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Bundesverfassungsgericht


Begriff und Funktion des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist das höchste deutsche Gericht in Fragen der Verfassung. Es hat seinen Sitz in Karlsruhe und ist im deutschen Staatsorganisationsrecht als eigenständiges Verfassungsorgan fest etabliert. Das Gericht gewährleistet die Einhaltung und Auslegung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und schützt die freiheitlich demokratische Grundordnung. Es agiert unabhängig und ist weder der Exekutive noch der Legislative untergeordnet.

Geschichte und gesetzliche Grundlagen

Historische Entwicklung

Das Bundesverfassungsgericht wurde 1951 auf Grundlage des Grundgesetzes und des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) geschaffen. Seine Einrichtung war ein Novum im deutschen Rechtssystem und Ausdruck der Lehren aus der Zeit des Nationalsozialismus, um den Schutz der Grundrechte und der Verfassung nachhaltig zu sichern.

Verfassungsrechtliche Verankerung

Artikel 93 des Grundgesetzes sowie das Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) bilden die rechtliche Grundlage für die Aufgaben, Zuständigkeiten und die Organisation des Gerichts.

Organisation und Besetzung

Aufbau

Das Bundesverfassungsgericht besteht aus zwei Senaten, die jeweils acht Mitglieder umfassen (§ 2 BVerfGG). Die Senate sind funktional und personell voneinander unabhängig.

Wahl und Ernennung der Richter

Die Bundesverfassungsrichter werden je zur Hälfte vom Deutschen Bundestag sowie vom Bundesrat mit einer qualifizierten Mehrheit gewählt (Art. 94 GG, § 7 BVerfGG). Die Amtszeit beträgt zwölf Jahre, eine Wiederwahl ist ausgeschlossen (§ 4 BVerfGG). Die Ernennung erfolgt durch den Bundespräsidenten.

Geschäftsverteilung und Ausschüsse

Die Geschäftsverteilung regelt die Zuteilung der Verfahren auf die Senate und deren Kammern. Hierbei bestehen feste Zuständigkeitsbereiche für verschiedene Verfahrensarten. Darüber hinaus gibt es einen Präsidialrat und einen Geschäftsverteilungsplan.

Zuständigkeiten und Aufgaben

Allgemeines Aufgabenprofil

Das Bundesverfassungsgericht wacht über die Einhaltung des Grundgesetzes durch alle staatlichen Organe. Es ist für Streitigkeiten mit verfassungsrechtlicher Relevanz zuständig und besitzt dabei die Befugnis, Gesetze und Verordnungen für nichtig zu erklären.

Wesentliche Verfahrensarten

Verfassungsbeschwerde

Die Verfassungsbeschwerde (§§ 90 ff. BVerfGG) ist das häufigste Verfahren und ermöglicht es jeder natürlichen oder juristischen Person, eine Verletzung ihrer Grundrechte durch Maßnahmen der öffentlichen Gewalt geltend zu machen. Sie dient dem Individualrechtsschutz und stellt ein herausragendes Instrument der Verfassungsgerichtsbarkeit dar.

Abstrakte und konkrete Normenkontrolle

Bei der abstrakten Normenkontrolle (§ 76 BVerfGG) kann die Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Drittel der Mitglieder des Bundestages die Vereinbarkeit eines Bundes- oder Landesgesetzes mit dem Grundgesetz überprüfen lassen. Die konkrete Normenkontrolle (§ 80 ff. BVerfGG) setzt ein Vorlagenverfahren eines Gerichts voraus, wenn dieses ein Gesetz für verfassungswidrig hält.

Organstreitverfahren

Im Organstreitverfahren (§ 63 ff. BVerfGG) werden Konflikte zwischen obersten Bundesorganen oder Organteilen über die Auslegung von Verfassungsrechten entschieden.

Bund-Länder-Streitigkeiten

Das Gericht entscheidet im Bund-Länder-Streitverfahren (§ 93 BVerfGG) bei Streitigkeiten über Kompetenzen und Rechte zwischen Bund und Ländern.

Sonstige Verfahren

Weitere Verfahren betreffen beispielsweise Parteiverbotsverfahren (§ 13 Nr. 2 BVerfGG), Richteranklage (§ 13 Nr. 5 BVerfGG) oder Wahlprüfungsbeschwerden (§ 13 Nr. 3 BVerfGG).

Wirkung und Bedeutung der Entscheidungen

Rechtskraft und Bindungswirkung

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (§ 31 BVerfGG) sind endgültig, unanfechtbar und für alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie für alle Gerichte und Behörden bindend. Im Falle der Nichtigkeitserklärung eines Gesetzes verliert dieses rückwirkend seine Gültigkeit.

Präjudizielle Wirkung

Das Bundesverfassungsgericht setzt Maßstäbe für die Auslegung und Anwendung des Verfassungsrechts. Seine Entscheidungen haben präjudizielle Wirkung für nachgeordnete Gerichte und Behörden.

Verfahrensgrundsätze

Öffentlichkeitsgrundsatz und Mündlichkeit

Verhandlungen sind grundsätzlich öffentlich (§ 25 BVerfGG), der Grundsatz der Mündlichkeit gilt auch vor dem Bundesverfassungsgericht.

Beteiligtenfähigkeit und Antragsbefugnis

Grundsätzlich ist im Antragsverfahren die Beteiligtenfähigkeit auf bestimmte verfassungsmäßige Organe, im Verfassungsbeschwerdeverfahren auf jene, die geltend machen, durch die öffentliche Gewalt in ihren Grundrechten verletzt zu sein, beschränkt.

Form und Frist

Anträge und Beschwerden sind formpflichtig (§ 23 BVerfGG) und teils fristgebunden – zum Beispiel binnen eines Jahres nach Kenntniserlangung der behaupteten Grundrechtsverletzung (§ 93 BVerfGG).

Verhältnis zu anderen Gerichten und internationalen Instanzen

Das Bundesverfassungsgericht steht an der Spitze der nationalen Gerichtsbarkeit, prüft jedoch lediglich Verfassungsfragen und keine Tatsachen. Es ist in seiner Entscheidungsfindung unabhängig, jedoch im europäischen Kontext an grundlegende Bestimmungen des Unionsrechts gebunden, wobei es hierzu eine eigene Rechtsprechung (Maastricht-Urteil, Lissabon-Urteil) entwickelt hat. Die Zusammenarbeit und der Kompetenzkonflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof (EuGH) sind fortwährende Themen verfassungsrechtlicher Diskussion.

Bedeutung für Rechtsstaat und Demokratie

Das Bundesverfassungsgericht ist ein zentrales Schutzorgan für die Rechte der Bürgerinnen und Bürger und die Einhaltung einer rechtsstaatlichen Ordnung. Es trägt maßgeblich dazu bei, grundlegende Prinzipien wie die Gewaltenteilung und die Bindung der Gesetzgebung an die Verfassung durchzusetzen.

Literaturhinweise

  • Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG)
  • Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (www.bundesverfassungsgericht.de)
  • Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG)
  • Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland

Dieser Artikel bietet eine umfassende, detaillierte und rechtlich fundierte Darstellung des Begriffs Bundesverfassungsgericht und beleuchtet alle wesentlichen Aspekte seiner Funktion, Organisation, Verfahren und Bedeutung im deutschen Rechtsstaat.

Häufig gestellte Fragen

Welche Voraussetzungen müssen für eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht erfüllt sein?

Die Verfassungsbeschwerde ist ein zentrales Instrument des Grundrechtsschutzes in Deutschland und kann von jedermann erhoben werden, der geltend macht, durch die öffentliche Gewalt in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; §§ 90 ff. BVerfGG). Voraussetzung ist zunächst, dass der Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist (sog. Beschwerdebefugnis). Weiterhin müssen sämtliche prozessuale Wege erschöpft sein, das heißt, vor Einreichung der Verfassungsbeschwerde müssen alle zur Verfügung stehenden Rechtsmittel, insbesondere gerichtliche, eingelegt worden sein (Grundsatz der Subsidiarität). Die Beschwerde muss außerdem innerhalb einer Frist von einem Monat nach Zustellung der zuletzt ergangenen Entscheidung erhoben werden. In besonderen Fällen – etwa bei Anfechtung eines Gesetzes – gilt eine Jahresfrist. Die Beschwerdeschrift muss den angegriffenen Hoheitsakt, das verletzte Grundrecht sowie die konkrete und substantiiert begründete Rüge der Grundrechtsverletzung enthalten. Unzulässige oder offensichtlich unbegründete Beschwerden werden häufig bereits im sogenannten Annahmeverfahren ohne Begründung abgewiesen (§ 93b BVerfGG).

In welchen Fällen entscheidet das Bundesverfassungsgericht verbindlich für andere Gerichte und Behörden?

Die Urteile und Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts haben gemäß § 31 BVerfGG Gesetzeskraft, soweit sie die Rechtsverhältnisse der am Verfahren Beteiligten betreffen. Bei Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsentscheidungen wirkt die Entscheidung bindend nur inter partes, also zwischen den Parteien. Wird hingegen ein Gesetz als verfassungswidrig festgestellt und für nichtig erklärt (z. B. bei einer abstrakten oder konkreten Normenkontrolle), so ist diese Entscheidung für alle deutschen Gerichte und Behörden verbindlich. Sie dürfen das beanstandete Gesetz nicht mehr anwenden (§ 31 Abs. 2 BVerfGG). Besonders bedeutsam ist dies für Grundsatzentscheidungen, da sich hierdurch die Rechtslage in Deutschland umfassend ändert und alle anderen Gerichte an die Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts gebunden sind.

Welche Bedeutung hat das Bundesverfassungsgericht bei der Auslegung des Grundgesetzes?

Das Bundesverfassungsgericht ist das höchste deutsche Verfassungsorgan für die Auslegung der Verfassung und hat im deutschen Rechtssystem die Letztentscheidungsbefugnis in allen verfassungsrechtlichen Fragen. Seine Auslegung des Grundgesetzes ist maßgebend und bindet alle anderen Staatsorgane, insbesondere Gerichte und Behörden. Durch seine Rechtsprechung präzisiert und konkretisiert das Bundesverfassungsgericht die Grundrechte, die Prinzipien des Rechtsstaates sowie die föderale Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Es entwickelt die verfassungsrechtlichen Maßgaben oftmals im Wege der sogenannten verfassungskonformen Auslegung und der Herstellung praktischer Konkordanz zwischen den betroffenen Rechtsgütern weiter. Damit sichert es nicht nur die unmittelbare Rechtsanwendung im Einzelfall, sondern gestaltet gerade auch die langfristige Entwicklung des Verfassungsrechts entscheidend mit.

Inwieweit können politische Parteien das Bundesverfassungsgericht anrufen?

Politische Parteien können das Bundesverfassungsgericht auf verschiedenen Wegen grundsätzlich dann anrufen, wenn sie in ihren durch das Grundgesetz geschützten Rechten betroffen sind. Ein zentrales Verfahren ist die Parteiverbotsklage nach Art. 21 Abs. 2 GG. Diese kann nur von Bundestag, Bundesregierung oder Bundesrat eingereicht werden. Weiterhin steht politischen Parteien der Weg der Organstreitigkeit offen, wenn sie meinen, in ihren Rechten als verfassungsrechtliches Organ verletzt worden zu sein (§§ 63 ff. BVerfGG). Auch im Wege der abstrakten oder konkreten Normenkontrolle (§ 76, § 80 BVerfGG) besteht unter bestimmten Umständen ein Anrufungsrecht. Nicht zuletzt können Funktionsträger oder deren Vertretungsorgane – etwa Parteivorstände – auch individuelle oder institutionelle Rechte über die Verfassungsbeschwerde verfolgen, insbesondere, wenn parteibezogene Grundrechte betroffen sind (zum Beispiel Parteienrechte nach Art. 21 GG oder Art. 3 GG im Kontext der Chancengleichheit).

Welche Rolle spielt das Bundesverfassungsgericht bei der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen?

Das Bundesverfassungsgericht hat die Aufgabe, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, Rechtsverordnungen und anderen Hoheitsakten zu überprüfen. Dies geschieht vor allem über das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle, bei der ein Gesetz unabhängig von einem Einzelfall überprüft werden kann (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG; § 76 BVerfGG), oder über die konkrete Normenkontrolle, bei der ein Gericht im konkreten Rechtsstreit Zweifel an der Verfassungskonformität eines Gesetzes hat und das Verfahren aussetzt, um dem Bundesverfassungsgericht die Prüfung zu überlassen (§ 80 BVerfGG). Wird ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt, kann das Bundesverfassungsgericht es entweder vollständig für nichtig oder nur für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklären. Im letzteren Fall gibt es dem Gesetzgeber eine Frist zur Nachbesserung (sogenannte „Fortgeltungsanordnung“). Sämtliche deutschen Gerichte und Behörden sind an diese Entscheidungen gebunden (§ 31 BVerfGG).

Wann kann das Bundesverfassungsgericht im Organstreitverfahren angerufen werden?

Ein Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht kann immer dann eingeleitet werden, wenn oberste Bundesorgane – etwa Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung, Bundespräsident oder deren Teile – darüber streiten, ob beziehungsweise wie ihre verfassungsmäßigen Rechte und Pflichten gegeneinander verletzt oder abgegrenzt werden. Es handelt sich hierbei um ein sogenanntes kontradiktorisches Verfahren, in dem das BVerfG klärt, ob einer der beteiligten Verfassungsorgane (oder Organteile) durch Maßnahmen oder Unterlassungen eines anderen in seinen ihm durch das Grundgesetz oder durch die Geschäftsordnungen zugewiesenen Rechten verletzt wurde. Im Zentrum des Organstreitverfahrens steht die Wahrung der institutionellen Kompetenzordnung und die Sicherstellung des Gleichgewichts der Verfassungsorgane. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist zum Zwecke der Rechtssicherheit verbindlich (§ 67 BVerfGG) und von allen Verfassungsorganen zu beachten.

Unter welchen Voraussetzungen kann eine einstweilige Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht ergehen?

Das Bundesverfassungsgericht kann nach § 32 BVerfGG zur Abwendung schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen eine einstweilige Anordnung treffen, insbesondere zur Sicherung des Ausgangs eines anhängigen Verfahrens. Voraussetzung ist die schlüssige Darlegung, dass ohne eine solche Anordnung erhebliche, nicht wiedergutzumachende Nachteile drohen, die bei einer endgültigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht mehr oder nur unter großen Schwierigkeiten beseitigt werden können. Das Gericht prüft dabei ausführlich, ob das Aufschieben der Entscheidung für den Antragsteller unzumutbar wäre und ob die Belange des Antragstellers die öffentlichen Belange sowie die Interessen der Allgemeinheit überwiegen. Die Entscheidung über eine einstweilige Anordnung ergeht regelmäßig ohne mündliche Verhandlung und kann auch aufgehoben oder geändert werden, wenn sich die Umstände ändern. Sie stellt keine Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung dar, sondern dient ausschließlich einer Sicherungsfunktion bis zur abschließenden Entscheidung.