sein.
Transnationale Einflüsse
Common-law-Grundsätze prägen internationales Handels- und Vertragsrecht, Schiedsverfahren sowie Fragen der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen. In Mischsystemen werden Elemente verschiedener Traditionen verbunden, was den Austausch fördert.
Digitalisierung und Zugang zu Recht
Verfügbare Entscheidungsdatenbanken und datengetriebene Analysen verändern den Umgang mit Präzedenzfällen. Sie erleichtern die Auswertung umfangreicher Rechtsprechung und fördern transparente Begründungslinien.
Rechtsbehelfe und Rechtsfolgen
Vermögensrechtliche Folgen
Schadensersatz dient vornehmlich dem Ausgleich konkreter Nachteile. Er kann materielle und immaterielle Positionen erfassen. In einigen Rechtskreisen sind zusätzliche, verhaltenslenkende Zahlungen vorgesehen, deren Einsatz restriktiven Maßstäben folgen kann.
Nichtvermögensrechtliche Rechtsbehelfe
Neben Geldersatz stehen Anordnungen wie Unterlassung, Duldung, positive Handlungspflichten und Feststellungsurteile zur Verfügung. Solche Rechtsbehelfe sind häufig durch Equity geprägt und werden gewährt, wenn Geldersatz als unzureichend gilt.
Schlüsselbegriffe im Überblick
Stare decisis
Grundsatz der Bindung an frühere Entscheidungen innerhalb einer Gerichtsorganisation, um gleiche Fälle gleich zu behandeln.
Ratio decidendi
Tragender rechtlicher Grund einer Entscheidung, der in späteren Fällen verbindlich herangezogen wird.
Obiter dictum
Nebenbemerkung oder zusätzliche Erwägung ohne Bindungswirkung, die für die Rechtsentwicklung Bedeutung haben kann.
Equity
Ergänzender Regelungsbereich mit Fokus auf Billigkeit, Treue und redliches Verhalten; Quelle besonderer Rechtsbehelfe wie Unterlassung und tatsächliche Leistung.
Consideration
Gegenleistung als Element des Vertragsschlusses, die den Austauschgedanken absichert.
Häufig gestellte Fragen (FAQ) zum Common law
Was bedeutet Common law im Kern?
Common law ist eine Rechtsfamilie, in der Gerichtsentscheidungen eine zentrale Rechtsquelle bilden. Regeln entstehen schrittweise aus Präzedenzfällen und werden durch Gesetze ergänzt und ausgelegt.
Wodurch unterscheidet sich Common law von kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen?
Common law ist stärker fallorientiert und baut auf Präzedenz auf, während kontinentaleuropäische Systeme stärker auf kodifizierte Normen setzen. In der Praxis nähern sich beide durch Gesetzgebung und gefestigte Rechtsprechung an.
Welche Rolle spielen Präzedenzfälle?
Präzedenzfälle binden nachgeordnete Gerichte an die tragenden Gründe höherer Entscheidungen. Sie sichern Vorhersehbarkeit und Einheit und werden durch Abgrenzung oder Abweichung fortentwickelt.
Ist Common law gleichbedeutend mit reiner Richterrechtsetzung?
Nein. Gesetze sind wesentlicher Bestandteil. Gerichte legen Gesetze aus, füllen Lücken und verbinden gesetzliche Regeln mit fallrechtlichen Grundsätzen.
Wie verhält sich Equity zum Common law?
Equity ergänzt das Common law, um unbillige Ergebnisse zu vermeiden. Sie begründet besondere Rechtsbehelfe und Treuhandinstitute und wird heute zusammen mit dem Common law angewendet.
Warum unterscheiden sich Common-law-Rechtsordnungen untereinander?
Unterschiede ergeben sich aus voneinander unabhängiger Rechtsprechung, abweichenden Gesetzen, Verfassungsstrukturen und institutionellen Besonderheiten. Präzedenz wirkt primär innerhalb der jeweiligen Gerichtsorganisation.
Welche Bedeutung hat die Jury im Common law?
Die Jury hat in einigen Rechtskreisen Tradition, insbesondere bei Tatsachenfeststellungen im Strafrecht und teils im Zivilrecht. Ihre Rolle variiert je nach Land und Materie.