Kapitalmarktrechtliche Ersatzansprüche von Wirecard-Aktionären: Keine Berücksichtigung als Insolvenzforderungen – Einordnung und Hintergründe
Die Causa Wirecard hat national wie international weitreichende Diskussionen über die Haftung und den Schutz von Aktionären ausgelöst. Insbesondere steht die Frage im Fokus, ob Aktionäre Schadensersatzforderungen, die sich aus kapitalmarktrechtlichen Pflichtverletzungen ableiten, im Insolvenzverfahren gegen die Wirecard AG als Insolvenzforderung zur Insolvenztabelle anmelden können. Mit Urteil vom 29. November 2022 hat das Landgericht München I (Az. 29 O 7754/21) zu diesem Problemkreis richtungsweisende Vorgaben gemacht.
Einordnung der Entscheidung des Landgerichts München I
Hintergrund und Verfahrensgegenstand
Nach dem Bekanntwerden des Wirecard-Skandals sahen sich zahlreiche Aktionäre massiven Vermögensverlusten ausgesetzt. Viele stützten Ersatzansprüche auf die behauptete Verletzung kapitalmarktrechtlicher Informationspflichten, insbesondere im Zusammenhang mit angeblichen unzutreffenden oder fehlenden Ad-hoc-Mitteilungen sowie der Verletzung weiterer kapitalmarktrechtlicher Vorgaben durch die Gesellschaft oder deren Organe.
Vor diesem Hintergrund haben Aktionäre Schadensersatzforderungen beim Insolvenzverwalter der Wirecard AG als Insolvenzforderungen zur Insolvenztabelle (§ 38 InsO) angemeldet. Über die Zulässigkeit dieser Vorgehensweise hatte das Landgericht München I zu befinden.
Kernaussage des Urteils
Das Landgericht München I hat klargestellt, dass Ersatzansprüche von Aktionären aus Kapitalmarktrecht nicht als Insolvenzforderungen im Sinne der §§ 38 ff. InsO zur Tabelle angemeldet werden können. Nach Auffassung des Gerichts ist derartige Anspruchsgrundlage vielmehr nachrangig im Sinne von § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO zu behandeln.
Begründet wird dies vor allem damit, dass die geltend gemachten Ansprüche dem Eigenkapitalcharakter der Aktionäre unterliegen. Sie seien Ausdruck des gesellschaftsrechtlichen Risiko- und Haftungsverhältnisses zwischen Aktionär und Gesellschaft und deshalb als nachrangige Insolvenzforderungen zu qualifizieren. Ein Gleichlauf mit echten Gläubigern der Aktiengesellschaft, deren Forderungen auf einem Austauschverhältnis beruhen, widerspreche dem Regelungskonzept des Insolvenzrechts.
Auch die Bezugnahme auf mögliche deliktische Schadensersatzansprüche führt nach Ansicht des Gerichts zu keinem anderen Ergebnis. Selbst bei deliktischen Anspruchsgrundlagen bleibe der Bezug zur gesellschaftsrechtlichen Beteiligung prägend.
Rechtliche und praktische Konsequenzen für Aktionäre
Auswirkungen auf das Insolvenzverfahren
Durch die Qualifizierung als nachrangige Forderung, § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO, werden Ansprüche aus dem Erwerb oder der Zeichnung von Aktien, die auf der Verletzung kapitalmarktrechtlicher Informationspflichten gründen, im Insolvenzverfahren erst nach vollständiger Befriedigung aller vorrangigen Insolvenzforderungen (z.B. Forderungen aus Lieferungen, Leistungen, Darlehen etc.) berücksichtigt. In der Praxis führt dies regelmäßig dazu, dass eine tatsächliche Befriedigung solcher Ansprüche ausgeschlossen ist.
Abgrenzung zu anderen Gläubigergruppen
Ein wesentliches Anliegen des Insolvenzrechts ist die Gläubigergleichbehandlung unter Berücksichtigung des jeweiligen Rangs und Risikoverhältnisses. Das Gericht betont, dass Aktionäre als „Eigenkapitalgeber“ am unternehmerischen Risiko der Gesellschaft partizipieren und deshalb im Fall der Insolvenz hinter den Forderungen der Fremdkapitalgeber zurückstehen müssen. Dies umfasst auch Situationen, in denen Aktionäre auf Pflichtverletzungen der Gesellschaft abstellen.
Kapitalmarktrechtlicher Anlegerschutz und gesellschaftsrechtlicher Nachrang
Die Entscheidung reflektiert die systematische Abgrenzung zwischen kapitalmarktrechtlichen Ersatzansprüchen und dem gesellschaftsrechtlichen Nachrangprinzip. Während Anlegerschutz im KapMuG-Verfahren und die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen aus Irreführung am Kapitalmarkt grundsätzlich anerkannt sind, finden sich im Insolvenzverfahren enge rechtliche Grenzen, soweit der Anspruch an der Gesellschafterstellung anknüpft.
Ausblick und weitere Entwicklungen
Die Entscheidung des Landgerichts München I fügt sich in die bislang restriktive Linie der Rechtsprechung zu Schadensersatzansprüchen aus dem Bereich des Kapitalmarktrechts, die durch die gesellschaftsrechtliche Verbindung des Aktionärs mit der Gesellschaft geprägt sind. Die Möglichkeit, Ansprüche als Insolvenzforderungen zu realisieren, bleibt für Aktionäre damit in aller Regel versperrt.
Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Rechtsauffassung auch in höheren Instanzen und in anderen, ähnlich gelagerten Fällen durchsetzen wird. In der Zwischenzeit ist das Verfahren um die politischen, aufsichtsrechtlichen und strafrechtlichen Facetten des Wirecard-Komplexes weiterhin Gegenstand laufender Ermittlungen und gerichtlicher Verfahren; die Unschuldsvermutung gilt entsprechend.
Fazit und mögliche Schritte
Nach gegenwärtiger Rechtslage sehen sich Aktionäre, die sich durch kapitalmarktrechtliche Pflichtverletzungen geschädigt sehen, im Insolvenzverfahren regelmäßig auf eine nachrangige Position verwiesen. Die gerichtliche Einordnung betont das Auseinanderfallen kapitalmarktrechtlicher Schadensersatzansprüche und insolvenzrechtlicher Forderungsberechtigung.
Quelle: Landgericht München I, Urteil vom 29.11.2022, Az. 29 O 7754/21
Weiterführende Beratung
In Anbetracht der Komplexität und der fortdauernden Rechtsentwicklung rund um den Wirecard-Fall sowie im Bereich des Kapitalmarkt- und Insolvenzrechts, empfiehlt es sich, sich bei Fragestellungen oder Unsicherheiten an erfahrene Rechtsberater zu wenden. Die Rechtsanwälte von MTR Legal stehen insbesondere Unternehmen, Investoren und weiteren Beteiligten bundesweit und international für eine fundierte Einschätzung zur Verfügung.