Begriff und Grundlagen der Zweispurigkeit im Strafrecht
Die Zweispurigkeit im Strafrecht bezeichnet das Nebeneinander von strafrechtlichen Sanktionen und Maßregeln der Besserung und Sicherung im deutschen Rechtssystem. Sie ist ein zentrales Strukturprinzip des deutschen Sanktionssystems und bildet die Grundlage für die Unterscheidung und Anwendung verschiedener Rechtsfolgen bei strafbaren Handlungen.
Historische Entwicklung der Zweispurigkeit
Die Zweispurigkeit entwickelte sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts als Reaktion auf die Erkenntnis, dass die staatliche Reaktion auf Straftaten neben der schuldangemessenen Bestrafung auch präventive Maßnahmen zur Gefahrenabwehr erfordert. Während das traditionelle Strafrecht zunächst ausschließlich auf Strafen abzielte, entstand im Zuge der Entwicklung der modernen Kriminalpolitik die Notwendigkeit, zusätzlich Maßnahmen zur Sicherung gefährlicher Täter zu etablieren. Die Herausbildung der Zweispurigkeit manifestierte sich mit der Einführung der Maßregeln der Besserung und Sicherung im deutschen Strafgesetzbuch (StGB) im Jahr 1933.
Gesetzliche Verankerung der Zweispurigkeit
Strafen
Strafen sind Rechtsfolgen einer Straftat, die als Reaktion auf eine schuldhafte Verletzung des Strafgesetzes verhängt werden. Sie dienen in erster Linie dem Schuldausgleich („Vergeltung“) und der General- und Spezialprävention. Zu den im Strafgesetzbuch genannten Strafen zählen insbesondere:
- Freiheitsstrafe (§ 38 StGB)
- Geldstrafe (§ 40 StGB)
- Nebenstrafen (z.B. Fahrverbot, § 44 StGB)
Maßregeln der Besserung und Sicherung
Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61 ff. StGB) sind Rechtsfolgen, die unabhängig von der Schuld des Täters angeordnet werden können. Ihr Zweck liegt im Schutz der Allgemeinheit und der individuellen Resozialisierung bzw. Gefahrenabwehr. Zu den wichtigsten Maßregeln zählen:
- Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB)
- Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB)
- Die Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB)
- Das Berufsverbot (§ 70 StGB)
- Die Führungsaufsicht (§ 68 StGB)
Unterschiede und Abgrenzung
Strafen setzen stets ein schuldhaftes Verhalten voraus und werden auf den begangenen Rechtsverstoß bezogen. Maßregeln hingegen beziehen sich auf den Zustand oder die zukünftige Gefährlichkeit des Täters und können auch unabhängig von einer strafrechtlichen Schuld verhängt werden, soweit die gesetzlich normierten Voraussetzungen erfüllt sind.
Theoretische Grundlagen und Zweck der Zweispurigkeit
Die Zweispurigkeit trägt dem Umstand Rechnung, dass nicht in allen Fällen die klassische Strafe ausreicht, um auf eine Straftat angemessen zu reagieren. Neben dem Schuldausgleich muss in bestimmten Situationen die Gesellschaft vor gefährlichen Tätern geschützt werden, die beispielsweise aufgrund psychiatrischer Erkrankungen oder einer hohen Rückfallgefahr weiterhin erhebliche Straftaten begehen könnten. Deshalb sieht das System vor, dass neben oder anstelle der Strafe zusätzlich Maßregeln zur Gefahrenabwehr und Besserung angeordnet werden können.
Anwendung der Zweispurigkeit im Strafverfahren
Im Rahmen des Strafverfahrens prüft das Gericht, welche Sanktionen im Einzelfall angemessen sind. Dabei wird zunächst die Schuld des Täters festgestellt und eine Strafe nach allgemeinen Strafzumessungsgrundsätzen verhängt. Sodann prüft das Gericht, ob über die Strafe hinaus bestimmte Maßregeln notwendig sind, um die Allgemeinheit zu schützen oder eine Resozialisierung des Täters zu bewirken.
Die Anordnung von Maßregeln ist an besondere Voraussetzungen geknüpft, welche sich aus den jeweiligen Normen im Strafgesetzbuch ergeben. Maßregeln können neben einer Strafe („kombinierte Anordnung“) oder auch eigenständig („isolierte Maßregeln“, etwa bei Schuldunfähigkeit gemäß § 20 StGB) ausgesprochen werden.
Rechtliche Problematik und verfassungsrechtliche Einordnung
Die Zweispurigkeit wirft verschiedene rechtliche Fragestellungen auf, insbesondere im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Rückwirkungsverbot. Die parallele oder nachträgliche Anordnung von Maßregeln, etwa der Sicherungsverwahrung, wurde vielfach durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte überprüft.
Insbesondere die nachträgliche Sicherungsverwahrung, die auf den Schutz der Allgemeinheit zielt, verlangt besondere gesetzliche Voraussetzungen und rechtsstaatliche Sicherungen, um die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 GG), zu wahren.
Praktische Bedeutung der Zweispurigkeit
Die Unterscheidung zwischen Strafen und Maßregeln ist für die Praxis von erheblicher Bedeutung, da unterschiedliche Anordnungsvoraussetzungen sowie unterschiedliche Rechtsfolgen gelten. Regelmäßig relevant wird die Zweispurigkeit zum Beispiel in Fällen, in denen Täter aufgrund einer psychischen Krankheit schuldunfähig oder vermindert schuldfähig sind (§§ 20, 21 StGB) oder eine dauerhafte Gefährlichkeit festgestellt wird. Die Anordnung einer Sicherungsverwahrung, die Unterbringung in Einrichtungen oder die Anwendung weiterer Maßregeln wird vor allem bei schwersten Straftaten und erhöhtem Rückfallrisiko geprüft.
Kritik und Reformdiskussionen
Die Zweispurigkeit des deutschen Sanktionensystems ist Gegenstand rechtspolitischer Debatten. Kritisiert werden insbesondere die potenzielle Unübersichtlichkeit des Systems, die Risiken von Doppelbestrafung („ne bis in idem“) sowie Herausforderungen im Spannungsfeld zwischen Freiheit des Individuums und Schutz der Allgemeinheit. Die gesetzgeberische Entwicklung der vergangenen Jahre war deshalb von mehreren Reformen geprägt, die insbesondere die Anforderungen an die Anordnung und Fortdauer von Maßregeln verschärft und strenger konturiert haben.
Zusammenfassung und Ausblick
Die Zweispurigkeit im Strafrecht ist ein grundlegendes Prinzip des deutschen Sanktionsrechts. Sie gewährleistet einerseits eine schuldangemessene Reaktion auf Straftaten durch Strafen und andererseits den Schutz der Allgemeinheit und die Resozialisierung durch Maßregeln der Besserung und Sicherung. Die Unterscheidung und das Zusammenspiel beider Sanktionsarten sind in der Praxis von großer Bedeutung und unterliegen fortwährenden rechtspolitischen und verfassungsrechtlichen Prüfungen. Die Zweispurigkeit stellt somit einen dynamischen Kernbereich des Strafrechts dar, dessen Entwicklung und Anwendung von der Abwägung individueller Rechte und gesellschaftlicher Schutzinteressen geprägt ist.
Häufig gestellte Fragen
Welche Bedeutung hat die Zweispurigkeit im deutschen Strafrecht bei der Sanktionierung von Straftätern?
Die Zweispurigkeit im deutschen Strafrecht beschreibt das Nebeneinander von Strafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung. Im praktischen Vollzug bedeutet dies, dass gegen einen Straftäter nicht nur eine klassische Strafe wie Freiheits- oder Geldstrafe verhängt werden kann, sondern zusätzlich – oder sogar ausschließlich – eine Maßregel der Besserung und Sicherung (wie z. B. die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt), sofern die gesetzlichen Voraussetzungen nach §§ 63 ff. StGB vorliegen. Die Bedeutung besteht darin, dass das Strafrecht neben dem Schuldprinzip auch das Präventions- und Sicherungsbedürfnis der Gesellschaft anerkennt. Während die Strafe vornehmlich der Sühne und der Generalprävention dient, zielen die Maßregeln auf die Besserung des Täters oder dessen Sicherung vor weiteren rechtswidrigen Taten ab. Die Entscheidung, ob und wie beide Sanktionen kombiniert oder getrennt angewandt werden, ist sorgfältig im Urteil zu begründen und hat maßgeblichen Einfluss auf den weiteren Vollzug und die Perspektiven des Verurteilten.
Unter welchen Voraussetzungen können Strafe und Maßregel der Besserung und Sicherung nebeneinander angeordnet werden?
Die parallele Anordnung von Strafe und Maßregel der Besserung und Sicherung setzt voraus, dass sowohl die Voraussetzungen für eine strafrechtliche Verurteilung vorliegen als auch die gesetzlichen Voraussetzungen für die jeweilige Maßregel erfüllt sind. Nach § 61 StGB können Maßregeln der Besserung und Sicherung im Strafverfahren nur verhängt werden, wenn der Täter eine rechtswidrige Tat begangen hat und seine Gesamtpersönlichkeit eine besondere Gefährlichkeit für die Allgemeinheit erkennen lässt oder von ihm erhebliche weitere Straftaten zu erwarten sind. Eine Kombination ist etwa möglich, wenn ein psychisch kranker Täter aufgrund verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) zwar schuldfähig bleibt, jedoch als gefährlich eingestuft wird: In diesem Fall kann neben einer Freiheitsstrafe auch die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet werden. Die Anordnung muss explizit im Urteil erfolgen und jeweils eigenständig mit Tatsachengrundlagen und rechtlicher Würdigung belegt sein.
Wie wird im Strafverfahren entschieden, ob eine Maßregel der Besserung und Sicherung notwendig ist?
Ob eine Maßregel der Besserung und Sicherung notwendig ist, stellt das Gericht im Strafverfahren gesondert fest. Dies geschieht auf Grundlage von Sachverständigengutachten (insbesondere forensisch-psychiatrischen Gutachten), die Aufschluss geben über den psychischen Zustand, die Gefährlichkeit und gegebenenfalls die Therapierbarkeit des Täters. Die rechtliche Prüfung erfolgt anhand der jeweils einschlägigen Vorschrift (z. B. §§ 63, 64, 66 StGB). Für Maßnahmen wie die Unterbringung nach § 63 StGB muss das Gericht feststellen, dass beim Täter eine schwere seelische Störung vorliegt und aufgrund dieser von ihm erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind. Die Entscheidung zur Anordnung einer Maßregel ist mit hohen Anforderungen an die richterliche Begründungspflicht verbunden, da der Grundrechtseingriff (insbesondere die Freiheitsentziehung) erheblich ist.
Welche Rechtsfolgen ergeben sich aus der Zweispurigkeit im Hinblick auf den Vollzug?
Die Zweispurigkeit hat erhebliche Auswirkungen auf den Vollzug: Wird neben einer Freiheitsstrafe eine Maßregel angeordnet, muss die Maßregel gemäß § 67 StGB grundsätzlich zuerst vollzogen werden. Erst nach ihrer Erledigung oder Aufhebung erfolgt der Strafvollzug. Während des Maßregelvollzugs kann das Gericht unter bestimmten Voraussetzungen von der weiteren Vollstreckung der Strafe absehen (§ 67 Abs. 5 StGB), insbesondere wenn der Zweck der Strafe als erreicht angesehen wird. Im Falle einer Unterbringung in der Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) wird nach erfolgreichem Abschluss der Maßnahme geprüft, ob und in welchem Umfang die Strafvollstreckung noch notwendig ist. Damit differenziert sich der Vollzug erheblich von rein strafrechtlichen Sanktionen und wird stärker am Therapie- und Sicherungsbedarf des Täters ausgerichtet.
Was passiert, wenn während des Strafvollzugs eine Maßregel der Besserung und Sicherung notwendig wird?
Sollte sich während des Strafvollzugs herausstellen, dass der Verurteilte nunmehr die Voraussetzungen einer Maßregel der Besserung und Sicherung erfüllt, kann das zuständige Gericht nachträglich eine solche Maßregel nachträglich anordnen (§ 66b, § 463 StPO). Dies geschieht beispielsweise, wenn sich während des Strafvollzugs eine erhebliche Gefährlichkeit des Täters offenbart, die zuvor nicht erkannt wurde. Hierzu sind erneut umfassende Sachverständigengutachten notwendig, und die Entscheidung erfolgt in einem eigenständigen Sicherungsverfahren. Die nachträgliche Anordnung ist jedoch an strenge Voraussetzungen und Prüfkriterien gebunden, um einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Grundrechte zu verhindern.
Wie wirkt sich die Zweispurigkeit im Strafrecht auf das Wiederaufnahmeverfahren aus?
Auch im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens können sowohl die Strafe als auch angeordnete Maßregeln der Besserung und Sicherung überprüft und möglicherweise aufgehoben oder abgeändert werden. Dies folgt dem Grundsatz der Einheitlichkeit der Sanktionierung: Werden nachträglich entlastende oder belastende Tatsachen bekannt, können sowohl die Strafzumessung als auch die (Un-)Wirksamkeit beziehungsweise Erforderlichkeit der Maßregeln neu bewertet werden. Ein praktisches Beispiel ist, wenn am Maßregelvollzug Beteiligte neue Tatsachen über die psychische Entwicklung des Täters vorbringen, welche die ursprüngliche Gefährlichkeitsprognose entkräften. So kann eine nachträgliche Aufhebung oder Abänderung der Maßregel erfolgen. Das Wiederaufnahmeverfahren eröffnet somit die Möglichkeit, sowohl Straf- als auch Maßregelvollzug an die neuen Gegebenheiten anzupassen.