Kein Anspruch auf Herausgabe von S-Bahn-Videoaufnahmen – Rechtsprechung des OVG Berlin-Brandenburg und deren Tragweite
Am 16. Mai 2023 bestätigte das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (Az.: OVG 12 B 1.23), dass Privatpersonen nicht grundsätzlich einen Anspruch auf Herausgabe von Videoaufzeichnungen aus öffentlich betriebenen Überwachungskameras der S-Bahn geltend machen können. Die Entscheidung wirft ein Schlaglicht auf die komplexen datenschutzrechtlichen und verfahrensrechtlichen Abwägungen im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch einer identifizierten Person, auf Bildaufzeichnungen zuzugreifen, und den Pflichten sowie Befugnissen verantwortlicher Stellen im öffentlichen Personenverkehr.
Hintergrund des Falles
Sachverhalt und Verfahrensgang
Dem Urteil lag die Klage eines Fahrgasts zugrunde, der nach einem Vorfall in einer S-Bahn von der Deutsche Bahn AG die Herausgabe von spezifischen Überwachungsaufnahmen begehrte, auf denen er mutmaßlich abgebildet war. Ziel des Klägers war insbesondere, das Videomaterial zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche gegen unbekannte Dritte zu nutzen. Nachdem schon das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen hatte, bestätigte nun das OVG die Entscheidung der Vorinstanz und lehnte einen allgemeinen Herausgabeanspruch ab.
Relevanz der Videoüberwachung
Die Ausweitung der Videoüberwachung im öffentlichen Raum dient sowohl dem Schutz vor kriminellen Handlungen als auch der Aufklärung von Vorfällen. Daraus erwächst ein gesteigertes Bedürfnis zahlreicher Beteiligter, auf gespeicherte Aufnahmen zugreifen zu können. Die nunmehr geltend gemachte Forderung nach Herausgabe betrifft dabei einen besonders sensiblen Bereich des Datenschutzes, in dem zahlreiche Interessen miteinander kollidieren.
Rechtlicher Rahmen der Herausgabe von Videoaufnahmen
Anwendbarkeit der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO)
Gemäß Art. 15 Abs. 1 DSGVO besteht für betroffene Personen grundsätzlich ein Recht auf Auskunft über die sie betreffenden personenbezogenen Daten, die ein Verantwortlicher verarbeitet. Nach Art. 15 Abs. 3 DSGVO kann dies auch das Recht umfassen, eine Kopie dieser Daten zu erhalten. Gleichwohl ist diese Regelung nicht grenzenlos: Das OVG setzte sich ausführlich mit der Auslegung der einschlägigen Vorschriften und den datenschutzrechtlichen Schranken auseinander.
Divergierende Interessen und schutzwürdige Belange Dritter
Auch wenn das Auskunftsrecht eine hohe Bedeutung für die individuelle Kontrolle über eigene Daten hat, ist es nicht zwingend auf eine Herausgabe von Videoaufnahmen im Sinne von Kopien zu erstrecken. Das Gericht betonte, dass insbesondere die berechtigten Interessen und Rechte anderer abgebildeter Personen sowie die Belange betroffener Stellen – wie der Betreiber der S-Bahn – zu berücksichtigen seien (Art. 15 Abs. 4 DSGVO). Eine Herausgabe an betroffene Einzelpersonen könnte die Persönlichkeitsrechte weiterer auf der Aufnahme abgebildeter Menschen beeinträchtigen.
Technische, organisatorische und rechtliche Herausforderungen
Die gerichtliche Entscheidung würdigt ferner die enormen technischen und organisatorischen Hürden einer selektiven Herausgabe individueller Bilddaten aus großflächig erhobenen Videoaufzeichnungen. Eine datenschutzkonforme Schwärzung aller übrigen Bildelemente ist regelmäßig nicht mit vertretbarem Aufwand möglich. Die Verarbeitung und Weitergabe solcher Aufnahmen ist zudem grundsätzlich auf die Erfüllung des ursprünglichen Aufzeichnungszwecks beschränkt, wie etwa zur Verfolgung von Straftaten oder bei konkreter Gefährdungslage.
Auswirkungen der Entscheidung
Begrenzung auf behördliche Weitergabe
Das OVG stellte klar, dass der Zugang zu Überwachungsdaten in der Vergangenheit lediglich unter Einbindung der Strafverfolgungsbehörden zu gewähren ist. Die Polizei oder Staatsanwaltschaft kann im Rahmen laufender Ermittlungen im Einzelfall eine Herausgabe erwirken, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen gegeben sind. Ein unmittelbarer Anspruch des Einzelnen auf Kopie oder Herausgabe der Videodaten, etwa zur Vorbereitung oder Durchführung privater Rechtsstreitigkeiten, besteht demnach grundsätzlich nicht.
Schutz der betroffenen Rechte
Die Entscheidung verstärkt die Position der Aufzeichnungsbetreiber, insbesondere solcher, die im öffentlichen Verkehrssektor tätig sind. Sie stellt jedoch auch klar, dass der Schutz personenbezogener Daten ganz unterschiedlicher Beteiligter sowie die Wahrung sonstiger schutzwürdiger Interessen (z.B. Sicherheit und Integrität der Bahninfrastruktur) nicht durch expansive Auslegung des Auskunfts- und Kopienrechts kompromittiert werden dürfen.
Mögliche Konsequenzen für Verantwortliche und Betroffene
Dies kann gerade für Unternehmen und Institutionen, die Überwachungssysteme betreiben, bedeuten, dass sie den Zugang zu gespeicherten Daten weiterhin sehr selektiv und restriktiv gestalten müssen. Auch Privatpersonen, die bei Übergriffen oder Unfällen auf die Mithilfe von Überwachungsdaten setzen, müssen sich darauf einstellen, dass regelmäßig nur die zuständigen Behörden eine Einsicht und Weitergabe im Rahmen klar definierter Rechtsgrundlagen veranlassen können.
Ausblick und Bedeutung für die Praxis
Das Urteil schafft Klarheit hinsichtlich der Grenzen individueller datenschutzrechtlicher Ansprüche auf Zugriffsgewährung im Zusammenhang mit Videoaufzeichnungen im öffentlichen Personenverkehr. Es betont zugleich die Notwendigkeit einer sorgfältigen Interessenabwägung und einer konsequenten Einhaltung datenschutzrechtlicher Vorgaben seitens betreibender Unternehmen. Die Entscheidung erlangt weit über den Einzelfall hinaus Bedeutung für vergleichbare Konstellationen in anderen sensiblen Überwachungsbereichen.
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