Scheidung trotz kindlicher Belastung durch elterliche Trennung: Entscheidungsmaßstäbe und gerichtliche Bewertung
Das Oberlandesgericht Stuttgart hat unter dem Aktenzeichen 18 UF 30/23 am 17. Januar 2024 ein Urteil veröffentlicht, das die Frage beleuchtet, inwieweit die psychische Belastung minderjähriger Kinder durch die Trennung ihrer Eltern einen Hinderungsgrund für die Ehescheidung gemäß § 1568 BGB (Sozialschutzklausel) darstellen kann. Die Entscheidung verdeutlicht, unter welchen Umständen ein Absehen von einer Scheidung in Betracht kommt und welche Grenzen dem Gesetzgeber gesetzt sind.
Rechtlicher Rahmen der Ehescheidung
Nach deutschem Familienrecht kann eine Ehe gemäß § 1565 Abs. 1 BGB geschieden werden, wenn sie gescheitert ist und die Lebensgemeinschaft der Ehegatten nicht mehr besteht. Der Gesetzgeber sieht jedoch in Ausnahmefällen vor, dass von einer Scheidung abgesehen werden soll, wenn und solange die Auflösung der Ehe für gemeinsame minderjährige Kinder oder einen Ehegatten aufgrund außergewöhnlicher Umstände eine unzumutbare Härte darstellen würde (§ 1568 BGB).
Maßgebliche Kriterien für die Anwendung der Härteklausel
Voraussetzungen und Begrenzungen
Das OLG Stuttgart betont in seinem Urteil, dass die Anwendung der unzumutbaren Härte im Sinne des § 1568 BGB restriktiv auszulegen ist. Es ist nicht ausreichend, dass die Kinder durch die Trennungssituation unter psychischen Belastungen leiden, da der Gesetzgeber davon ausgeht, dass eine Trennungssituation in den meisten Fällen grundsätzlich eine psychische Belastung für betroffene Kinder mit sich bringt. Für ein Absehen von der Scheidung bedarf es vielmehr einer außergewöhnlichen Konstellation, deren Auswirkungen deutlich über das „normale Maß“ an Belastung hinausgehen.
Erforderliches Maß der Kindeswohlbeeinträchtigung
Die gerichtliche Praxis verlangt für eine Erfolgsaussicht nach § 1568 BGB, dass eine Scheidung eine schwerwiegende, außergewöhnlich intensive und konkrete Beeinträchtigung des Kindeswohls zur Folge hätte. Standardmäßige Verlusterfahrungen, wie sie bei Trennungs- und Scheidungsfällen regelmäßig auftreten, rechtfertigen ein Absehen von der Ehescheidung nicht. Die Schwelle für eine „unzumutbare Härte“ wird erst dann überschritten, wenn das Kindeswohl durch die Scheidung in einer Weise gefährdet ist, die überdurchschnittlich gravierende psychische oder physische Folgen nach sich zieht und das Kind nachhaltig beeinträchtigen würde.
Beweislast und Prüfung durch die Gerichte
Auch unter Berücksichtigung eingeholter kinderpsychologischer oder familienpsychologischer Gutachten prüft das Gericht eingehend, ob tatsächlich eine solche außergewöhnliche Härte vorliegt. Hierbei ist stets sorgfältig abzuwägen, ob die Nachteile einer Ehefortführung – etwa durch ständiges elterliches Konfliktpotential – nicht sogar stärker wiegen als eine Scheidung. Der Gesetzgeber beurteilt insoweit umfassend, dass eine aufrechterhaltene Scheinehe im Regelfall nicht dem Kindeswohl dient.
Folgerungen des Urteils des OLG Stuttgart
Im entschiedenen Fall argumentierte die Partei gegen die Scheidung mit der Beeinträchtigung der gemeinsamen Kinder durch die Trennungssituation. Das Gericht stellte jedoch klar, dass diese psychischen Belastungen, so nachvollziehbar und ernst zu nehmen sie sind, keinesfalls die strengen Voraussetzungen der Ausnahmeregelung erfüllen. Lediglich bei nachweislichen, außerordentlichen und durch die Scheidung ausgelösten Beeinträchtigungen, beispielsweise manifesten psychischen Erkrankungen, die direkt auf die Trennungshandlung zurückzuführen sind, könnte unter Umständen ein Absehen von der Scheidung angezeigt sein. Im vorliegenden Fall sah das OLG trotz Leiden der Kinder das Vorliegen einer „unzumutbaren Härte“ nicht gegeben und hielt daher am Grundsatz der Ehescheidung fest.
Gesellschaftliche und rechtliche Relevanz der Entscheidung
Das Urteil unterstreicht die Bedeutung einer differenzierten Interessenabwägung im familienrechtlichen Kontext. Insbesondere weist es darauf hin, dass Scheidungsverfahren stets einzelfallbezogen bewertet werden müssen und bloße emotionale Belastungen gemeinsame Kinder nicht automatisch davor schützen, dass die elterliche Ehe aufgelöst wird. Damit schützt das Gericht einerseits das Kindeswohl vor objektiv unzumutbaren Folgen, wahrt andererseits jedoch auch die grundgesetzlich verbrieften Persönlichkeits- und Freiheitsrechte der Eheleute.
Quellenhinweis
Die Entscheidung beruht auf dem Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart (Az. 18 UF 30/23) vom 17. Januar 2024. Für die korrekte Einordnung wird auf die offizielle Veröffentlichung unter https://urteile.news/OLG-Stuttgart18-UF-3023Kein-Absehen-von-Scheidung-bei-Leiden-der-Kinder-unter-Trennung~N33637 verwiesen.
Sollten Sie vor dem Hintergrund einer anstehenden Trennung oder Scheidung Fragen zu den rechtlichen Vorgaben und Gestaltungsmöglichkeiten haben, stehen die Rechtsanwälte von MTR Legal gerne für eine individuelle Beratung zur Verfügung.