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Zurechnungsfähigkeit


Begriff und Bedeutung der Zurechnungsfähigkeit

Die Zurechnungsfähigkeit bezeichnet im deutschen Recht die Fähigkeit einer natürlichen Person, für das eigene Handeln oder Unterlassen persönlich einzustehen und die daraus resultierenden Folgen rechtlich zu verantworten. Sie ist ein zentraler Begriff der Rechtsordnung und betrifft sowohl das Strafrecht als auch das Zivilrecht. Zurechnungsfähigkeit dient als Voraussetzung für die Zuschreibung von rechtlicher Verantwortung und Haftung.

Zurechnungsfähigkeit im Strafrecht

Allgemeine Bedeutung

Im Strafrecht ist die Zurechnungsfähigkeit eine notwendige Voraussetzung für die strafrechtliche Verantwortlichkeit einer Person. Sie ist vor allem im Zusammenhang mit der Schuldfähigkeit nach §§ 19 ff. Strafgesetzbuch (StGB) relevant. Nur wer zum Tatzeitpunkt einwilligungs- und steuerungsfähig im Sinne der gesetzlichen Vorschriften ist, kann für sein Verhalten strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.

Schuldfähigkeit und ihre Prüfung

Die Regeln zur Zurechnungsfähigkeit im Strafrecht finden sich insbesondere in folgenden Vorschriften:

  • § 19 StGB: Schuldunfähigkeit des Kindes

Kinder unter 14 Jahren sind per Gesetz schuldunfähig. Sie tragen keine strafrechtliche Verantwortung.

  • § 20 StGB: Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen

Personen, die wegen krankhafter seelischer Störungen, tiefgreifender Bewusstseinsstörungen, Schwachsinn oder schweren anderen seelischen Abartigkeiten unfähig sind, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, sind schuldunfähig.

  • § 21 StGB: Verminderte Schuldfähigkeit

Ist die Fähigkeit zur Einsicht oder Steuerung zwar erheblich vermindert, aber nicht aufgehoben, kann dies strafmildernd berücksichtigt werden.

Abgrenzung: Schuldunfähigkeit und verminderte Schuldfähigkeit

Die Unterscheidung ist entscheidend für die strafrechtlichen Folgen. Bei vollständiger Schuldunfähigkeit entfällt die Strafbarkeit, bei verminderter Schuldfähigkeit kommt eine Strafmilderung in Betracht (§ 49 Abs. 1 StGB).

Feststellung der Zurechnungsfähigkeit im Strafverfahren

Die Zurechnungsfähigkeit einer beschuldigten Person wird häufig durch Sachverständigengutachten geprüft. Maßgeblich ist immer der Zustand zur Tatzeit. Faktoren wie akute psychische Erkrankungen, Intelligenzminderung, Alkohol- oder Drogenrausch sowie Bewusstseinsstörungen spielen eine wesentliche Rolle bei der Beurteilung.

Sonderfall: Schuldunfähigkeit durch Alkohol und Drogen

Wird eine Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit durch Alkohol oder andere berauschende Mittel begangen (§ 20 StGB), kann unter Umständen dennoch eine Strafbarkeit wegen einer Rauschtat nach § 323a StGB vorliegen.

Zurechnungsfähigkeit im Zivilrecht

Deliktsfähigkeit (§§ 827 ff. BGB)

Im Zivilrecht ist die Zurechnungsfähigkeit als Deliktsfähigkeit geregelt. Sie bezeichnet die Fähigkeit, für unerlaubte Handlungen nach § 823 BGB zivilrechtlich verantwortlich gemacht zu werden.

  • § 828 Abs. 1 BGB: Kinder unter 7 Jahren sind nicht deliktsfähig und haften nicht für Schäden.
  • § 828 Abs. 2 BGB: Minderjährige zwischen 7 und 18 Jahren sind nur bedingt deliktsfähig; es wird auf die Fähigkeit zur Einsicht in das Unrecht der Tat abgestellt.
  • § 827 BGB: Wer sich im Zustand der Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, ist nicht deliktsfähig.

Haftungsausschluss und Ausnahmeregelungen

In bestimmten Fällen schließt das Gesetz die Zurechnungsfähigkeit auch bei volljährigen Personen aus – beispielsweise aufgrund von gravierenden psychischen Erkrankungen. Der Nachweis dieser fehlenden Zurechnungsfähigkeit obliegt dem Schädiger.

Zurechnungsfähigkeit in anderen Rechtsgebieten

Verwaltungsrecht

Im Verwaltungsrecht spielt die Zurechnungsfähigkeit insbesondere bei Ordnungswidrigkeiten eine Rolle. Die Verantwortlichkeit setzt die Fähigkeit voraus, das rechtswidrige Verhalten zu erkennen und entsprechend zu steuern.

Familienrecht und Betreuungsrecht

Im Rahmen des Familien- und Betreuungsrechts ist die Zurechnungsfähigkeit bedeutsam bei Fragen der gesetzlichen Vertretung, z. B. durch einen Vormund oder Betreuer für Personen, die nicht selbst für ihre Angelegenheiten sorgen können. Eine fehlende Zurechnungsfähigkeit kann zur Bestellung eines gesetzlichen Vertreters führen.

Begriffliche Abgrenzungen

Schuldfähigkeit und Geschäftsfähigkeit

Obwohl verwandte Begriffe, ist die Zurechnungsfähigkeit von der Geschäftsfähigkeit (im Sinne der §§ 104 ff. BGB) und der Strafmündigkeit zu unterscheiden. Während sich die Geschäftsfähigkeit auf die Fähigkeit bezieht, wirksame Rechtsgeschäfte vorzunehmen, bezieht sich die Zurechnungsfähigkeit speziell auf die Frage der rechtlichen Verantwortung für Handlungen oder Unterlassungen.

Bedeutung in der Praxis

Die Feststellung der Zurechnungsfähigkeit ist von maßgeblicher Bedeutung für die Rechtsanwendung in verschiedensten Bereichen. Sie beeinflusst nicht nur die strafrechtliche Verfolgung und die zivilrechtliche Haftung, sondern auch die Rechtsstellung einer Person im Gesundheitsrecht, Familienrecht und Sozialrecht.

Literatur und weiterführende Links


Die Zurechnungsfähigkeit ist ein zentrales Konzept zur Sicherstellung fairer Rechte und Pflichten im Umgang mit Handlungen natürlicher Personen und hat weitreichende Auswirkungen in den unterschiedlichsten Rechtsgebieten. Sie stellt sicher, dass nur diejenigen für ihr Verhalten zur Verantwortung gezogen werden, die dies aufgrund ihrer geistigen Fähigkeiten auch verstehen und steuern konnten.

Häufig gestellte Fragen

Wann wird die Zurechnungsfähigkeit eines Täters rechtlich überprüft?

Die Zurechnungsfähigkeit eines Täters wird dann überprüft, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Beschuldigte zur Tatzeit nicht in der Lage war, das Unrecht seiner Handlung einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Im Strafverfahren kann dies durch Verhaltensauffälligkeiten, ärztliche Atteste, Zeugenaussagen oder frühere psychiatrische Diagnosen angestoßen werden. Die Prüfung wird oft von Polizei, Staatsanwaltschaft oder Gericht angeregt und im Zweifelsfall durch die Einholung eines fachpsychiatrischen Gutachtens untermauert. Dabei ist zu klären, ob konkrete medizinisch-psychologische Störungen – wie etwa eine schwere Psychose, Intelligenzminderung oder eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung – vorlagen. Der Maßstab ist stets der konkrete Zeitpunkt der Tat. Die Entscheidung, ob eingeschränkte oder aufgehobene Zurechnungsfähigkeit bestand, fällt abschließend das Gericht mit eigenem Ermessen auf Grundlage aller Beweise.

Welche Rechtsfolgen ergeben sich bei einer aufgehobenen Zurechnungsfähigkeit?

Liegt rechtlich festgestellt eine aufgehobene Zurechnungsfähigkeit (§ 20 StGB) vor, ist der Täter für die begangene Straftat nicht verantwortlich und somit straflos. Das bedeutet, der Täter kann keine strafrechtlichen Sanktionen, wie Freiheits- oder Geldstrafe, erhalten. Das Verfahren kann jedoch mit Blick auf Maßnahmen des Maßregelvollzugs (etwa die Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung gemäß § 63 StGB) fortlaufen, sofern vom Täter erhebliche Gefahren für die Allgemeinheit ausgehen. Es ist zu berücksichtigen, dass trotz fehlender strafrechtlicher Verantwortung weiterhin verwaltungsrechtliche oder zivilrechtliche Maßnahmen, beispielsweise zur Gefahrenabwehr oder Schadenshaftung, relevant bleiben können.

Wie unterscheidet sich eingeschränkte von aufgehobener Zurechnungsfähigkeit?

Die rechtliche Unterscheidung zwischen eingeschränkter und aufgehobener Zurechnungsfähigkeit ist essenziell: Eine aufgehobene Zurechnungsfähigkeit (§ 20 StGB) liegt vor, wenn die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit gänzlich ausgeschlossen war – in diesem Fall entfällt die Strafbarkeit. Bei einer lediglich erheblich geminderten Zurechnungsfähigkeit (§ 21 StGB) war zumindest Teilbereiche der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit noch vorhanden, aber erheblich beeinträchtigt. Dies führt nicht zur Straflosigkeit, sondern ermöglicht eine fakultative Strafmilderung: Das Gericht kann die Strafe – unter Berücksichtigung der eingeschränkten Schuldfähigkeit – mindern, muss dies aber nicht zwingend tun.

Wer ist für die Feststellung der Zurechnungsfähigkeit zuständig?

Für die rechtliche Feststellung der Zurechnungsfähigkeit ist grundsätzlich das entscheidende Gericht zuständig. Im Rahmen des Strafverfahrens kann das Gericht einen psychiatrischen Sachverständigen beauftragen, ein Gutachten zur geistigen, seelischen und willensmäßigen Verfassung des Beschuldigten zur Tatzeit zu erstellen. Die Gutachten dienen als wichtige Entscheidungsgrundlage; dennoch bleibt die Bewertung und finale Feststellung einer aufgehobenen oder eingeschränkten Zurechnungsfähigkeit eine originär juristische Aufgabe des Gerichts, das an die Ausführungen des Gutachtens nicht gebunden ist.

In welchen Verfahrensphasen kann eine Überprüfung der Zurechnungsfähigkeit stattfinden?

Die Überprüfung der Zurechnungsfähigkeit kann bereits im Ermittlungsverfahren, spätestens jedoch im Hauptverfahren erfolgen. Bereits während der polizeilichen Ermittlungen oder im Zwischenverfahren, wenn Hinweise auf psychische Erkrankungen oder Auffälligkeiten des Tatverdächtigen vorliegen, besteht die Möglichkeit, psychologischen Sachverstand hinzuzuziehen. Auch während der Hauptverhandlung kann das Gericht ein Gutachten anfordern oder neue Beweiserhebungen veranlassen, sollten sich im Verlauf des Prozesses entsprechende Zweifel ergeben. Die Überprüfung kann sich auch auf eine nachträgliche richterliche Überprüfung beziehen, etwa im Rahmen von Wiederaufnahmeverfahren.

Welche Rolle spielt die Zurechnungsfähigkeit im Jugendstrafrecht?

Im Jugendstrafrecht (§ 3 JGG) kommt der Zurechnungsfähigkeit ebenfalls eine zentrale Bedeutung zu. Für Jugendliche unter vierzehn Jahren wird unwiderlegbar vermutet, dass sie nicht schuldfähig sind („absolute Schuldunfähigkeit“). Bei Jugendlichen zwischen vierzehn und achtzehn Jahren erfolgt eine individuelle Prüfung der Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Hier wird die sogenannte „relative Schuldunfähigkeit“ geprüft. Die Bewertung orientiert sich am Entwicklungsstand und erfolgt – wie im Erwachsenenstrafrecht – nach fachärztlicher Begutachtung und richterlicher Würdigung.

Was sind typische Beispiele für Beeinträchtigungen der Zurechnungsfähigkeit im rechtlichen Sinne?

Rechtstypische Beeinträchtigungen der Zurechnungsfähigkeit sind unter anderem akute Psychosen, wahnhafte Störungen, schwere Intelligenzminderungen, krankhafte seelische Störungen, epileptische Anfälle oder tiefgreifende Bewusstseinsstörungen (z.B. durch Rauschzustände, sofern der Täter den Rausch nicht selbst verschuldet hat). Auch ausgeprägte Persönlichkeitsstörungen kommen in Betracht, sofern sie das Einsichts- oder Steuerungsvermögen wesentlich beeinträchtigen. Suchtmittelkonsum stellt grundsätzlich keinen Entschuldigungsgrund dar, es sei denn, es handelt sich um einen von dem Täter nicht zu verantwortenden Defekt.

Können auch zivilrechtliche oder verwaltungsrechtliche Konsequenzen auf fehlende Zurechnungsfähigkeit folgen?

Neben strafrechtlichen Konsequenzen kann eine fehlende oder eingeschränkte Zurechnungsfähigkeit auch zivilrechtliche Auswirkungen haben, etwa auf die Deliktsfähigkeit nach §§ 827 ff. BGB. Eine schuldunfähige Person kann für einen verursachten Schaden grundsätzlich nicht haftbar gemacht werden, sofern nicht ausnahmsweise ein Sondertatbestand (z.B. Geschäftsunfähigkeit) greift. Im Verwaltungsrecht kann die fehlende Zurechnungsfähigkeit zu behördlichen Maßnahmen wie Betreuerbestellung, Unterbringung oder Entmündigung führen. All diese Maßnahmen setzen jedoch individuelle rechtliche und tatsächliche Prüfungen voraus.