Legal Lexikon

Widerrechtlichkeit


Definition und Grundlagen der Widerrechtlichkeit

Die Widerrechtlichkeit ist ein zentrales Element des deutschen und internationalen Rechts und beschreibt das objektive Merkmal eines Verhaltens, das gegen die Rechtsordnung verstößt. Sie spielt insbesondere im Zivilrecht, Strafrecht und öffentlichen Recht eine maßgebliche Rolle und ist neben Tatbestand, Schaden, Kausalität und Verschulden eine eigenständige Prüfungsebene im Rahmen vieler Anspruchsgrundlagen und Rechtsfolgen.

Begriffliche Einordnung

Der Begriff der Widerrechtlichkeit bezeichnet das Fehlen eines Rechtfertigungsgrundes für eine faktische oder rechtliche Beeinträchtigung geschützter Rechtsgüter. Ein Verhalten ist widerrechtlich, wenn es gegen bestimmte Gebote oder Verbote der Rechtsordnung verstößt und keine anerkannten Rechtfertigungsgründe vorliegen, die das Verhalten gestatten.

Widerrechtlichkeit im Zivilrecht

Bürgerliches Recht (§ 823 BGB)

Im deutschen Zivilrecht ist die Widerrechtlichkeit insbesondere beim Deliktsrecht (§ 823 BGB) von zentraler Bedeutung. § 823 Abs. 1 BGB setzt für einen Schadenersatzanspruch die Verletzung eines absolut geschützten Rechts voraus, die „widerrechtlich“ erfolgt ist.

  • Tatbestandsmäßigkeit und Widerrechtlichkeit: Die Verletzung eines Rechtsguts (z. B. Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum) ist grundsätzlich widerrechtlich, sofern kein Rechtfertigungsgrund (z. B. Notwehr, Einwilligung, Notstand) vorliegt.
  • Rechtfertigungsgründe: Dazu zählen unter anderem Einwilligung, Notwehr (§ 227 BGB), Notstand (§§ 228, 904 BGB), Selbsthilfe (§ 229 BGB) und Graubereiche wie mutmaßliche Einwilligung oder Ausübung berechtigter Interessen.

Eigentumsrecht und Besitzschutz

Im Sachenrecht ist die Widerrechtlichkeit zentral für die Geltendmachung von Ansprüchen wegen Besitzstörung (§ 862 BGB) oder Herausgabeansprüchen (§ 985 BGB). Hier gilt Besitzentziehung oder -störung als widerrechtlich, wenn sie ohne Zustimmung des Besitzers und ohne rechtfertigenden Grund vorgenommen wird.

Widerrechtlichkeit im Strafrecht

Systematische Einordnung

Im Strafrecht ist Widerrechtlichkeit ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der meisten Straftatbestände. Ein Verhalten, das einen Straftatbestand erfüllt, ist nur dann tatbestandsmäßig, wenn es auch als widerrechtlich bewertet wird.

  • Tatbestand und Rechtswidrigkeit: Die Erfüllung des objektiven Straftatbestandes indiziert regelmäßig die Widerrechtlichkeit, die jedoch entfällt, wenn ein Rechtfertigungsgrund greift (z. B. Notwehr nach § 32 StGB, Einwilligung des Verletzten).
  • Bedeutung: Ohne Widerrechtlichkeit entfällt die Strafbarkeit. Ein Beispiel sind Eingriffe des Arztes in die körperliche Unversehrtheit mit Einwilligung des Patienten.

Abgrenzung zu Schuld

Widerrechtlichkeit ist streng von der persönlichen Schuld zu trennen. Während die Widerrechtlichkeit objektiv feststellt, ob eine Handlung gegen die Rechtsordnung verstößt, beschäftigt sich das Merkmal Schuld mit der individuellen Vorwerfbarkeit des Verhaltens.

Widerrechtlichkeit im öffentlichen Recht

Verwaltungsrechtlicher Kontext

Auch im öffentlichen Recht spielt Widerrechtlichkeit eine essenzielle Rolle, etwa bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit von Maßnahmen und Verwaltungsakten. Ein Verwaltungshandeln ist widerrechtlich, wenn es gegen höherrangiges Recht (z. B. Grundrechte, einfache Gesetze) verstößt und kein rechtlicher Rechtfertigungsgrund eingreift.

Spezielle Beispiele

  • Polizeirecht: Maßnahmen der Polizei, die nicht auf gesetzlicher Grundlage beruhen oder den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit missachten, sind widerrechtlich.
  • Baurecht: Die Errichtung oder Nutzung baulicher Anlagen ohne die erforderliche Genehmigung kann als widerrechtlich im Sinne der einschlägigen Bauordnungen eingestuft werden.

Rechtfertigungsgründe: Ausschluss der Widerrechtlichkeit

Widerrechtlichkeit entfällt, wenn einer der gesetzlich anerkannten Rechtfertigungsgründe vorliegt. Hierzu zählen:

Notwehr und Notstand

  • Notwehr (§ 32 StGB, § 227 BGB): Rechtmäßige Verteidigung gegen einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff.
  • Notstand (§ 34 StGB, §§ 228, 904 BGB): Abwehr einer Gefahr für Rechtsgüter durch Eingriff in ein anderes Rechtsgut, soweit dies zur Gefahrenabwehr erforderlich ist.

Einwilligung und mutmaßliche Einwilligung

  • Die Einwilligung des Rechtsgutinhabers lässt die Rechtswidrigkeit des tatbestandsmäßigen Verhaltens entfallen. Sie erfordert Geschäftsfähigkeit sowie Freiwilligkeit, Informiertheit und Ernstlichkeit der Zustimmung.
  • Mutmaßliche Einwilligung wird angenommen, wenn der Betroffene nach den Umständen der Handlung zugestimmt hätte.

Amtspflichten und Handlungen im öffentlichen Interesse

Staatliches Handeln, das auf gesicherter Rechtsgrundlage beruht, ist nicht widerrechtlich, selbst wenn es in Grundrechte oder andere geschützte Interessen eingreift.

Bedeutung der Widerrechtlichkeit für die Anspruchsdurchsetzung

Widerrechtlichkeit ist ein eigenständiges Prüfungselement, das für die Entstehung und Durchsetzung vieler Ansprüche im Zivilrecht (insbesondere Deliktsrecht), im Strafrecht und im öffentlichen Recht entscheidend ist. Fehlt es an der Widerrechtlichkeit, scheiden viele Ansprüche und Strafbarkeiten aus.

Abgrenzung zu anderen Rechtsbegriffen

Die Widerrechtlichkeit ist von ähnlichen Begriffen wie „Unrecht“, „Verbotenheit“ und „Gesetzwidrigkeit“ abzugrenzen. Während Gesetzwidrigkeit eine konkrete Normverletzung meint, adressiert Widerrechtlichkeit das Fehlen einer Rechtfertigung für tatbestandsmäßiges Verhalten.

Reformen und Entwicklung der Widerrechtlichkeitslehre

Die allgemeine Lehre von der Widerrechtlichkeit unterliegt fortlaufender Entwicklung, insbesondere durch Rechtsprechung und Literatur. Moderne Ansätze betonen die Funktion der Rechtfertigungsgründe als essentielle Korrektive und fordern eine einzelfallbezogene Bewertung.

Zusammenfassung

Die Widerrechtlichkeit ist ein übergeordnetes Rechtsprinzip, das das unrechtmäßige Verhalten in verschiedenen Rechtsgebieten kennzeichnet. Sie entscheidet darüber, ob ein Verhalten trotz Tatbestandsverwirklichung und Schadenersatz oder Strafbarkeit tatsächlich eine Sanktion nach sich zieht, oder ob ein Rechtfertigungsgrund und damit der Ausschluss von Unrecht vorliegt. Aufgrund ihrer Vielschichtigkeit stellt sie ein zentrales Bewertungskriterium für den rechtlichen Erfolg oder Misserfolg von Ansprüchen in allen Bereichen des Rechts dar.

Häufig gestellte Fragen

Welche Rolle spielt die Widerrechtlichkeit als Tatbestandsmerkmal im Zivilrecht?

Im Zivilrecht ist die Widerrechtlichkeit ein zentrales Tatbestandsmerkmal beispielsweise bei der deliktischen Haftung (§ 823 Abs. 1 BGB). Sie bestimmt, ob eine Handlung oder ein Unterlassen, das zu einem Schaden geführt hat, auch tatsächlich einen rechtswidrigen Eingriff in ein absolut geschütztes Rechtsgut (etwa Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum) darstellt. Die Widerrechtlichkeit wird im Regelfall vermutet, sobald ein solcher Eingriff feststeht. Sie entfällt nur dann, wenn ein Rechtfertigungsgrund vorliegt, etwa Notwehr (§ 227 BGB), Einwilligung des Rechtsgutinhabers oder die Ausübung berechtigter Interessen (z. B. Selbsthilfe gemäß § 229 BGB). Die Prüfung erfolgt stets im Rahmen einer Gesamtabwägung und kann durch Gesetz, Einwilligung oder sittliche Billigung aufgehoben werden. Maßgeblich ist, ob die Handlung in der konkreten Situation durch höherrangige Interessen gerechtfertigt werden kann.

Wie wird die Widerrechtlichkeit im Strafrecht festgestellt?

Im Strafrecht ist die Feststellung der Widerrechtlichkeit eng mit der Frage der Rechtswidrigkeit einer Tat verknüpft. Jede Tatbestandsverwirklichung (beispielsweise Diebstahl oder Körperverletzung) wird grundsätzlich als widerrechtlich angesehen, wenn keine Rechtfertigungsgründe vorliegen. Die Widerrechtlichkeit ist kein eigenständiges, ausdrückliches Tatbestandsmerkmal, sondern wird regelmäßig im Rahmen der Rechtswidrigkeit geprüft. Sie entfällt insbesondere durch Tatbestandsausschließungsgründe oder Rechtfertigungsgründe wie Notwehr (§ 32 StGB), Notstand (§ 34 StGB) oder Einwilligung (§ 228 StGB). Im Ergebnis führt das Fehlen der Widerrechtlichkeit dazu, dass trotz objektiven und subjektiven Tatbestands keine Strafbarkeit vorliegt.

Welche Bedeutung hat die Widerrechtlichkeit für Schadensersatzansprüche?

Für den Anspruch auf Schadensersatz, vor allem im Bereich der unerlaubten Handlungen (§§ 823 ff. BGB), ist die Widerrechtlichkeit eine der Kernvoraussetzungen. Sie bedeutet, dass der Schaden nicht durch eine rechtlich erlaubte Handlung entstanden sein darf. Nur, wenn der Eingriff in das betroffene Rechtsgut (beispielsweise Eigentum oder Gesundheit) widerrechtlich, also ohne einen rechtlichen Erlaubnistatbestand erfolgt ist, kann der Geschädigte Schadensersatz verlangen. Liegt ein Rechtfertigungsgrund vor, entfällt die Haftung und damit auch der Anspruch auf Ersatz des Schadens. Die Rechtsprechung differenziert dabei nach Anspruchsgrundlage und Art des beeinträchtigten Rechtsguts, wobei die Widerrechtlichkeit bei Eingriff in absolut geschützte Rechtsgüter regelmäßig indiziert wird.

Welche typischen Rechtfertigungsgründe schließen die Widerrechtlichkeit aus?

Zu den häufigsten Rechtfertigungsgründen, die die Widerrechtlichkeit einer tauglichen Handlung oder Unterlassung ausschließen, zählen im Zivil- und Strafrecht insbesondere die Einwilligung des Betroffenen, gesetzliche Befugnisse (wie Selbsthilfe und Notwehr), sowie die Wahrnehmung berechtigter Interessen. Auch staatliche Maßnahmen im Rahmen von Amtshandlungen können gerechtfertigt sein, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen. Die einzelnen Rechtfertigungsgründe müssen jeweils im Einzelfall konkret geprüft werden und setzen zumeist voraus, dass sie sich auf die konkrete Handlung und deren Umstände beziehen.

Ist ein Angriff auf ein Rechtsgut immer automatisch widerrechtlich?

Nein, ein Angriff auf ein Rechtsgut ist nicht immer automatisch widerrechtlich. Die Widerrechtlichkeit wird zwar bei Verletzungen absolut geschützter Rechtsgüter grundsätzlich vermutet, sie entfällt jedoch, wenn ein Rechtfertigungsgrund vorliegt. Beispielsweise ist das Zufügen von Schmerzen durch einen Arzt bei einer erforderlichen Operation mit Einwilligung des Patienten nicht widerrechtlich, ebenso wenig wie das Festhalten eines Diebes im Rahmen der Selbsthilfe nach § 229 BGB. Wichtig ist stets die sorgfältige Prüfung, ob im jeweiligen Einzelfall eine rechtlich relevante Rechtfertigung greift.

Wie wird die Widerrechtlichkeit im öffentlichen Recht bewertet?

Im öffentlichen Recht, insbesondere im Verwaltungsrecht, spielt die Widerrechtlichkeit vor allem im Kontext von Eingriffs- und Schutzgesetzen eine Rolle. Ein hoheitlicher Eingriff in subjektive Rechte ist widerrechtlich, wenn er ohne gesetzliche Grundlage erfolgt oder die gesetzlichen Voraussetzungen nicht eingehalten werden. Die Maßgaben der Verhältnismäßigkeit und des gesetzlichen Vorbehalts sind hierbei zentral. Ob ein Widerstandsrecht gegen Behördenmaßnamen gegeben ist, hängt entscheidend von der Frage ab, ob und inwieweit diese Maßnahmen widerrechtlich, d. h. ohne ausreichende rechtliche Ermächtigung, durchgeführt werden.

Welche Konsequenzen hat die Feststellung der Widerrechtlichkeit für die Beteiligten?

Die Feststellung der Widerrechtlichkeit hat erhebliche Rechtsfolgen, insbesondere für den Schadenersatz im Zivilrecht und die Strafbarkeit im Strafrecht. Sie zieht im Zivilrecht regelmäßig eine Verpflichtung zum Schadensersatz (§ 823 Abs. 1 BGB) nach sich; im Strafrecht ist erst durch die Feststellung der Widerrechtlichkeit die Strafbarkeit der Tat gegeben, sofern auch schuldhaftes Verhalten vorliegt. Im öffentlichen Recht resultieren aus der Widerrechtlichkeit meist Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche sowie gegebenenfalls staatliche Ersatzleistungen nach den Grundsätzen der Amtshaftung. Die jeweilige Rechtsfolge hängt stets vom jeweiligen Rechtsgebiet und dem konkreten Sachverhalt ab.