Kritik des Bundesverfassungsgerichts am behördlichen „Lebensmittelpranger“
Das Bundesverfassungsgericht hat sich jüngst in einer Entscheidung (Beschluss vom 18. Juli 2024, Az. 1 BvR 1949/24) mit der staatlichen Praxis befasst, öffentlichkeitswirksam vor Lebensmitteln zu warnen, bei denen der Verdacht auf Verstöße gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften besteht. Ausgangspunkt war eine Verfassungsbeschwerde eines Lebensmittelunternehmens gegen die Veröffentlichung einer amtlichen Warnmeldung durch eine Landesbehörde. Die Entscheidung hat grundsätzliche Bedeutung für das Spannungsfeld zwischen Verbraucherschutz, Unternehmenspersönlichkeitsrecht und den Anforderungen an Informationsveröffentlichungen durch staatliche Stellen.
Hintergrund: Rechtsgrundlagen und behördliche Praxis
Die Veröffentlichung von Informationen über möglicherweise gesundheitsgefährdende Lebensmittel erfolgt in Deutschland insbesondere auf Grundlage von § 40 Abs. 1a Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB). Kommt es zu Verstößen, etwa aufgrund nicht angemessener Kennzeichnung oder potenzieller Gesundheitsgefahren, sind Behörden berechtigt, die Öffentlichkeit auf den Internetplattformen der Länder zu informieren. Diese praxisnahe Veröffentlichungspraxis hat in Medien und Öffentlichkeit vielfach zur Bezeichnung als „Lebensmittelpranger“ geführt – stellt sie doch für betroffene Unternehmen einen erheblichen imageschädigenden Eingriff dar.
Im vorliegenden Fall befand das Bundesverfassungsgericht, dass die Veröffentlichung durch die Behörde wesentliche verfassungsrechtliche Maßstäbe nicht ausreichend berücksichtigt hat. Die Annahme des Gerichts basiert auf der grundgesetzlich geschützten Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und dem allgemeinen Unternehmenspersönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG). Diese Grundrechte gebieten insbesondere bei Verdachtslagen eine sorgfältige Abwägung zwischen dem Schutz der Öffentlichkeit und den Interessen des betroffenen Unternehmens.
Anforderungen an behördliche Verdachtsberichterstattung
Verhältnismäßigkeit und Sorgfaltspflichten
Das Gericht betonte, staatliche Eingriffe durch Warnmeldungen und Produktveröffentlichungen müssten stets dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. Öffentlichkeitswirksame Maßnahmen dürfen keinesfalls auf bloßen Verdacht oder Vermutungen gestützt sein. Vielmehr ist die Behörde verpflichtet, die Richtigkeit und Tragweite ihrer Annahmen sorgfältig zu prüfen und Belege für die behaupteten Beanstandungen vorzulegen. Ohne ausreichende Sachaufklärung und Beweissicherung bestünde die Gefahr unzulässiger Vorverurteilung sowie schwerwiegender wirtschaftlicher und reputationsbezogener Auswirkungen für das betreffende Unternehmen.
Verfahrenstransparenz und Anhörungspflichten
Weiterhin stellte das Bundesverfassungsgericht klar, dass Unternehmen nicht lediglich „Objekt behördlicher Maßnahmen“ sein dürfen, sondern einen Anspruch auf Gehör und Beteiligung im Verwaltungsverfahren haben. Vor einer Veröffentlichung hat eine umfassende Interessenabwägung stattzufinden und dem betroffenen Unternehmen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die Veröffentlichung darf sich zudem nur auf nachgewiesene Verstöße stützen und muss den Zweck verfolgen, eine konkrete, nicht anders abwendbare Gefahr für Verbraucher abzuwenden.
Folgen der Veröffentlichung und Grundrechte der Unternehmen
Erteilte Warnungen und deren Veröffentlichung auf behördlichen Plattformen oder im Internet können für betroffene Unternehmen existenzbedrohende Folgen haben. Die zielgerichtete Information der Verbraucher, etwa durch Nennung von Produktnamen, Hersteller, Vertriebswegen und weiterer Produktdetails, bewirkt oftmals sofortige Umsatzeinbrüche und nachhaltigen Imageschaden. Das Gericht hob hervor, dass in solchen Konstellationen besondere Anforderungen an die Sorgfalt und Objektivität der Behörde zu stellen sind. Selbst bei ernsthaften Verdachtsmomenten sind die Grundrechte der Unternehmen umfassend zu würdigen und die Veröffentlichung auf das Maß der erforderlichen Information zu beschränken.
Abwägung zwischen Verbraucherschutz und Unternehmensinteressen
Schutzfunktion zugunsten der Verbraucher
Der Verbraucherschutz bildet einen gewichtigen Gemeinwohlbelang, der Behörden berechtigt, im Falle eines nachgewiesenen oder dringend zu befürchtenden Gesundheitsrisikos rechtzeitig und wirksam zu warnen – auch unter Nennung von Unternehmensnamen und betroffenen Produkten. Die Effektivität dieser Warnmeldungen steht und fällt jedoch mit der inhaltlichen Richtigkeit, der Angemessenheit der Darstellung und der Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben.
Anforderungen an die Darstellung und Korrektur von Meldungen
Behördliche Mitteilungen dürfen den betroffenen Unternehmen nicht ein Fehlverhalten unterstellen, das über den tatsächlichen Sachverhalt hinausgeht oder den Eindruck einer strafrechtlichen Relevanz erweckt, wenn lediglich der Verdacht eines Verstoßes besteht. Das Bundesverfassungsgericht betont insoweit die fortbestehende Unschuldsvermutung sowie das Recht auf Gegendarstellung bzw. Richtigstellung bei nachträglicher Ausräumung des Vorwurfs (Anm.: Stand der Entscheidung und Verfahren, Stand August 2024, Quelle: https://urteile.news/BVerfG_1-BvR-194924_Bundesverfassungsgericht-kritisiert-Lebensmittelpranger~N35314).
Folgen für behördliche Praxis und Unternehmen
Die Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts verdeutlicht, dass Behörden beim Umgang mit Verdachtsfällen erhöhte Prüfungspflichten einhalten und bei drohender schwerwiegender Grundrechtsbeeinträchtigung keineswegs zur Veröffentlichung nach dem Prinzip der Prävention greifen dürfen. Auch für Unternehmen erwächst daraus eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber behördlichen Informationsveröffentlichungen und der damit einhergehenden Reputationsrisiken.
Schlussgedanken
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts markiert einen bedeutsamen Meilenstein für die rechtliche Einhegung amtlicher Informationsveröffentlichungen im Bereich Lebensmittelrecht. Insbesondere Unternehmen, die sich einer öffentlichen Verdachtsberichterstattung („Prangerwirkung“) ausgesetzt sehen, können aus den Leitlinien des Gerichts wichtige Rückschlüsse für etwaige Vorgehensweisen in Verfahren gegen amtliche Warnmeldungen ziehen. Für alle Unternehmen, Medien und Plattformbetreiber eröffnet die Entscheidung grundlegende Fragestellungen im Bereich der behördlichen Kommunikation, Compliance- und IT-Prozesse.
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