Begriff und rechtlicher Charakter der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechte-Charta)
Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechte-Charta) ist der verbindliche Grundrechtskatalog der EU. Sie fasst die in der EU geltenden Grund- und Freiheitsrechte zusammen, schützt Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Bürgerrechte und justizielle Garantien und ist als Teil des EU-Primärrechts maßgeblicher Maßstab für das Handeln der EU und der Mitgliedstaaten, soweit sie Unionsrecht anwenden.
Zielsetzung und Funktion
Die Grundrechte-Charta schafft eine klare, für alle EU-Organe einheitliche Grundrechtsgrundlage. Sie bündelt Schutzstandards, macht sie sichtbar und stellt sicher, dass Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung der EU sowie der Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Unionsrecht die geschützten Rechte wahren.
Geltungsbereich
Die Charta bindet sämtliche Institutionen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU. Sie gilt zudem für die Mitgliedstaaten ausschließlich dann, wenn sie Unionsrecht durchführen oder in seinem Anwendungsbereich handeln. In rein innerstaatlichen Sachverhalten ohne Unionsrechtsbezug findet die Charta grundsätzlich keine Anwendung.
Rechtsnatur
Als Bestandteil des EU-Primärrechts steht die Charta auf gleicher Stufe mit den Gründungsverträgen. Sie ergänzt die in den Mitgliedstaaten und auf europäischer Ebene bestehenden Grundrechtstraditionen und knüpft an internationale Menschenrechtsstandards an. Sie wirkt innerhalb der EU-Rechtsordnung unmittelbar als Prüfungsmaßstab für Rechtsakte und behördliches Handeln im Anwendungsbereich des Unionsrechts.
Aufbau und Inhalte der Grundrechte-Charta
Kapitelstruktur
Die Charta gliedert sich in sechs inhaltliche Kapitel und allgemeine Bestimmungen:
- Würde
- Freiheiten
- Gleichheit
- Solidarität
- Bürgerrechte
- Justizielle Rechte
- Allgemeine Bestimmungen (u. a. zu Auslegung, Geltung und Einschränkungen)
Würde
Schutz der Menschenwürde, des Lebens, der körperlichen und geistigen Unversehrtheit sowie des Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung.
Freiheiten
Umfasst unter anderem Respekt des Privat- und Familienlebens, Schutz personenbezogener Daten, Gedanken-, Religions- und Meinungsfreiheit, Kommunikations- und Berufsfreiheiten, Eigentumsschutz sowie Asyl- und Abschiebungsschutz nach EU-Standards.
Gleichheit
Allgemeines Gleichheitsgebot, Verbot der Diskriminierung aus vielfältigen Gründen, Gleichheit von Frauen und Männern, Schutz von Kindern, älteren Menschen und Menschen mit Behinderungen.
Solidarität
Arbeits- und Sozialrechte, etwa faire und gerechte Arbeitsbedingungen, Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung, Sozialversicherung und soziale Unterstützung, Familien- und Gesundheitsbezogene Aspekte, Verbraucher- und Umweltschutz als Querschnittsprinzipien.
Bürgerrechte
Rechte im Zusammenhang mit der Unionsbürgerschaft, darunter Freizügigkeit, Wahlrechte bei Europa- und Kommunalwahlen, Zugang zu Dokumenten, Petitionsrecht und wirksame Verwaltung.
Justizielle Rechte
Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, auf ein faires Verfahren, Unschuldsvermutung, Verteidigungsrechte, Legalitäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Strafrecht.
Besondere Schutzgruppen
Die Charta betont den Schutz von Kindern, älteren Menschen und Menschen mit Behinderungen. Sie verlangt, deren spezifische Bedürfnisse zu berücksichtigen und gleichberechtigte Teilhabe sicherzustellen.
Datenschutz und digitale Grundrechte
Die Charta gewährleistet einen eigenständigen Schutz personenbezogener Daten. Dazu zählt die rechtmäßige Verarbeitung, Transparenz, Zugang und Berichtigung sowie die Kontrolle durch unabhängige Stellen. Digitale Kommunikation, Informations- und Medienfreiheit stehen in engem Zusammenhang mit diesem Schutz.
Anwendungsbedingungen und Grenzen
Bindungsadressaten
Gebunden sind EU-Organe, Einrichtungen und Agenturen in sämtlichen Tätigkeiten. Mitgliedstaaten sind gebunden, wenn sie Unionsrecht umsetzen, anwenden oder durchsetzen. Private sind nicht unmittelbar adressiert; ihre Rechte und Pflichten ergeben sich über gesetzliche Konkretisierungen und die Rechtsprechung.
Einschränkungen und Abwägung
Grundrechte können im Rahmen der Charta eingeschränkt werden, sofern dies gesetzlich vorgesehen ist, legitimen Zielen dient, den Wesensgehalt der Rechte achtet und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht. Es ist eine ausgewogene Abwägung zwischen individuellen Freiheiten und öffentlichen Interessen sicherzustellen.
Rechte, Grundsätze und horizontale Wirkung
Die Charta enthält sowohl konkret einklagbare Rechte als auch Grundsätze, die der Gesetzgeber weiter ausgestalten muss. Einige Bestimmungen sind hinreichend bestimmt und können in Verfahren unmittelbar herangezogen werden; andere wirken leitend und bedürfen politisch-rechtlicher Konkretisierung, insbesondere im sozialrechtlichen Bereich.
Verhältnis zu nationalen Verfassungen und zur EMRK
Die Charta sichert ein unionsweit einheitliches Mindestschutzniveau. Nationale Verfassungen können darüber hinausgehen, soweit die Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts gewahrt bleibt. Die Europäische Menschenrechtskonvention bleibt ein zentraler Referenzrahmen; die Charta wird in Harmonie mit ihr verstanden, kann jedoch in einzelnen Bereichen weitergehenden Schutz gewähren.
Durchsetzung und Kontrolle
Gerichte und Verfahren
Die Beachtung der Charta wird von nationalen Gerichten und vom Gerichtshof der Europäischen Union gewährleistet. Nationale Gerichte wenden die Charta an, wenn sie Unionsrecht auslegen oder anwenden, und können Fragen zur Auslegung dem Gerichtshof vorlegen. Auf EU-Ebene kann die Rechtmäßigkeit von Rechtsakten an der Charta gemessen werden.
Institutionelle Sicherungen
EU-Organe berücksichtigen die Charta bei der Vorbereitung, Verabschiedung und Durchführung von Maßnahmen. Die Europäische Kommission überwacht die Einhaltung des Unionsrechts, wozu auch die Grundrechtebindung im Anwendungsbereich der Charta gehört.
Rechtsfolgen von Verstößen
Verstöße können zur Ungültigkeit oder Unanwendbarkeit betroffener Maßnahmen führen. Je nach Konstellation kommen unionsrechtliche Rechtsbehelfe und Haftungsmechanismen in Betracht. Die konkrete Ausgestaltung richtet sich nach der jeweiligen Verfahrensordnung und dem betroffenen Rechtsakt.
Besondere Themenfelder
Nichtdiskriminierung und Gleichstellung
Die Charta schützt vor ungerechtfertigter Ungleichbehandlung aus unterschiedlichen Gründen. Gleichberechtigung und Inklusion sind Querschnittsanforderungen für Gesetzgebung und Verwaltungspraxis im Anwendungsbereich des Unionsrechts.
Soziale Rechte und ihre Eigenarten
Soziale Gewährleistungen sind teils als einklagbare Rechte, teils als Grundsätze ausgestaltet. Ihre Reichweite orientiert sich an unionsrechtlichen Vorgaben und der weiteren Ausgestaltung durch Gesetzgeber und Tarifordnungen.
Grundrechte im Binnenmarkt und in der Integration
Die Charta flankiert die wirtschaftlichen Grundfreiheiten, indem sie etwa Verbraucherschutz, Datenschutz, faire Verfahren und Nichtdiskriminierung sicherstellt. Sie ist damit integraler Bestandteil einer wertebasierten Integration.
Territorialer und persönlicher Anwendungsbereich
Viele Rechte schützen alle Menschen im Anwendungsbereich des Unionsrechts, einige sind an die Unionsbürgerschaft geknüpft. Maßgeblich ist nicht nur das Territorium, sondern der Bezug zum Unionsrecht und zu Hoheitsträgern, die daran gebunden sind.
Entstehung und Entwicklung
Die Charta wurde im Jahr 2000 proklamiert und ist seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon rechtlich verbindlich. Ergänzende Protokolle einzelner Mitgliedstaaten betreffen die Auslegung und Anwendung, begründen jedoch keine generelle Ausnahme von der Charta. Mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU findet die Charta dort nicht mehr als Teil des EU-Rechts Anwendung; innerhalb der EU gilt sie unverändert fort.
Auslegung und Wechselwirkung mit anderen Quellen
Auslegungskriterien
Für die Auslegung werden Wortlaut, Systematik, Zweck, Entstehungsgeschichte und gemeinsame Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten herangezogen. Erläuterungen zur Charta dienen als Auslegungshilfe.
Bezüge zu internationalen Standards
Internationale Menschenrechtsinstrumente, insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention und einschlägige Abkommen, prägen das Verständnis der in der Charta garantierten Rechte und tragen zu einem kohärenten Schutzniveau bei.
Bedeutung für Alltag und Verwaltung
Die Charta beeinflusst EU-Gesetzgebung und Verwaltungspraxis spürbar: Sie setzt Maßstäbe für den Umgang mit personenbezogenen Daten, die Ausgestaltung fairer Verwaltungs- und Gerichtsverfahren, die Gleichbehandlung im Arbeitsleben, die Transparenz öffentlicher Stellen und den Schutz besonders vulnerabler Gruppen, stets im Rahmen des Anwendungsbereichs des Unionsrechts.
Häufig gestellte Fragen
Für wen gilt die Grundrechte-Charta?
Sie bindet alle Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU in sämtlichen Tätigkeiten sowie die Mitgliedstaaten, wenn sie Unionsrecht durchführen oder im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln.
Gilt die Charta auch in rein nationalen Fällen?
Grundsätzlich nein. Ohne Bezug zum Unionsrecht ist die Charta nicht anwendbar. Nationale Grundrechte und Standards können daneben bestehen.
Worin unterscheidet sich die Charta von der Europäischen Menschenrechtskonvention?
Die Charta ist Teil des EU-Primärrechts und unmittelbar maßgeblich für EU-Organe und Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Unionsrechts. Die Konvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag; beide Instrumente wirken komplementär, die Charta kann teils weitergehenden Schutz gewährleisten.
Können sich Einzelne unmittelbar auf die Charta berufen?
Ja, soweit die einschlägige Bestimmung hinreichend klar, genau und unbedingt ist. Andere Bestimmungen haben Leitliniencharakter und bedürfen der gesetzlichen Konkretisierung.
Welche Rolle spielen nationale Gerichte bei der Durchsetzung?
Nationale Gerichte wenden die Charta an, wenn sie Unionsrecht auslegen oder anwenden, und können Fragen zur Auslegung dem Gerichtshof der Europäischen Union vorlegen.
Enthält die Charta soziale Leistungsrechte?
Sie enthält sowohl einklagbare soziale Rechte als auch Grundsätze. Letztere bedürfen der weiteren Ausgestaltung durch Gesetzgeber und Tarifordnungen, bevor individuelle Ansprüche entstehen.
Wie werden Verstöße gegen die Charta sanktioniert?
Abhängig vom Verfahren können EU-Rechtsakte für ungültig erklärt, nationale Maßnahmen im Anwendungsbereich des Unionsrechts unangewendet bleiben oder Haftungsmechanismen greifen.
Gilt die Charta nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs noch?
Innerhalb der EU gilt die Charta unverändert fort. Im Vereinigten Königreich ist sie nach dem Austritt nicht mehr Teil des dort geltenden EU-Rechts.