Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechte-Charta)
Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (kurz: Grundrechte-Charta oder EU-Grundrechtecharta) ist ein zentrales Dokument im europäischen Recht, das die grundlegenden persönlichen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rechte und Freiheiten der Menschen innerhalb der Europäischen Union (EU) normiert. Sie wurde 2000 proklamiert und ist seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Jahr 2009 rechtlich bindend. Die Charta ergänzt die nationalen Grundrechtskataloge und hat herausragende Bedeutung für die Rechtsprechung und Gesetzgebung innerhalb der EU.
Historische Entwicklung und Entstehung
Vorläufer und Basis
Die Entstehung der Grundrechte-Charta ist eng mit der Entwicklung des europäischen Einigungsprozesses und dem Wunsch nach klar definierten, einheitlichen Grundrechten verbunden. Historisch baut sie auf den Prinzipien der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und bereits bestehenden Grundrechten im Unionsrecht auf.
Proklamation und Rechtswirkung
Die Charta wurde am 7. Dezember 2000 in Nizza zunächst politisch proklamiert. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 erhielt sie den gleichen rechtlichen Rang wie die EU-Verträge (Art. 6 Abs. 1 EUV), und damit verbindliche Rechtskraft für Organen und Mitgliedstaaten bei der Durchführung von EU-Recht.
Aufbau und Inhalt der Grundrechte-Charta
Gliederung
Die Charta umfasst 54 Artikel, gegliedert in einen einleitenden Teil (Präambel) sowie sechs wesentliche Kapitel:
- Würde des Menschen (Art. 1-5)
- Freiheiten (Art. 6-19)
- Gleichheit (Art. 20-26)
- Solidarität (Art. 27-38)
- Bürgerrechte (Art. 39-46)
- Justizielle Rechte (Art. 47-50)
- Allgemeine Bestimmungen zur Auslegung und Anwendung (Art. 51-54)
Wesentliche Schutzbereiche
- Menschenwürde und Unversehrtheit: Unantastbarkeit der Würde, Recht auf Leben, Folterverbot.
- Freiheitsrechte: Recht auf Freiheit und Sicherheit, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Schutz personenbezogener Daten.
- Gleichheitsrechte: Gleichbehandlung, Diskriminierungsverbot, Rechte von Kindern, älteren Menschen und Menschen mit Behinderung.
- Soziale Rechte: Arbeitnehmerrechte, Recht auf Kollektivverhandlungen, fairer und gerechter Arbeitsbedingungen, Sozialschutz.
- Bürgerrechte der EU: Aktives und passives Wahlrecht zum Europäischen Parlament, Recht auf Zugang zu Dokumenten der EU-Organe.
- Verfahrensrechte: Recht auf ein faires Verfahren, Unschuldsvermutung, Grundsatz der Gesetzmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit im Strafrecht.
Rechtsverbindlichkeit und Anwendungsbereich
Geltung und Bindungswirkung
Nach Art. 6 Abs. 1 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) ist die Charta für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sowie für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts verbindlich. Sie begründet somit keine originäre, alle Lebensbereiche umfassende Grundrechtsordnung, sondern wirkt nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts.
Verhältnis zu den nationalen Grundrechten
Die Grundrechte-Charta ergänzt, aber ersetzt nicht die in den jeweiligen Mitgliedstaaten bestehenden Grundrechte. Nach Art. 53 GRCh bleibt das Schutzniveau der nationalen Grundrechte und der EMRK unberührt, sofern diese einen weitergehenden Schutz bieten.
Auslegung der Charta der Grundrechte
Dynamische Auslegung
Die Auslegung der Grundrechte-Charta erfolgt unter Berücksichtigung der Erläuterungen zu ihrem Text, den Rechtsprechungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der EMRK und den gemeinsamen Verfassungstraditionen der EU-Mitgliedstaaten.
Bedeutung der Erläuterungen
Die offiziell veröffentlichten Erläuterungen zur Charta finden als maßgebliche Auslegungshilfen Anwendung. Sie wurden vom EU-Konvent formuliert und helfen bei der Bestimmung von Sinngehalt und Anwendungsbereich der einzelnen Artikel.
Rechtsschutz und Durchsetzung
Individualrechtsschutz vor dem Europäischen Gerichtshof
EU-Grundrechte können von natürlichen und juristischen Personen vor dem EuGH geltend gemacht werden, soweit ein Bezug zum Unionsrecht besteht. Der Gerichtshof prüft Gesetzgebung und Handlungen der EU-Organe und der Mitgliedstaaten auf ihre Vereinbarkeit mit der Charta, wenn sie das EU-Recht durchführen.
Verfahren auf nationaler Ebene
Vor nationalen Gerichten der Mitgliedstaaten kann die Grundrechte-Charta geltend gemacht werden, sofern ein Sachverhalt dem Anwendungsbereich des Unionsrechts unterliegt. Dies hat weitreichende Auswirkungen auf die Rechtsfortbildung in den Mitgliedstaaten.
Verhältnis zu anderen internationalen Übereinkommen
Grundrechte-Charta und Europäische Menschenrechtskonvention
Die Charta beruft sich ausdrücklich auf die EMRK und sieht sich als auf dieser aufbauendes ergänzendes Instrument. Nach Art. 52 Abs. 3 GRCh müssen gemeinsame Schutzniveaus mindestens dem der EMRK entsprechen („Mindeststandard“).
Verhältnis zum internationalen Menschenrechtsschutz
Die Charta wirkt zudem im Kontext internationaler Menschenrechtsverpflichtungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten, wie jenen der Vereinten Nationen, und bezieht relevante völkerrechtliche Menschenrechtsnormen ein.
Bedeutung der Grundrechte-Charta in der Rechtsprechung
Bedeutung für den Europäischen Gerichtshof
Der EuGH nutzt die Charta als essentielle Prüfungsgrundlage für die Rechtmäßigkeit von Handlungen und Rechtsakten der EU. Viele wegweisende Entscheidungen im Bereich Datenschutz, Asylrecht, Diskriminierungsverbot oder prozessuale Grundrechte stützen sich auf die Grundrechte-Charta.
Einfluss auf nationale Rechtsprechung
Die Gerichte der Mitgliedstaaten sind verpflichtet, im Anwendungsbereich des Unionsrechts die Vorgaben der Grundrechte-Charta zu beachten und umzusetzen. Dies hat zu einer Angleichung der Menschenrechtsstandards innerhalb Europas geführt.
Kritik und Herausforderungen
Abgrenzungsprobleme und Subsidiarität
Kontrovers diskutiert wird die Reichweite der Charta, insbesondere die Frage, wann nationale Behörden bei der Anwendung und Auslegung von Unionsrecht an die Grundrechte-Charta gebunden sind. Der genaue Anwendungsbereich bleibt Gegenstand richterlicher Klärung.
Harmonisierung der Standards
Eine Herausforderung ist die Gewährleistung eines gleich hohen Schutzniveaus bei unterschiedlicher Umsetzung in den Mitgliedstaaten. Die Charta trägt maßgeblich zur Harmonisierung bei, ohne die Souveränität der Nationalstaaten vollständig aufzuheben.
Literatur und weiterführende Quellen
- Offizielle Fassung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Amtsblatt der Europäischen Union, C 202 vom 7. Juni 2016)
- Erläuterungen zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 303 vom 14. Dezember 2007)
- Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Grundrechte-Charta
- Vertrag über die Europäische Union (EUV), Art 6
- Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), einschlägige Bestimmungen
- Publikationen der Europäischen Kommission, insbesondere Berichte zur Lage der Grundrechte in der EU
Zusammenfassung
Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union stellt ein maßgebliches Dokument im europäischen Verfassungsgefüge dar, das einen modernen und einheitlichen Grundrechtsschutz für alle Unionsbürger und im Anwendungsbereich des Unionsrechts gewährleistet. Sie ist für die Rechtsentwicklung und Rechtssicherheit sowie für die Wahrung der Menschenwürde und die Sicherstellung zentraler Freiheitsrechte von zentraler Bedeutung und trägt zur Fortentwicklung eines europäischen Konstitutionalismus bei.
Häufig gestellte Fragen
Gilt die Charta der Grundrechte der Europäischen Union unmittelbar in den Mitgliedstaaten?
Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechte-Charta) entfaltet keine generelle, unmittelbare Wirkung in den Mitgliedstaaten, sondern findet nur Anwendung, soweit diese im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln, also „bei der Durchführung des Rechts der Union“ gemäß Art. 51 Abs. 1 GRCh. Dies bedeutet, dass nationale Behörden und Gerichte an die Charta gebunden sind, wenn sie unionsrechtliche Vorgaben umsetzen oder anwenden. Außerhalb dieses Anwendungsbereichs, insbesondere bei rein nationalen Sachverhalten ohne Bezug zum Unionsrecht, entfaltet die Charta keine Wirkung. Die genaue Abgrenzung des Anwendungsbereichs ist regelmäßig Gegenstand der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der betont, dass ein hinreichender sachlicher Zusammenhang mit dem Unionsrecht erforderlich ist. Damit ist die Charta nicht mit nationalen Grundrechtskatalogen oder der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu verwechseln, die unter Umständen einen weiteren Anwendungsbereich besitzen.
Steht die Charta der Grundrechte in Konflikt mit der Europäischen Menschenrechtskonvention?
Die Charta der Grundrechte und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) sind voneinander unabhängige Instrumente des Grundrechtsschutzes, die jedoch eine enge inhaltliche Verflechtung aufweisen. Gemäß Art. 52 Abs. 3 GRCh sind die Grundrechte aus der Charta, die den Rechten aus der EMRK entsprechen, im gleichen Sinne auszulegen. Dadurch wird das in der EMRK garantierte Schutzniveau grundsätzlich gewährleistet. Im Falle eines Konflikts hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) das letzte Wort bei der Auslegung der Charta und der Festlegung des erforderlichen Schutzniveaus im Kontext des Unionsrechts, während der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) über die Auslegung der EMRK entscheidet. Nationale Gerichte müssen beide Instrumente unter Berücksichtigung der jeweiligen Bindungswirkung zur Anwendung bringen, wobei bei Abweichungen das für den Einzelnen günstigere Schutzniveau zu beachten ist.
Welche Bedeutung kommt der Charta im Verhältnis zu den nationalen Grundrechten zu?
Die Charta der Grundrechte kommt bei der Durchführung von Unionsrecht zur Anwendung und hat dann Vorrang vor nationalen Grundrechten, soweit diese mit der Charta unvereinbar sind. Bei rein innerstaatlichen Sachverhalten ohne Unionsrechtsbezug finden ausschließlich die nationalen Grundrechte Anwendung. Nach dem Grundsatz der parallelen Anwendbarkeit (Art. 51 GRCh) können nationale Gerichte aber neben der Charta auch nationale Grundrechte heranziehen, solange dies den effektiven Schutz der durch die Charta gewährleisteten Rechte nicht beeinträchtigt. Bei Kollisionen hat der Vorrang des Unionsrechts zur Folge, dass die Auslegung und Anwendung nationaler Grundrechte die Wirksamkeit und den Rehabilitationserfolg der Unionsgrundrechte nicht beeinträchtigen darf.
Können sich Einzelpersonen vor nationalen Gerichten unmittelbar auf die Charta berufen?
Ja, Einzelpersonen können sich vor nationalen Gerichten unmittelbar auf die Charta der Grundrechte berufen, wenn ein Sachverhalt im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegt. Die Gerichte sind verpflichtet, die Bestimmungen der Charta im jeweiligen Kontext anzuwenden. Einige der in der Charta garantierten Rechte haben unmittelbare Wirkung („self-executing“), sodass sie von Gerichten auch ohne Umsetzung durch nationale Gesetzgebung angewendet werden können. Bei Grundsätzen, die eher programmatischen Charakter haben, besteht eine unmittelbare Anwendbarkeit hingegen nicht. In Zweifelsfällen können und müssen nationale Gerichte Fragen zur Auslegung der Charta dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV vorlegen.
Welche Rolle spielt der Europäische Gerichtshof (EuGH) bei der Durchsetzung der Charta?
Der Europäische Gerichtshof nimmt eine zentrale Rolle als Garant der einheitlichen Auslegung und effektiven Durchsetzung der Grundrechte-Charta ein. Er entscheidet verbindlich über die Auslegung der einzelnen Rechte der Charta, vor allem im Rahmen von Vorabentscheidungsersuchen durch nationale Gerichte (Art. 267 AEUV). Im Vertragsverletzungsverfahren kann die Europäische Kommission Mitgliedstaaten wegen Verstößen gegen die Charta belangen (Art. 258 AEUV). Der EuGH prüft dabei, ob nationale Maßnahmen mit den Vorgaben der Charta vereinbar sind. Entscheidungen des EuGH zur Charta prägen maßgeblich die Rechtspraxis und dienen nationalen Gerichten als verbindliche Orientierung.
Welche Bedeutung haben die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte?
Die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, die vom Präsidium des Europäischen Konvents verfasst wurden, sind ein Auslegungshilfsmittel mit erheblicher Bedeutung. Gemäß Art. 52 Abs. 7 GRCh sind sie als Leitfaden für die Auslegung der einzelnen Rechte und Prinzipien heranzuziehen. Zwar besitzen sie keinen rechtsverbindlichen Charakter, jedoch wird den Erläuterungen in der Rechtsprechung des EuGH und in der Lehre ein hoher Stellenwert eingeräumt, insbesondere um Kontext, Umfang und Grenzen der Grundrechtsgewährleistungen zu bestimmen. Die Erläuterungen bieten Hinweise auf die zugrunde liegenden Normquellen, etwa in der EMRK oder anderen internationalen Verträgen, und geben Auskunft über den Bedeutungsgehalt einzelner Bestimmungen.
Kann die Charta auch Verpflichtungen für Private (Drittwirkung) begründen?
Die Charta richtet sich primär an Organe der Union sowie an die Mitgliedstaaten bei Durchführung des Unionsrechts und enthält daher keine allgemeine unmittelbare Drittwirkung, das heißt, sie verpflichtet Private grundsätzlich nicht unmittelbar. Jedoch können sich Grundrechte aus der Charta in Ausnahmefällen auf privatrechtliche Beziehungen auswirken, wenn das nationale Recht im Anwendungsbereich des Unionsrechts solchen Schutz verlangt und die Gerichte unionsrechtskonform auszulegen sind. Der EuGH hat eine solche mittelbare Drittwirkung insbesondere bei Diskriminierungsverboten (z.B. im Arbeitsrecht, Gleichbehandlungsrichtlinien) anerkannt. Ausgangspunkt bleibt stets das Handeln eines Staates oder einer staatlichen Stelle im Rahmen des Unionsrechts.