Am 5. September 2024 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem vielbeachteten Verfahren die Entscheidung der Europäischen Kommission, den Zusammenschluss des US-amerikanischen Biotechnologieunternehmens Illumina mit dem im Bereich Krebstests tätigen Unternehmen Grail zu untersagen, für nichtig erklärt (EuGH, verb. Rechtssachen C-611/22 P und C-625/22 P). Diese Entscheidung markiert einen bedeutsamen Meilenstein in der europäischen Zusammenschlusskontrolle und unterstreicht die unionsrechtlichen Anforderungen an die Kompetenzerweiterung der Kommission im Zusammenhang mit Marktkonzentrationen, die bislang nicht die üblichen Umsatzschwellen des europäischen Fusionskontrollregimes überschreiten.
Hintergrund des Zusammenschlusses
Illumina ist ein US-amerikanisches Biotechnologieunternehmen, das vorrangig innovative Technologien im Bereich der Genomsequenzierung entwickelt und vertreibt. Grail hingegen ist auf die Entwicklung von Bluttests zur frühzeitigen Erkennung verschiedener Krebsarten spezialisiert und kann als Pionier in der sogenannten Liquid Biopsy gelten. Im Jahr 2020 beabsichtigte Illumina, sämtliche Anteile an Grail zu erwerben, um damit Zugang zu neuartigen Diagnoseverfahren auf der Grundlage der molekularen Genomanalyse zu erhalten.
Der geplante Erwerb unterlag zunächst nicht der Fusionskontrolle auf europäischer Ebene, da weder Illumina noch Grail die maßgeblichen Umsatzschwellen nach der EU-Fusionskontrollverordnung (FKVO) überschritten. Aufgrund von Hinweisen Dritter griff jedoch eine erst jüngst eingeführte Erweiterung der Zusammenschlusskontrolle nach Art. 22 FKVO, wonach auch Zusammenschlüsse, die keine Umsatzschwellen erreichen, von den nationalen Wettbewerbsbehörden an die Kommission verwiesen werden können.
Untersagung durch die Europäische Kommission
Im Jahr 2022 untersagte die Kommission die Übernahme mit der Begründung, dass durch den Zusammenschluss eine erhebliche Behinderung des Wettbewerbs auf dem Zukunftsmarkt für Krebstestverfahren zur frühzeitigen Erkennung entstehen könne. Insbesondere drohten Innovationen im Bereich der Diagnostik durch die Integration kritischer Technologien in den Illumina-Konzern strukturell gefährdet zu werden. Die Kommission stützte sich dabei ausdrücklich auf Art. 22 FKVO und begründete ihre Zuständigkeit mit der Notwendigkeit, potenzielle Wettbewerbsbeeinträchtigungen bereits im Entstehungsstadium eines Marktes effektiv zu adressieren.
Die betroffenen Unternehmen argumentierten hingegen, die Übertragungskompetenz nach Art. 22 FKVO sei unionsrechtswidrig angewandt worden, da ein entsprechender Bezug zum Binnenmarkt ebenso wenig wie eine unmittelbare Gefahr für den Wettbewerb festgestellt werden könne. Zudem wurde geltend gemacht, dass die Kommission in unzulässiger Weise Zuständigkeiten an sich gezogen habe, die nicht im Einklang mit der Fusionskontrollverordnung stünden.
Entscheidung des EuGH: Nichtigkeit der Untersagung
Der EuGH hob die Entscheidung der Kommission mit Urteil vom 5. September 2024 auf. Nach Ansicht des Gerichts hatte die Kommission die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme ihrer erweiterten Zuständigkeit durch Art. 22 FKVO nicht hinreichend dargelegt. Demnach fehle es an einer hinreichenden Gefährdung für den Wettbewerb, die über hypothetische Annahmen hinausgehe, sowie an einem ausreichenden Bezug zum Binnenmarkt. Der Gerichtshof betonte weiter, dass die Befugnis der Kommission zur Kontrolle von Zusammenschlüssen ohne die Einhaltung klarer Zuständigkeitskriterien rechtsstaatlichen Grundsätzen und dem Gebot der Rechtssicherheit widerspreche.
Bemerkenswert ist zudem, dass der Gerichtshof die Bedeutung effektiver Kontrolle von Marktentwicklungen im digitalen und biotechnologischen Sektor durchaus anerkennt, dabei jedoch die Notwendigkeit betont, dass regulatorische Kompetenzausweitungen stets auf eindeutigen unionsrechtlichen Grundlagen beruhen müssen. Insbesondere darf eine nachträgliche Heranziehung von Zusammenschlüssen, zu denen ursprünglich keine Kontrollkompetenz bestand, nicht zu einer unvorhersehbaren Rechtsanwendung führen.
Auswirkungen und Bedeutung für den Wirtschaftsstandort Europa
Bedeutung für die Fusionskontrolle
Das Urteil hat weitreichende Folgen für die künftige Anwendung von Art. 22 FKVO und die Handhabung von Unternehmenszusammenschlüssen im Innovationssektor. Die Entscheidung des EuGH setzt der Kommission erneut rechtsstaatliche Schranken, den Anwendungsbereich der FKVO im Wege der teleologischen Auslegung über ihren Wortlaut hinaus auszuweiten. Zusammenschlussvorhaben, die die gesetzlichen Umsatzschwellen nicht überschreiten, unterliegen somit nur dann der erweiterten Kontrolle, wenn belastbare Anhaltspunkte für eine konkrete Wettbewerbsgefährdung innerhalb des Binnenmarktes vorliegen.
Rechtssicherheit und Investitionsklima
Die Entscheidung trägt maßgeblich zur Stärkung der Rechtssicherheit auf dem europäischen Markt bei. Potenzielle Investoren und Unternehmen erhalten Planungssicherheit darüber, in welchen Fällen eine fusionskontrollrechtliche Überprüfung auf EU-Ebene zu erwarten ist. Es bleibt Aufgabe des europäischen Gesetzgebers, die bestehenden Regelungen – insbesondere für innovative und dynamische Märkte – weiterzuentwickeln und gegebenenfalls klare Kriterien für die Anwendbarkeit der Fusionskontrolle unterhalb der Umsatzschwellen zu definieren.
Ausblick
Das Urteil des EuGH schafft einen wichtigen Präzedenzfall für die unionsrechtliche Kontrolle neuartiger und technologiegetriebener Transaktionen. Gleichwohl bleibt abzuwarten, wie die Europäische Kommission auf diese Entscheidung reagiert und ob eine erneute Anpassung der Fusionskontrollverordnung erfolgen wird, um die Balance zwischen Innovationsschutz und effektivem Wettbewerb künftig noch besser auszutarieren. Ebenfalls ist zu berücksichtigen, dass der Kommission gegenwärtig weiterhin Rechtsmittel zur Verfügung stehen; die rechtliche Entwicklung bleibt daher im Fluss.
Im Hinblick auf die anhaltende Dynamik des europäischen und internationalen Kartellrechts sollten Betroffene Entwicklungen aufmerksam verfolgen und bei konkreten Fragen zur Anwendbarkeit, zum Ablauf oder zu den Risiken der europäischen Fusionskontrolle auf fundierte Beratung zurückgreifen. Die Rechtsanwälte von MTR Legal beraten Unternehmen und Investoren bundesweit und international, insbesondere im Kontext komplexer Zusammenschlussvorhaben und bei Fragen regulatorischer Rahmenbedingungen.